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Merkels Schwenk führt die Marine nach Nahost

Bundesregierung forciert die Militarisierung der deutschen Außenpolitik

Von Hans Voss *

Als die große Koalition im vergangenen Herbst ihre Arbeit aufnahm, gab es kaum einen Zweifel daran, dass die bisherige deutsche Außenpolitik in ihren Grundzügen fortgeführt werden würde. Regierungswechsel in der Bundesrepublik haben seit geraumer Zeit stets eine Kontinuität in der internationalen Politik bestätigt. Wenn auch im Bundestagswahlkampf des vergangenen Jahres die eine oder andere Kontroverse ausgefochten wurde – so wurden Friktionen im deutschamerikanischen Verhältnis dem raubeinigen Agieren Gerhard Schröders angelastet –, stellten sie doch niemals den Grundkonsens in Frage. Vielfach wurde davon gesprochen, dass es zum Zeitpunkt der Regierungsbildung de facto schon eine große außenpolitische Koalition gab. Und in der Tat: Das erste Jahr der Regierung Angela Merkels erbrachte den Beweis, dass sich an der Ausrichtung der deutschen Außenpolitik grundsätzlich nichts geändert hat. Was jedoch nicht bedeutet, dass alle Handlungslinien einfach fortgeführt wurden. Einige Wesenszüge – und zwar vorwiegend solche, die das deutsche Großmachtstreben stärker ausprägen – traten brutaler hervor.

Die Lieblingsalliierte George W. Bushs

Zu den offenkundigen Veränderungen gehört vor allem, dass sich das deutsch-amerikanische Verhältnis deutlich entspannt hat. Das geschah, obwohl die Bundesregierung keine Abbitte für ihre Verweigerung im Irak-Krieg geleistet hat. Dem Zeitgeist folgend, übte Angela Merkel sogar vorsichtige Kritik am Gefangenenlager in Guantanamo, so wie sie sich unlängst auch von den illegalen CIA-Gefängnissen außerhalb der USA distanzierte. Unterschiedliche Auffassungen aus der Zeit der Irak-Aggression wurden einfach ausgeblendet. Da die Bundesregierung zugleich ihr Engagement in Afghanistan deutlich aufstockte, was den USA für den Irak-Krieg militärische Entlastung verschaffte, stieg Angela Merkel zur Lieblingsalliierten George W. Bushs auf. Dieser Prozess wurde dadurch begünstigt, dass der Stern des bisherigen Hauptverbündeten, Tony Blair, im Sinken begriffen ist. Überhaupt kommen den USA immer mehr Koalitionäre abhanden. Zugleich sank das Ansehen des USA-Präsidenten im eigenen Lande auf einen Tiefpunkt.

In dieser Situation verstand es Angela Merkel geschickt, der Bush-Regierung den Eindruck zu vermitteln, als ob die deutsche Regierung – ungeachtet früherer Turbulenzen – auf eine Position des weitgehenden Verständnisses eingeschwenkt sei. Bei aktuellen Krisenherden wie Iran oder den palästinensischen Gebieten sprach sie dieselbe Sprache wie George W. Bush. Hinsichtlich Irak hält sie sich mit Aussagen zurück. Alles in allem: In einer Zeit zunehmender Vereinsamung des USAPräsidenten vermittelt sie George W. Bush das Gefühl, einen treuen Verbündeten zurückgewonnen zu haben.

