"Am Ende des Sonderwegs": Die Rolle der deutschen Streitkräfte in der gewandelten weltpolitischen Konstellation
Ein hochbrisantes Diskussionspapier junger sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter
Jugend schützt vor Torheit nicht - insbesondere wenn es sich um die "jungen Wilden" im Deutschen Bundestag handelt. Im vorliegenden Fall geht es um eine Gruppe von SPD-Abgeordneten, die sich soeben mit einer eigenständigen, sehr forschen Position in die außen- und sicherheitspolitische Debatte eingemischt hat. Der Bundesregierung wird in einem im Folgenden dokumentierten Diskussionspapier empfohlen, sich von "alt-klugen Merksätzen" zu verabschieden und zu einer neuen "Politik der souveränen Normalisierung" zu bekennen. Das Papier wurde unter anderem von Hans-Peter Bartels, Kerstin Griese und Hubertus Heil unterzeichnet und war am 18. Dezember 2001 in der Frankfurter Rundschau abgedruckt worden.
                   Die Jahre zwischen dem 3. Oktober 1990 und dem 11. September 2001 können für
                   Deutschland und auch für die deutsche Sozialdemokratie als eine außenpolitische
                   Übergangszeit interpretiert werden, in der zu beinahe jeder neuen außenpolitischen
                   Frage erst noch einmal die alten Antworten auf den Tisch kamen, bevor neue
                   Antworten sich durchsetzen konnten. Die SPD ist in diesen wenigen Jahren einen
                   weiten Weg gegangen.
                   Mit dem Ende der Blockkonfrontation, des Sowjetkommunismus, der europäischen
                   und der deutschen Teilung, mit der gewaltfreien Wende in der DDR und der
                   Wiederherstellung der Einheit Deutschlands 1990 war die Ordnung des Kalten
                   Krieges als globaler Spannungsachse, nach der sich auch die inneren
                   Spannungsachsen vieler Staaten der Welt ausrichteten, zerbrochen, die
                   Nichteinmischungsdoktrin obsolet. Kurz: Die Nachkriegszeit war abgeschlossen,
                   eine neue Ära begann.
                   Eine eigene, über den Epochenwechsel fortlaufende Tradition der bundesdeutschen
                   Außenpolitik ist der Multilateralismus. Der historisch begründete deutsche Ansatz
                   bestand immer auch darin, sich nicht zu isolieren, stattdessen zu kollektiven
                   Lösungen beizutragen, nie neutral, aber auch nie (über die Blockgrenzlage hinaus)
                   besonders exponiert zu sein.
                   In weiten Teilen der Welt genießt Deutschland ein halbes Jahrhundert nach
                   Nazi-Diktatur und Weltkrieg ein erstaunlich hohes Ansehen, einen großen
                   politischen Kredit: Vertrauen. Das liegt unter anderem daran, dass Deutschland nur
                   in sehr begrenztem Maße und kurz Kolonialmacht war; uns blieb die schwierige
                   Phase der Dekolonialisierung erspart. In der Zeit des Kalten Krieges ist
                   Deutschland - anders als etwa die USA und die UdSSR - nicht militärisch in
                   Erscheinung getreten. 
                   Und Deutschland wird wegen seiner multilateralen Ausrichtung weniger als anderen
                   unterstellt, eigene Wirtschafts- oder Hegemonialinteressen zu verfolgen. Daraus
                   ergeben sich heute Gestaltungschancen.
                   Trotz EU, Nato, OSZE und UN scheint es zur Zeit keinen linearen
                   Internationalisierungsprozess zu geben. Einzelne Staaten und die internationalen
                   Organisationen gewinnen an Bedeutung - zum Teil zunächst auf Kosten der
                   zerfallenen UdSSR, gegenwärtig auch auf Kosten der USA.
                   Außenpolitische Grundsätze der SPD
        Heute gibt es keine Rechtfertigung mehr dafür, besondere Rücksichten auf
                   Deutschland von den Bündnispartnern oder der Weltgemeinschaft einzufordern.
                   Deutschland verfügt über alle Rechte und Pflichten eines souveränen Staates. Wo
                   schweres Unrecht geschieht und Deutschland helfen kann, müssen wir uns auch
                   verpflichtet fühlen, es zu tun. Über die Mittel entscheiden wir in einem
                   demokratischen, innerstaatlichen Prozess selbst.
        Isolationismus und Internationalismus sind in jeder Gesellschaft die beiden Pole
                   auf dem Kontinuum der außenpolitischen Möglichkeiten. In den USA wie in
                   Großbritannien, Japan, Frankreich, Deutschland oder anderen Ländern orientiert
                   sich die öffentliche Willensbildung mal mehr in die eine, mal mehr in die andere
                   Richtung. 
                   Die deutsche Außenpolitik tut gut daran, internationalistisch zu bleiben, auch wenn
                   die Stimmungen in der Bevölkerung schwanken mögen. Darüber besteht unter den
                   Parteien des alten bundesrepublikanischen Verfassungsbogens weitgehend
                   Konsens. Dies wird praktisch in den Bindungen und Bündnissen, die Deutschland
                   eingegangen ist.
- 
        Westbindung (Adenauer) und Ostaussöhnung (Brandt) werden unter den neuen
                   Bedingungen jetzt durch eine Politik der souveränen Normalisierung
                   (Schröder/Fischer) ergänzt.
- 
                   Begleitet werden muss dieser Prozess durch eine auch auf deutsche Initiative hin
                   beschleunigte europäische Integration und Stärkung der UN-Instrumentarien. Dazu
                   gehören z. B. die Schaffung und Durchsetzung einer internationalen
                   Gerichtsbarkeit genauso wie die langfristige Etablierung einer europäischen Armee
                   als Instrument einer einheitlichen europäischen Sicherheitspolitik, auch unter
                   Aufgabe von Teilen heutiger nationaler Souveränität.
                   
