Ein Sieg für Schröder - aber für wie lang und zu welchem Preis?
Pressestimmen zur Vertrauens- und Kriegsabstimmung im Deutschen Bundestag
Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einer Reihe von Leitartikeln, die sich mit der Vertrauensfrage im Bundestag vom 16. November 2001 befassen.
Immer wieder ein intellektuelles Vergnügen bereiten die Kommentare von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung. Der Leitartikel vom 17. November 2001 legt dem Kanzler nahe: Nur nicht zu früh freuen, Herr Schröder, denn der Preis der gewonnenen Schlacht ist hoch.
Süddeutsche Zeitung, 17. November 2001
                         Schröder hat gewonnen, aber nicht gesiegt. Sein Erfolg bei der
                         Vertrauensabstimmung im Bundestag war ein Triumph des
                         Augenblicks und des politischen Machismo – schon bald nachher
                         schmeckt der Triumph ein wenig schal und abgestanden:
                         Bonjour, Tristesse. 
                         Der Preis für die gewonnene parlamentarische Schlacht ist hoch,
                         vielleicht zu hoch für eine Regierung, wenn sie mehr will als das
                         Ende der Legislaturperiode irgendwie zu erreichen: Zwar wurde
                         der Kanzler verfassungspolitisch nobilitiert und kann stolz sein
                         auf seine exekutive Kraft; seine Koalition aber wurde
                         destabilisiert. Die Verbindung des Kriegsbeschlusses mit der
                         Vertrauensfrage wirkte auf die rot-grüne Physis wie ein
                         Elektroschock; in der Medizin ist man von dieser Heilmethode,
                         der schweren Nebenwirkungen wegen, längst abgekommen. Der
                         Kanzler hat sie rigoros und mit hoher Voltzahl angewandt. An
                         den schweren Nebenwirkungen kann nun die rot- grüne Koalition
                         den Rest ihrer Tage leiden. Ihre politische Kraft wird, vielleicht,
                         mit knapper Not noch dafür reichen, begonnene Reformprojekte
                         wie das Zuwanderungsgesetz über den parlamentarischen
                         Parcour zu schleifen. Der Schwung, Neues anzupacken, die
                         Energie zum Pläne schmieden, der Glaube an die eigene Zukunft
                         ist gebrochen. 
                         16. November 2001: „Kopf hoch“, sagte der Kanzler und warf
                         dem Delinquenten die Schlinge um den Hals. Nicht wenige Grüne
                         – und zwar nicht nur die vier, die letztendlich gegen den
                         Kriegsbeschluss gestimmt haben – sehen ihre Partei in dieser
                         Rolle. Joschka Fischer hat das gemerkt und sogleich reagiert: Er
                         hat versucht, mit einer furiosen rot-grünen Regierungserklärung
                         nicht nur um Vertrauen für den Kanzler, sondern auch für sich
                         und die politische Reformkraft von Rot-Grün zu werben. Statt
                         einer außenpolitischen hat er eine innenpolitische Rede gehalten,
                         eine Rede an seine eigene Partei, eine Beschwörungsrede für
                         das rot-grüne Reformprojekt. Die Frage der Wählerschaft lautet
                         freilich: Wozu noch Feuer schüren, wenn man nichts mehr im Topf
                         hat? Die Zukunft von Rot-Grün, aber auch die Zukunft der Grünen
                         wird davon abhängen, dass dieser Eindruck widerlegt werden
                         kann. 
          ... Dieser Tag war vor allem ein Triumph des
                         exzessiven Parteienstaates, der den Abgeordneten
                         ent-persönlicht und ihn zu einem organisatorisch-technischen
                         Zwischenglied zwischen Partei und Parlamentsbeschluss macht.
                         Natürlich ist die Vertrauensfrage ein zulässiges Mittel. Es geht
                         darum, wie man es einsetzt und dosiert. Es wäre anders
                         gegangen: Der Kanzler hätte den Kriegsbeschluss und die
                         Vertrauensfrage entkoppeln können. Er hätte dann für die
                         Entsendung deutscher Soldaten eine große Mehrheit erhalten,
                         jenseits der Trennlinien zwischen Regierungs- und
                         Oppositionsparteien. Und er hätte anschließend die allgemeine
                         Vertrauensfrage stellen können – dann allerdings mit dem
                         Vorwurf leben müssen, dass er zwar ein wolkiges
                         Allgemeinvertrauen der Regierungsfraktionen genießt, aber in
                         einer der wichtigsten Fragen über keine eigene Mehrheit verfügt.
                         In einem Land mit langer demokratischer Tradition wäre das kein
                         Problem, würde dieser Vorwurf auch gar nicht erhoben, weil man
                         mit wechselnden Mehrheiten gut leben kann In Deutschland ist
                         das ein Problem. Der Kanzler würgte daher lieber die Freiheit des
                         Abgeordneten. Und so demonstrierte der 16. November die
                         Umkehrung des auf dem Papier noch immer geltenden
                         Verfassungsprinzips: De jure sind die Abgeordneten an Aufträge
                         und Weisungen noch immer nicht gebunden, de facto sind sie
                         dem Willen der Partei- und Fraktionsführung unterworfen. Sie
                         sprechen nicht für sich, sondern sind Lautsprecher ihrer Partei
                         und Fraktion. Selten war das so deutlich wie am gestrigen
                         Freitag, selten hat man die Domestizierung des Abgeordneten so
                         bitter empfunden. 
                         