Ging es hier vornehmlich um Atmosphärisches, so stellte sich die Bundesregierung beim Krieg Israels gegen die Hamas im GazaStreifen und gegen die Hisbollah in Libanon demonstrativ auf die Seite der USA. Sicher, die Sympathien Berlins lagen schon immer auf der Seite Israels. Die Begründungen dafür sind bekannt. Aber es gab auch stets das Bemühen, ein ausgewogenes Verhältnis zu beiden Seiten zur Schau zu stellen. Dieses Ansehen hat die Bundesregierung durch ihre einseitige Parteinahme im Krieg Israels gegen seine Nachbarn weitgehend verloren, auch wenn man das in Berlin nicht glauben mag. In Übereinstimmung mit den USA verzögerte die Bundesregierung Vermittlungsbemühungen. In internationalen Gremien wie der EU, den Vereinten Nationen und ihrem Menschenrechtsrat verhinderte sie lange Zeit Appelle für einen Waffenstillstand. Eines hat die Bundesregierung mit ihrem Taktieren jedoch erreicht: Sie hat sich als willfähriger Gehilfe der Regierung in Washington bewiesen – und sich damit auch einen gewissen Freiraum geschaffen, der ihr unter Gerhard Schröder verloren gegangen war.

Gerade die Ereignisse im Nahen Osten in der jüngsten Vergangenheit haben ein weiteres Element in der modernen deutschen Außenpolitik sichtbar werden lassen, ein Verhalten auf dem internationalen Parkett, das bislang nicht typisch war. Herrschte bisher im Verhältnis zu Akteuren im Nahen Osten noch Toleranz vor, so zog jetzt eine Haltung der Unduldsamkeit, ja der Abstrafung ein. Die Hamas-Partei war das erste Opfer dieser Politik. Obwohl demokratisch gewählt, wurde ihr die Anerkennung versagt, weil sie sich weigerte, ihre israelfeindliche Position aufzugeben. Ähnlich befremdlich war das Vorgehen von Außenminister Frank-Walter Steinmeier, als er seinen für Mitte August angesetzten Besuch in Damaskus kurzfristig absagte.

Steinmeier droht Gesichtsverlust

Anlass war eine Rede Präsident Assads, in der dieser das Existenzrecht Israels in Frage stellte, eine Auffassung, von der Kenner nicht überrascht sein konnten. Steinmeier strafte Assad mit Nichtachtung, wobei er völlig aus dem Auge verlor, dass er in Damaskus für eine aktive Einbeziehung Syriens in den Friedensprozess im Nahen Osten werben wollte. Er manövrierte sich in eine Lage, aus der er nur durch Gesichtsverlust wieder herauskommen kann. Man muss sich fragen: Bedient sich die Bundesregierung nunmehr der US-amerikanischen Vorgehensweise, Staaten zu ignorieren, wenn sie den eigenen Vorstellungen zuwider handeln? Aber mit Iran wird doch auch verhandelt, obwohl seine Führung gleichfalls das Existenzrecht Israels in Frage stellt. Ist davon die Rede, dass sich einige Wesenszüge der deutschen Außenpolitik in der letzten Zeit noch stärker ausgeprägt haben, dann trifft das insbesondere auf den Umstand zu, dass der militärische Faktor in dieser Politik weiter an Gewicht gewonnen hat. Mit Fug und Recht kann man sagen, dass die Militarisierung der deutschen Politik eines der prägendsten Elemente im Vorgehen der Bundesrepublik in der Gegenwart ist. Der Einsatz der Bundeswehr in der ganzen Welt, die Verselbstständigung dieses Faktors, seine Herausstellung als eine Normalität, die Ignoranz gegenüber allen verfassungsmäßigen Hemmnissen sind heute bestimmend für die deutsche Politik. Die Teilnahme der Bundeswehr an internationalen Militäreinsätzen hat in der Amtszeit Angela Merkels qualitativ und quantitativ neue Akzente aufzuweisen.

Nachdem die Bundeswehr im Ergebnis eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen Jugoslawien sich dauerhaft auf dem Balkan festgesetzt hat, wird ihre Präsenz seit einiger Zeit räumlich und zahlenmäßig in Afghanistan verstärkt. Dabei war die Bundesregierung maßgeblich daran beteiligt, den von der UNO legitimierten Schutzeinsatz der ISAF mit der von den USA geführten »Koalition der Willigen« (Enduring Freedom) zusammenzulegen. Damit wurde zugleich den USA im Nachhinein die fehlende Legitimation für deren Vorgehen in Afghanistan erteilt. Es folgte der Einsatz in Kongo, dessen Nützlichkeit von vielen Seiten bestritten wird. Angeblich soll er nur vier Monate dauern. Doch sind Zweifel an dieser Perspektive mehr als berechtig. Über kurz oder lang ist wohl damit zu rechnen, dass man die Öffentlichkeit auf veränderte Bedingungen verweist, die eine Verlängerung des Einsatzes und möglicherweise auch seine Ausweitung erforderlich machen.

