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Militär: Von der ultima ratio zur prima ratio

Ein kritischer Kommentar der Regierungserklärung des Außenministers Fischer im Deutschen Bundestag

Am 14. November 2002 gab Bundesaußenminister Joschka Fischer eine Regierungserklärung zum bevorstehenden NATO-Gipfel in Prag ab. Seine Rede im Bundestag ist dokumentiert unter: "Terrorismus muß militärisch entschlossen bekämpft werden". Dazu veröffentlichen wir im Folgenden einen ersten kritischen Kommentar.

Im Wahlprogramm der Grünen war die Rede davon, dass der Einsatz von Militär in Konflikten nur als "ultima ratio" vorzusehen sei, wenn alle anderen zivilen Mittel (politische, diplomatische, rechtliche usw.) ausgeschöpft seien. In der Regierungserklärung des grünen Außenministers Joschka Fischer am 14. November wird dieser Gedanke, der sich auch in der Koalitionsvereinbarung wiederfindet, geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Fischer sagt: "Terrorismus muss militärisch entschlossen bekämpft werden. Aber gleichzeitig dürfen wir uns darauf nicht beschränken, sonst droht ein Scheitern. Wir müssen politische und soziale Konflikte lösen, die den Nährboden für die Entstehung der Gewalt und des Terrorismus darstellen. Krisenprävention ist genauso wichtig wie die Krisenreaktion." Also: Militär bzw. Krieg als erste Wahl bzw. mindestens als gleichberechtigte Option deutscher Außenpolitik.

Der Außenminister beschwört in seiner Rede den "Multilateralismus", schränkt aber dessen Inhalt deutlich ein. Als UN-Generalsekretär Kofi Annan zur Eröffnung der diesjährigen Generalversammlung der Vereinten Nationen am 12. September für Multilateralismus plädierte, meinte er das Weltsystem gleichberechtigter Staaten, deren Souveränität und territoriale Integrität zum Kernbestand der UN-Charta gehören. Multilateralismus, so musste Kofi Annan verstanden werden - zumal er direkt vor dem US-Präsidenten Bush sprach - ist ein in seinem Bestand gefährdetes Prinzip der Weltordnung des 21. Jahrhunderts. Fischer bezieht dieses Prinzip aber nicht auf die Weltordnung insgesamt und kann sich schon gar nicht dazu durchringen, es als Alternative zu dem von den USA derzeit praktizierten "Unilateralismus" anzusehen. Bei ihm wird Multilateralismus zum Synonym für die Staatengemeinschaft der NATO. In deren "multilateralem Rahmen" müsse den "Gefährdungen" unserer Zeit entgegengetreten werden, wobei er in gewohnter Weise für einen "umfassenden Sicherheitsbegriff" plädiert. Die NATO sei eben kein "reines Verteidigungsbündnis" mehr (wie Recht er hierin doch hat!), sondern "eine über den Atlantik reichende Wertegemeinschaft, die entscheidend zur Sicherheit und Stabilität in der Welt und zur Stärkung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit ihrer Mitglieder beiträgt."

Lassen wir einmal dahin gestellt, welche Qualität und vor allem Kohärenz eine "Wertegemeinschaft" hat, die so unterschiedliche Staaten, Regime und Gesellschaften wie Frankreich und die Türkei oder wie Norwegen und Rumänien (ein zur Aufnahme anstehendes Land) umfasst. Und lassen wir dahingestellt, ob für die NATO-Kandidaten eine dreijährige "Reform"-Zeit ausreichend war, um in ihnen nicht nur eine militärische Strukturanpassung an die NATO durchzuführen, sondern, wie Fischer betont, auch die "Durchsetzung von Menschenrechten und die demokratische Kontrolle der Streitkräfte". Zweifel sind schon deshalb erlaubt, weil es mit der Türkei einen langjähriges Mitglied der NATO gibt, dem man solche "Reformen" nie abverlangt hat.

Von den drei Themen, die Fischer in seiner Regierungserklärung abgehandelt hat (1. die Öffnung der NATO für neue Mitgliedsstaaten, 2. die Beziehungen der NATO zu ihren Partnern und 3. die Anpassung der NATO an neue Herausforderungen) ist der dritte Punkt zweifellos der entscheidende. Hier geht es vor allem um folgende zwei Fragen: "Wie reagieren wir in der NATO auf die neuen Bedrohungen? Wie können wir zur Bekämpfung, ihrer Eindämmung und Prävention von Krisen und Konflikten nachhaltig beitragen?"

Die erste Frage hat Fischer schnell beantwortet. Den neuen Herausforderungen - gemeint ist vor allem die terroristische Gefahr - wird zu begegnen sein, indem, allgemein gesprochen, die "militärischen Fähigkeiten" der NATO verbessert werden. Hierbei geht es um die Initiative des "Prague Capabilities Commitment", einem Auf- und Umrüstungsprogramm, das die NATO-Staaten in die Lage versetzen soll, sich besser gegen Angriffe mit Massenvernichtungswaffen zu schützen sowie selbst militärisch intervenieren zu können. Dazu werden moderne Führungstechnologien, strategische Lufttransportkapazitäten sowie erweiterte Aufklärungstechnik benötigt.