                         Und deshalb gibt es nach diesem Freitag nicht nur Gerhard
                         Schröder als den Gewinner des Tages. Es gibt auch Helden über
                         den Tag hinaus. Die vier Abgeordneten der Grünen und die eine
                         Abgeordnete, die bisher Mitglied der SPD-Fraktion war – sie sind
                         Helden des Parlamentarismus. Sie verdienen diesen Titel
                         unabhängig davon, ob man ihre Anti-Kriegs-Position inhaltlich
                         teilt. Diese fünf Abgeordneten sind in größter Bedrängnis
                         standhaft und bei ihrer Überzeugung geblieben; und das
                         verdient hohen Respekt. Auf diese fünf Abgeordneten passt das
                         verächtliche Wort „Abweichler“, das auch Medien eilfertig
                         propagiert haben, nicht – schon deswegen nicht, weil sie ja gar
                         nicht abgewichen sind. Wenn jemand kritisiert werden muss,
                         dann sind es die politischen Maulkorbträger in den großen
                         Parteien, die dabei so tun, als trügen sie ein Visier. 
                         Das Parlament: Vertreter des ganzen Volkes soll es sein,
                         Kontrolleur der Regierung, Forum der Öffentlichkeit. Am Freitag
                         war davon sehr wenig zu spüren. Der Bundestag war mitnichten
                         ein Marktplatz der Meinungen. Die verbreiteten Zweifel am Sinn
                         eines militärischen Anti-Terror-Einsatzes fanden kaum eine
                         Stimme. Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung fand sich zu
                         seiner Beschämung in dieser Frage nur noch von der PDS
                         vertreten. 
            ... Bei den Grünen
                         lassen sich die Diskussionen nicht verschieben; der Partei steht
                         in Kürze auf ihrem Parteitag in Rostock vor einer neuen
                         Zerreißprobe – und ob sie überstanden wird, hängt davon ab, ob
                         es gelingt, die galoppierende Entfremdung zwischen Oben und
                         Unten aufzuhalten. Wenn es noch eine Brücke gibt zwischen
                         Basis und Parteiführung, dann ist es die Innenpolitik; Joschka
                         Fischer hat deshalb noch am Freitag im Bundestag begonnen,
                         diese Brücke zu schlagen. Das Kalkül lautet so: Die grüne Partei
                         geht kaputt, wenn sie versucht, sich gegen ihren eigenen
                         Außenminister zu profilieren. Also muss sie verstärkt darauf
                         setzen, die Partei als Bürgerrechtspartei gegen Schily, Beckstein
                         und die sonstigen Eisenfresser in Szene zu setzen. 
                         Noch schwieriger, aber überlebenswichtig wird es für die Grünen
                         sein, den Erwartungsdruck der eigenen Klientel zu mildern – und
                         ihr klar zu machen, dass man Berge nicht versetzen, sondern nur
                         erklimmen kann. 
Für den Leitartikler der Frankfurter Rundschau, Karl Grobe, ist durch den "riskanten Pragmatismus" der Abstimmung im Bundestag die Gewissensfreiheit der Abgeordneten "beschädigt" worden.  
Frankfurter Rundschau, 17. November 2001
                   