Nunmehr hat sich die Bundesregierung für eine Teilnahme an der internationalen Sicherungstruppe für das südliche Libanon ausgesprochen. Sie ist entschlossen, die Bundeswehr an einem weiteren Brennpunkt des Weltgeschehens festzusetzen. Das erfolgt, obwohl die Ausgestaltung des Einsatzes lange Zeit umstritten war. Die Bundesregierung bestand darauf, mittels der Bundesmarine durch eine Überwachung der libanesischen Hoheitsgewässer eine Aufgabe zu übernehmen, die sich bisher Israel angemaßt hatte. Sie stieß damit in Libanon auf Widerstand, das der Bundesmarine nur einen Wirkungsbereich außerhalb der eigenen Hoheitsgewässer zubilligen wollte. Getrieben vom Ehrgeiz, deutsche militärische Stärke endlich auch im Nahen Osten demonstrieren zu können, stimmte die Bundesregierung schließlich einem Mandat zu, das die deutschen Einwirkungsmöglichkeiten erheblich einschränkt, sie der libanesischen Souveränität unterordnet. Aber das nimmt Berlin in Kauf. Dabei sein ist ihr wohl alles.

Die Diskussion um den Libanoneinsatz der Bundeswehr macht auf anschauliche Weise deutlich, wie sehr sich die klassischen Argumente in Sachen deutsche Kampfeinsätze im Ausland verkehrt haben. Jahrzehntelang wurde jegliche deutsche Teilnahme mit einem Hinweis auf die deutsche Vergangenheit in Frage gestellt. Die Meinungen prallten selbst dann aufeinander, wenn Mandate der Vereinten Nationen vorlagen. Heute verweisen nur noch Parteien der Opposition auf die deutsche historische Verantwortung. Die Regierungsparteien haben in ihrer Haltung einen völligen Schwenk voll zogen. Nunmehr wird nur noch nach den vorgeblichen Interessen entschieden. Dabei scheut man auch nicht vor einer einseitigen Parteinahme zurück. Angela Merkel und andere deutsche Politiker haben diesen Vorgang als historischen Akt charakterisiert. Im Falle Libanons wird das Beharren auf einer deutschen Teilnahme sogar mit dem Argument begründet, dass Deutschland auf diese Weise die Vergangenheit vergessen machen könne.

Bundeswehreinsatz im eigenen Land?

Wenn über die Stärkung der militärischen Elemente in der deutschen Politik gesprochen wird, soll nicht vergessen werden, dass immer aufs Neue der Einsatz der Bundeswehr im eigenen Lande beschworen wird. Obwohl das Bundesverfassungsgericht das Vorhaben der Regierung gestoppt hat, Flugzeuge, die vorgeblich von Terroristen gekapert sind, über deutschem Territorium abzuschießen, hat Minister Franz-Josef Jung von diesen Plänen nicht Abschied genommen. Er sucht nach Wegen, das Urteil der obersten Verfassungshüter zu umgehen. Ähnlich diffus sind seine und die Absichten von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, die Bundeswehr als eine Art Polizeitruppe im Innern des Landes einzusetzen. Obwohl auch ein solches Vorgehen durch das Grundgesetz untersagt ist, beschwören beide Politiker, dass sie das nicht schert. Man müsse das Grundgesetz heute anders deuten, als es seine Verfasser vor Jahrzehnten getan haben. Heute könne der Verteidigungsfall, an den der Einsatz der Bundeswehr nach der Verfassung gebunden ist, mit einem Angriff innerhalb des eigenen Staates ausgelöst werden.