Ausdrücklich begrüßt die Bundesregierung die US-Initiative zum Aufbau einer NATO-Response Force als einen "konstruktiven Vorschlag". Fischer: "Dieser multinationale Ansatz kann dazu beitragen, die heutigen Sicherheitsherausforderungen zu bewältigen und gleichzeitig die integrierten NATO-Strukturen zu stärken. Daher unterstützen wir den Plan, in Prag einen Auftrag zur Ausarbeitung eines Konzeptes für diese NATO-Response Force zu erteilen." Die nachgeschobenen drei Voraussetzungen dafür stellen wohl kaum ein Hindernis für die Realisierung einer NATO-Einsatztruppe dar: Dass Entscheidungen über den Einsatz der Truppe dem NATO-Rat vorbehalten sein müssen, ist fast eine Selbstverständlichkeit, ebenso die Feststellung, dass eine deutsche Beteiligung an solchen Einsätzen nur mit vorheriger Zustimmung des Bundestags möglich sind. Der dritte Punkt könnte zu Diskussionen innerhalb der NATO und der EU führen. Fischer betont nämlich den deutschen Standpunkt wonach das Vorhaben "mit dem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte im Rahmen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vereinbar sein" müsse. "Doppelungen sollten ausgeschlossen werden." Die europäischen Einsatzkräfte, die im kommenden Jahr bereits einsatzbereit sein sollen, haben in dieser Lesart Vorrang vor den NATO-Response Forces. Auf letztere soll indessen auch nicht verzichtet werden, nur müssen sie eben auf die - dann - vorhandenen europäischen Verbände zurückgreifen. Keine Parallelstrukturen also, sondern Interventionstruppen mit Dual-use-Charakter: einmal für die EU, das andere Mal für die NATO. Dies klingt vernünftig, vor allem macht es den Eindruck einer sparsamen Militär- und Beschaffungspolitik. Was Fischer indessen ausklammert, ist die Forderung der USA nach einer verstärkten Rüstungsanstrengung der europäischen NATO-Staaten, einschließlich Deutschlands. Elizabeth Jones, stellvertretende US-Außenministerin, hat darauf in einer Grundsatzrede am 21. Oktober vor dem World Affairs Council of N. California mit Nachdruck hingewiesen. Allein die USA verfügten heute schon über die Kapazitäten, "to deploy at short notice flexible and well-armed forces capable of conducting sustained operations anywhere in the world". Die europäischen Verbündeten seien dazu nicht in der Lage. Deshalb müssten sie durch Kooperation und Poolbildung ausgleichen, wozu sie als einzelne Staaten nicht genügend Mittel haben. Dennoch müssen sie einzeln und zusammen das Ungleichgewicht zwischen den US-Streitkräften und den europäischen Streitkräften abbauen. "At Prague, we expect NATO to take decisive steps to begin redressing the imbalance." (Die Rede von Elizabeth Jones ist im Internet verfügbar auf der Seite der US-Regierung: http://usinfo.state.gov/)

Über all das findet sich in der Regierungserklärung von Fischer kein Wort. Auch nicht über die Vorstellung der USA, die NATO-Einsatztruppe sollte nach einer Art Rotationsprinzip funktionieren: "Participation in the Response Force will rotate among Allies." Auf diese Weise könnte je nach spezifischen Kriegseinsätzen die Truppe aus den Ländern zusammengesetzt werden, die über die jeweils erforderlichen Spezialfähigkeiten verfügen. (Jones führt in ihrer Rede ein paar Beispiele in Bezug auf die neuen NATO-Staaten Tschechien, Bulgarien, Slowenien, Rumänien und Litauen an.) Ein wenig erinnert dieses Konzept an die gängige Praxis der USA während des Afghanistankriegs, als sie sich ihre Alliierten je nach Bedarf auswählten - ein Bündnis ŕ la carte!

Am Schluss seiner Rede lenkt Fischer wieder den Blick auf die politische Dimension der NATO, ohne allerdings auch hier sonderlich konkret zu werden. Einerseits wird gesagt, dass es in Prag "nicht nur um militärische Fähigkeiten" gehen werde, sondern auch darum, "wie Konflikte besser eingedämmt und Krisen verhütet werden können". Auf der anderen Seite laufen die Erläuterungen hierzu wieder auf militärische Maßnahmen hinaus, nämlich auf den "rechtzeitigen, präventiven Einsatz von Streitkräften" - gezeigt am Beispiel des Mazedonien-Einsatzes. Hier schließt sich der Kreis: Eingangs haben wir auf das gestörte Verhältnis des Außenministers zu seiner eigenen Parteiprogrammatik hingewiesen, die das Militär lediglich als "ultima ratio" vorsieht. Jetzt haben wir eine doppelte Desavouierung dieses Programms:
  • erstens wird bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, der, so scheint es, größten Bedrohung der Menschheit, Militär nicht als "ultima ratio", sondern als prima ratio herangezogen, und
  • zweitens besteht auch der politische Teil der Terrorbekämpfung zu einem gewissen Grad aus militärischen Maßnahmen, und zwar ausgerechnet da, wo es um "Prävention" geht.
Fazit: Die Regierungserklärung zur Information des Bundestags über den NATO-Gipfel in Prag bleibt in hohem Maße allgemein (dies war schon im außenpolitischen Teil der Koalitionsvereinbarung zu erkennen, vgl. die Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag), spricht kein einziges kontroverses Thema konkret an und misst der militärischen Komponente im "umfassenden Sicherheitsbegriff" eine auffällig hohe Bedeutung bei - so, als wäre die Rede nicht von einem Außenminister, sondern von einem Verteidigungsminister gehalten worden.

Peter Strutynski


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