            
                   Die Entscheidungen über Krieg und Frieden haben die berufenen Interpreten der
                   deutschen Verfassung den Volksvertretern überlassen. Sie haben sie mit guten
                   Gründen dem Zugriff der Exekutive - der den Willen des Gesetzgebers
                   vollziehenden Gewalt - aus der Hand genommen. Wie nur wenige andere sind die
                   in diesem Zusammenhang zu fällenden Entscheidungen Sache des Gewissens.
                   Abgeordnete sollen in letzter Instanz ihrem Gewissen gehorchen, unabhängig und
                   in freier Entscheidung. Gewissen aber, die Fähigkeit der moralischen
                   Selbstbeurteilung, ist auf Personen bezogen und nicht auf Organisationen, nicht
                   einmal dann, wenn Verbände, Kirchen oder Parteien Personen zusammenfassen,
                   die aus ihrer freien Gewissensentscheidung heraus zu gleichen oder sehr
                   ähnlichen Grundsatzentscheidungen kommen. Gegen sein Gewissen zu handeln,
                   darf niemand gezwungen werden. Darauf unter anderem beruht die zivile
                   Gesellschaft, die Gesellschaft freier Bürger.
                   Die Entscheidung über eine politische Zweckgemeinschaft - etwa eine Koalition -
                   ist hingegen vorrangig eine pragmatische, oft auch nur eine taktische, auch wenn
                   das Gewissen durchaus mitspielen kann. Das löst diejenigen, die sie eingehen,
                   nicht aus dem Dilemma, in gegebenen Fällen gegen das pragmatisch geboten
                   Erscheinende zu votieren. Die Rebellion, die aus solchem Dilemma entspringen
                   kann, ist ehrenwert, wenn sie überzeugend begründet werden kann - als
                   Freiheitsbekundung aus Gewissensnot.
                   Bei der Abstimmung am Freitag hat jedoch - mit fünf Ausnahmen haargenau der
                   Parteiarithmetik folgend - das pragmatische Votum Vorrang gehabt. Das ist eine
                   interessante Umkehrung der Rangordnungen, bewirkt durch das Zuchtmittel der
                   Vertrauensfrage. Bewusst, aber mit einem fast ausschließlich praktisch definierten
                   Zweck, hat Bundeskanzler Gerhard Schröder die Fortexistenz seiner Kanzlerschaft
                   und der rot-grünen Koalition auf gleichen oder sogar höheren Rang gehoben als die
                   pazifistischen Überzeugungen einiger seiner eigenen Parteifreunde und vieler
                   grüner Abgeordneter. Ein Sieg auch über die Opposition kam dabei heraus; aber
                   zuerst ein Sieg über die Gewissensnöte der Abgeordneten.
               
               ...    Die Gewissensfreiheit aller Abgeordneten ist beschädigt worden. Für die
                   freiheitlich-demokratische Ordnung wird das zur schweren Hypothek.
Im Neuen Deutschland stellt der Chefredakteur Jürgen Reents lakonisch fest: "Nun darf marschiert werden..."
Neues Deutschland, 17. November 2001
 
 
 Die Arabische Halbinsel, Zentralasien und Nordost-Afrika sind seit gestern 12 Uhr 45 Kriegsgebiet der
Bundeswehr. Bei der Bekanntgabe des deutschen Kriegseintritts gab es stehende Ovationen der
Abgeordneten von SPD und Grünen, die den Parlamentsbeschluss mit 336 Stimmen herbeigeführt
haben. Man sah viele lachende Gesichter, Vertreter beider Parteien äußerten sich »froh«, gar
»glücklich«.
 