Es ist offensichtlich, dass damit die Version des US-amerikanischen Präsidenten übernommen wird, wonach die USA und die NATO-Staaten sich in einem permanente Krieg gegen den internationalen Terrorismus befinden, der an den Staatsgrenzen nicht halt macht. Zur Abwehr gegnerischer Angriffe müsse daher auch der Einsatz der nationalen Streitkräfte auf dem eigenen Territorium erlaubt sein. Es fällt in diesem Zusammenhang auf, dass die Bundeskanzlerin den beiden Ministern nicht ins Wort fällt. Sie übernimmt deren Planspiele zwar nicht, sie sorgt aber auch nicht dafür, dass sie unterbunden werden.

Aus ihrem Streben, der eigenen Politik Weltgeltung zu verschaffen, ergibt sich logisch, dass die Regierung Merkel für eine Reform der Vereinten Nationen eintritt. Selbstverständlich muss sie davon Kenntnis nehmen, dass der Reformprozess ins Stocken geraten ist. Zwar wurden einige Vorhaben realisiert, so die Bildung der »Kommission für den Friedensaufbau«, die Staaten bei der Überwindung der Folgen eines Krieges helfen soll, oder die Neuformierung des »Menschenrechtsrates«. Beiden Gremien gehört die Bundesrepublik an. Entscheidende Veränderungen stehen jedoch noch aus. Dazu gehört aus deutscher Sicht insbesondere die Erweiterung des Sicherheitsrates durch ständige und nichtständige Mitglieder. Die deutsche Regierung hält an ihrem Anspruch fest, einen solchen ständigen Sitz zu erhalten. Es verdient Beachtung, dass in der praktischen Politik der letzten Zeit die Bundesregierung bereits in einer Weise handelt, als sei sie den anderen ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates gleichgestellt.

UN-Sicherheitsrat fest im Visier

Im Streit um die nuklearen Ambitionen Irans etwa handelt die Bundesregierung gemeinsam mit den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates. Sie hat zusammen mit Großbritannien und Frankreich eine Vermittlerrolle übernommen. Je länger das Tauziehen mit Teheran gehen wird, je gefestigter wird die herausgehobene Stellung der Bundesrepublik sein. Das ist zweifellos eine von der deutschen Regierung verfolgte Absicht. Sicherlich kann man unterstellen, dass Berlin auch ein Interesse hat, einen weiteren Konfliktherd im Mittleren Osten einzudämmen. Aber als Mittel zur Unterstreichung der eigenen Rolle in der Welt eignet sich das Agieren zusammen mit den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates natürlich vortrefflich.

Die Position der Bundesrepublik als europäische Großmacht ist also im vergangene Jahr bestätigt worden. Die vielerorts ausgedrückte Erwartung, dass die finanziellen und sozialen Probleme des Landes den internationalen deutschen Spielraum entscheidend einengen werden, hat sich nicht erfüllt. Obwohl die Bundesregierung nur bescheidene Ergebnisse bei der Überwindung der Finanzkrise und der Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit erzielen konnte, wirkte sich das auf die internationale Stellung der Bundesrepublik nicht spürbar aus. Dazu trug bei, dass auch wichtige europäische Staaten wie Frankreich, Großbritannien und Italien mit ähnlichen Schwierigkeiten zu ringen haben.

Im globalen Maßstab aber hat die Bundesrepublik noch keine »Spitzenposition« inne. Doch hat sie sich ihr angenähert. Und das, obwohl der Einzug als ständiges Mitglied in den Sicherheitsrat noch aussteht. Allerdings hat sich die Bundesrepublik Deutschland in Gremien festgesetzt, die maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung der internationalen Beziehungen ausüben. Vor allem aber versucht sich die Bundesregierung Weltgeltung zu verschaffen, indem sie Einsätze der Bundeswehr global vorantreibt.

* Aus: Neues Deutschland, 30. September 2006


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