- Deutschland als bevölkerungsreichstes, wirtschaftsstärkstes und finanzkräftigstes
                   europäisches Land hat in der EU und Nato eine zentrale Rolle zu spielen. Das
                   erwarten die großen wie auch die kleineren Partner. Erklärungsbedürftig, quasi
                   "verdächtig", wäre gerade nicht das behutsam-selbstbewusste Auftreten, sondern
                   ein kleinmütig-selbstbezogenes. Insofern spielt Deutschland seine Rolle heute
                   richtig. Ein Sitz im UN-Sicherheitsrat ist dazu nicht notwendig (wäre aber auch
                   kein Schaden), ein gemeinsamer Sitz für die EU könnte aber nützlich sein.
                  
- Die Identifizierung drohender Krisen und deren frühzeitige Prävention muss ein
                   integrales Instrumentarium der Sicherheitspolitik werden. Deutschland hat in
                   diesem Bereich mit seiner Vorbildrolle im Klimaschutz, bei der Bekämpfung der
                   Wüstenbildung und dem weltweiten Schutz des Trinkwassers bereits erste Erfolge
                   in den letzten Jahren erreicht. Die Möglichkeiten des erst vor wenigen Jahren
                   entstandenen deutschen UN-Standorts (Bonn) müssen dabei noch besser genutzt
                   werden. 
                   
- Konflikte, Gefahren und Bedrohungen, denen wir am Beginn des 21. Jahrhunderts
                   begegnen, unterscheiden sich sehr von der Zeit des Systemkonflikts mit ihrem
                   Gleichgewicht des Schreckens. Vielleicht wird es niemals einen "Kampf der
                   Kulturen" als Kampf zwischen Staatengruppen geben, doch die Konflikte auf der
                   Welt könnten dort am mörderischsten werden, wo die kämpfenden Parteien
                   diesseits und jenseits einer Grenzlinie zwischen zwei Kulturkreisen stehen. Diese
                   Möglichkeit lässt sich nicht wegwünschen. Aber für die Fundamentalalternative, die
                   Perspektive der "einen Welt", lässt sich einiges tun: selbstbewusst, hilfreich,
                   behutsam.
Unmittelbare Folgen für den militärischen Aspekt deutscher Sicherheitspolitik- 
        Militärische Beiträge zu UN-Beobachtermissionen, zur Friedenssicherung (SFOR,
                   KFOR, TFF), zur Friedenserzwingung (Kosovo 1999) und zur Gefahrenabwehr
                   (Terrorbekämpfung) sind Teil einer internationalistischen Außenpolitik, die der
                   sozialdemokratischen Programmtradition entsprechend ethnische Verfolgung,
                   Völkermord, Vertreibung, Terror und das Faustrecht des Stärkeren nicht "neutral"
                   und bequem hinnimmt. Entgegen dem alt-klugen Merksatz, mit Gewalt könne man
                   keine Probleme lösen, ist militärische Intervention dann legitim und geboten, wenn
                   die Sicherheit das allen anderen vorgehende Problem darstellt. Solange
                   geschossen wird, sind alle anderen Probleme erst recht nicht lösbar. Militär ist ein
                   Mittel der Außenpolitik - und zwar nicht nur als Ultima-Ratio-Instrument für den Fall
                   des Krieges, sondern auch in vielen humanitären, logistischen, robust-polizeilichen
                   und vertrauenschaffenden Missionen im Ausland.
        
- Die Fähigkeiten der deutschen Streitkräfte, ihre erweiterten Aufgaben im Rahmen
                   der kollektiven Sicherheitssysteme, denen die Bundesrepublik konkrete
                   militärische Beiträge verbindlich zugesagt hat, zu erfüllen, sind bei weitem noch
                   nicht hinreichend entwickelt. Die langfristigen Ausrüstungsschwerpunkte der
                   Bundeswehr orientieren sich - seit langem vertraglich gebunden - noch immer zu
                   stark am Bedrohungsszenario der frühen 80er Jahre. Beim Schließen der
                   Fähigkeitslücken sollte Deutschland auf eine erweiterte europäische oder, soweit
                   dies sinnvoll ist, euro-atlantische Aufgabenverteilung dringen. Das spart auch
                   Kosten. Die Bundeswehr muss nicht alles können und nicht überall präsent sein,
                   wo Bündnispartner Aufgaben übernehmen. Aber sie muss mehr können als heute.
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