Zynisch dargestellt? Die rohen Tatsachen sind genau diese. Zynisch ist, sie dahin umzudeuten, dass
SPD und Grüne, vorerst, ihre Koalition gerettet hätten. Als Meister solcher Umdeutung zeigt sich
Außenminister Fischer, der den Kriegsbeschluss als »Entscheidung über die Zukunft unseres Landes«
und dessen »ökologische und soziale Erneuerung« einforderte. Ein ärmlicheres und erbärmlicheres
Argument, Menschen in anderen Ländern und ihr Schicksal zur Geisel eigenen Regierungserhalts zu
machen, ist selten erfunden worden.
 
Allerdings wäre dies ohne Rückgratbruch derjenigen – von 20 Abgeordneten der SPD und 15 bis 17 der
Grünen war letzte Woche die Rede – nicht gegangen, die »eigentlich« keinen deutschen Soldatenexport
wollten. Wenn es gelingen konnte, mit dem angedrohten Rauswurf aus der Regierung ihr Nein in ein Ja
umzukehren, dürfte es kaum noch etwas geben, das nicht erpressbar wäre. Gewissenszweifel?
Zwischen Regierungsbereitschaft und Kriegsbereitschaft haben auch sie damit ein Gleichheitszeichen
gesetzt. Der Vorwand, sich so Einfluss zu erhalten, ist etwa von der Logik, einen Menschen zu
überfahren, um sich mit eigenem Erste-Hilfe-Kasten als Wohltäter zu erproben. 
Was für ein Krieg wird es sein, in dem Deutschland sich nun befindet? Vielleicht ein Krieg, von dem hier
zu Lande niemand außer den Familien der eingesetzten Soldaten persönlich etwas merken wird. Leid
anderer Menschen im Fernsehen weckt Mitleid, ist dennoch verdrängbar – und notfalls auch zensierbar. 
Vielleicht ein Krieg, dessen teilweise Resultate sogar von seinen Kritikern mit Erleichterung
aufgenommen werden: Dass die brutale Unterdrückung (nicht nur) der Frauen in Afghanistan ein Ende
findet, ist mehr als zu wünschen. Aber – Gregor Gysi hat in seiner Bundestagsrede zu Recht darauf
verwiesen – dieser Krieg wurde nicht zur Befreiung der Frauen begonnen. Hätte es die Ermordeten des
World Trade Center nicht gegeben, ihr Schicksal wäre den NATO-Regierungen weiter so egal wie
vordem und anderswo. 
Vielleicht aber auch ein Krieg, der sich schleichend auszuweiten droht, ausgeweitet wird, wie es
US-Präsident Bush mehrfach angekündigt hat. Und der eines Tages offenbaren könnte, dass er ganz
anderen Zwecken dienlich ist, als sie vage und dehnbar mit dem »Feldzug gegen den Terrorismus« und
»Dauernder Freiheit« bezeichnet sind. Das großflächige Einsatzgebiet auch der Bundeswehr weist auf
den Zusammenhang: Sicherung der Ölvorkommen im arabischen und zentralasiatischen Raum für
»unsere Art zu leben« (Schröder).
 
Dem Terrorismus müsse Nähr- und Resonanzboden entzogen, der Ausgleich zwischen Arm und Reich
ins Zentrum gerückt werden, heißt es ergänzend zum Kriegsbeschluss. Seit langem wird dies
angemahnt und seit dem 11. September zerkauen es jene, die es bewirken könnten, zur bloßen
Phrase, die den Marschbefehl nur begleitet. Deutschland im Krieg – den Luxus, sich aus ihm
wegzudenken, werden Andere nicht genießen dürfen. 
Vollends abgeschrieben hat die "junge welt" die Grünen. Arnold Schölzel kommentiert:
Junge Welt, 17. November 2001
                        
                         Schief gehen konnte am Freitag im Bundestag nichts. Der
                         Auftrag für die Regierungskoalition von SPD und Bündnis
                         90/Die Grünen lautet, die allfälligen Kriege zu führen, ohne daß
                         Antikriegsdemonstranten massenhaft den Verkehr behindern,
                         den Abbau des Sozialstaates so zu beschleunigen, daß die
                         Gewerkschaften sich freuen, wenigstens mitmachen zu
                         können, und alle juristischen Instrumente bereitzulegen, um
                         inneren Krisensituationen mit einer ganzen Skala von
                         Notstandsmaßnahmen begegnen zu können. Die
                         Voraussetzungen für eine rasche militärische Eskalation
                         wurden in dieser Woche eindrucksvoll geschaffen. 
                         Die Spitzen des DGB sind aus Kriegspatriotismus zu jedem
                         Zugeständnis bereit, wie aus einem Anfang der Woche
                         öffentlich gewordenen Geheimpapier hervorgeht. Das in erster
                         Lesung am Donnerstag behandelte Sicherheitspaket des
                         Bundesinnenministers untergräbt die Standards bürgerlicher
                         Rechtsordnungen in einer Weise, daß die Evolution zum
                         Notstandsstaat zukünftig eine Sache weniger bürokratischer
                         Maßregeln ist. Der Kriegsbeschluß vom Freitag ist ein weiterer
                         Schritt zur »Enttabuisierung des Militärischen« (Schröder) und
                         zur Gewöhnung daran, daß Interessen wieder mittels Krieg
                         durchgesetzt werden. Die Bundesrepublik ist kv.,
                         kriegsverwendungsfähig. 
                         Das Kabinett Schröder/Fischer hat seit seinem
                         Regierungsantritt 1998 den deutschen Rüstungsexport
                         angekurbelt, die Umwandlung der Bundeswehr in eine
                         weltweit aktionsfähige Interventionsarmee begonnen und
                         nach dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien nun den zweiten
                         Kriegseinsatz deutscher Truppen nach 1945 eingeleitet. Der
                         enorme demagogische Aufwand, der für den Einsatzbeschluß
                         in dieser Woche von Politik und Medien geleistet wurde, läßt
                         für die Zukunft Böses ahnen. Tatsache ist nun: Einem
                         Kriegsgegner wird es, wie in der Vergangenheit, gleichgültig
                         sein, wie dieser Beschluß zustande kam – ob vom Kaiser
                         (»Jetzt oder nie«), vom faschistischen Diktator
                         (»Zurückgeschossen«) oder von einem Bundeskanzler
                         (»zivilisierte Welt«) herbeigeführt. Deutschland, genauer seine
                         Bevölkerung, ist seit Freitag nach den Regeln des Völkerrechts
                         ein legitimes Kriegsziel. 
                         Vor diesem Hintergrund ist das Gejammer der Grünen, die sich
                         selbst als erste Kriegsopfer betrachten, nur noch peinlich. Mit
                         der Erfüllung des Regierungsauftrags hat wahrscheinlich ihr
                         Abschied aus der Regierung begonnen. Ihre Schuldigkeit
                         haben sie getan und sich dafür mehrfach Bestnoten bei den
                         Herrschenden abgeholt. Die nächsten militärischen Schritte
                         Deutschlands auf der Weltbühne werden folgen. Die
                         Instrumente, mit denen sie nach innen und außen abgesichert
                         werden können, sind jetzt da.
                         
Christian Semler macht in seinem Kommentar für die Tageszeitung taz auf die Risiken der von Taktik bestimmten Abstimmung aufmerksam.
                         
taz, 17. November 2001
                        Aufatmen bei Rot-Grün nach der gewonnenen
                        Vertrauensabstimmung? Keineswegs. Das Stimmensplitting bei
                        den acht Neinsagern rettete zwar die Koalition, beseitigte aber
                        nicht das Problem, das seit der Erklärung der "uneingeschränkten
                        Solidarität" mit den USA durch Bundeskanzler Schröder
                        herrscht. Im Kern geht es darum, wie die Bundesrepublik (und
                        die Europäische Union) künftig gegenüber der militärischen
                        Supermacht einen Entscheidungsspielraum wahren und wie sie
                        vermeiden will, dass der Blankoscheck, den sie ausgestellt hat,
                        tatsächlich eingezogen wird.
                         Bei ihrem Abstimmungsverhalten folgten die grünen Kritiker des
                        Regierungskurses einem Abwägungsmodell. Auf der einen
                        Waagschale die Ablehnung des Krieges, auf der anderen die
                        Teilnahme an der Koalition und die Chancen künftiger,
                        politischer Mitgestaltung. Die Aufteilung der Stimmen folgte den
                        Regeln pragmatischer Rationalität. Flagge zeigen und Rot-Grün
                        retten. Aber in diesem Verfahren stecken unwägbare Risiken.
                         Denn entgegen den Zusicherungen, die in dem jetzt
                        angenommenen Antrag der Bundesregierung enthalten sind, sind
                        die politischen Ziele und ihnen folgend die Kriegsziele der
                        "Anti-Terror-Koalition" so weit und so undeutlich gefasst, dass
                        sie sich jeder Auslegung fügen. Was bedeutet beispielsweise die
                        Einschränkung in dem Antrag "Einsatz außerhalb Afghanistans
                        nur mit Zustimmung der Regierung des Landes, in dem der
                        Einsatz erfolgen soll"? Es sollte nicht schwierig sein, eine solche
                        Regierung zu basteln, notfalls im Exil.
                         Zwar wird uns versichert, der vor uns liegende, "lang dauernde
                        Krieg" werde stets der politischen Hauptprämisse - Kampf dem
                        internationalen Terrorismus - folgen und in politische, humanitäre
                        und wirtschaftliche Maßnahmen eingebettet sein. Aber was heißt
                        das? Wie weit genau und gegen welche Staaten wird das
                        Anti-Terror-Netz ausgespannt werden?
                         Das sind keine Fragen, die vor allem einer individuellen
                        Gewissensprüfung unterliegen, die vor dem "inneren Gerichtshof"
                        jedes Abgeordneten entschieden werden. Sie sind Gegenstand
                        der politischen Vernunft und müssen in der Öffentlichkeit rational
                        erörtert werden. Das heißt aber auch: ohne Zwang.
                         Die Abstimmungstaktik der oppositionellen Bündnisgrünen
                        folgte dem Prinzip des "rational choice", sie hat alle
                        Identitätsgesichtspunkte beiseite gelassen. Sie hat
                        Glaubwürdigkeitsverlust in Kauf genommen, um
                        Bewegungsspielraum zu erhalten. Den gilt es jetzt für eine
                        grundsätzliche Auseinandersetzung mit Schröders
                        bedingungsloser Gefolgschaft zur Bush-Administration zu nutzen.
                        Sonst wird Schröder den Grünen gegenüber künftig nur eine
                        Umgangsform kennen - das Schlittenfahren.
                              
                        
Im Leitartikel des Berliner Tagesspiegel von Robert von Rimscha wird Bedauern darüber deutlich, dass die Bundesrepublik immer noch nicht ihre "Rolle in der Welt" gefunden habe.
                        
Der Tagesspiegel, 17. November 2001
                                
                                         
                              ...
                                        Rotgrün regiert weiter - die SPD gestärkt, die Grünen geschwächt, beide gezüchtigt. Das
                                        Mittel indes war ein Novum. Verfassungsrechtlich, weil diese vierte Vertrauensfrage die
                                        erste war, die mit einer Sachentscheidung gekoppelt wurde. Inhaltlich, weil Kosovo oder
                                        Mazedonien dieselben Risse im Regierungslager gezeigt haben, das Problem also alt
                                        war, nur die Lösung umso neuer. Politisch, weil Daumenschrauben noch nie so
                                        unverblümt eingesetzt wurden.
                                        Die Zerreißprobe der Grünen dauert an. Bewiesen hat die Partei nicht, dass sie vom
                                        Friedens-Zeltlager auf den Feldherrenhügel gewechselt ist, sondern dass sie beide
                                        Orte nicht mag. Inhaltlich ist das Ja der Grünen-minus-vier zur
                                        Bundeswehr-Bereitstellung nichts wert. Der Machterhalt hat gesiegt. Nicht über die
                                        Moral, die hat hier keiner gepachtet, sondern über Inhalte. Das Gebäude, das da aus der
                                        Kombifrage nach Vertrauen und Einsatz zusammen gezimmert wurde, kann morgen
                                        einstürzen. Oder in Rostock, beim Parteitag der Grünen. Denn deren Fraktion hat sich
                                        der Gnade der Basis ausgeliefert.
                                        Was die Sachfrage angeht, stand nur zur Debatte, ob jenseits der PDS eine Handvoll
                                        oder zwei Dutzend weitere Parlamentarier der Ansicht sind, dass der Krieg gegen die
                                        Taliban falsch war und der erst beginnende Kampf gegen den Terror falsch ist. Dennoch
                                        bleibt die Bereitstellung von bis zu 3900 Soldaten für ein ganzes Jahr und für Einsätze
                                        jenseits der Bündnisgebietes ein Meilenstein. Allerdings einer, dessen Bedeutung
                                        durch die Übermacht der Innenpolitik unzulässig geschmälert wurde.
                                        Jetzt also: Weiter so. Die Opposition kann's zufrieden sein. Die Union freut sich, dass
                                        miese Wirtschaftszahlen und noch kommende Bundeswehreinsätze zur Sicherung
                                        humanitärer Einsätze weiter an Rotgrün zehren werden. Die PDS jubiliert, weil ihr das
                                        pazifistische Podium überlassen wird. Die FDP muss sich noch ein wenig gedulden.
                                        Und Schröder selbst? Der Respekt vor seinem Mut schwand in dem Maße, in dem der
                                        Glaube zerstob, er gehe ein Risiko ein. Der Kanzler ließ eine Frage der Stärke, der
                                        Bestätigung, nicht der Schwäche und des in der Luft liegenden Wechsels stellen. Doch
                                        zwei Begründungen durfte man von ihm erwarten. Erstens: Wie kämpfen, nun, nachdem
                                        die Lage in Afghanistan sich so dramatisch und erfreulich gewendet hat? Zweitens:
                                        Weshalb weiter Rotgrün?
                                        Vor den Fraktionen mag der Kanzler überzeugt haben, im Bundestag war er erstaunlich
                                        fahrig, unkonkret und müde. Den Krieg begründete er mit Versatzstücken aus früheren
                                        Reden und defensiv; die Stichworte lauteten Notwendigkeit, Verantwortung, Pflicht. Zur
                                        zweiten Frage, der selbstgestellten nach der Koalition, fiel dem Kanzler nur das
                                        Stichwort Verlässlichkeit ein; er erwähnte weder den Partner noch die gemeinsamen
                                        Erfolge noch die anstehenden Projekte. Es waren andere, die Kraft in die Debatte
                                        trugen: Merz, Fischer und Westerwelle. Im Vortrag des Unions-Fraktionschefs fand sich
                                        ein Satz, der stehen bleiben wird: "Sie haben die Grundfragen der Wehrhaftigkeit dieser
                                        Demokratie nie ehrlich geklärt."
                                        Dies ist der berechtigte Hinweis auf das grundlegendste Versäumnis der Regierung,
                                        wenn es um Deutschlands Rolle in der Welt geht. Allerdings zielt der Vorwurf über
                                        Rotgrün hinaus. Diese Gesellschaft hat sich noch nicht zu einer aus Überzeugung
                                        getragenen Position vorgearbeitet, wenn immer es um bewaffnete Einsätze geht.
                                        Schröder selbst fand den Ausdruck für die Ambivalenz der Republik. Was der Bundestag
                                        getan habe, sei eine "epochale Entscheidung, wenn man so will". Wollen wir? Will
                                        Schröder? Am 7. Oktober begann der Krieg gegen den Terror. Alle sagen, er werde
                                        Jahre dauern. Heute ist der 17. November. 
                                        
                                        
                                        
Im Nachbarland Österreich wird die deutsche Diskussion aufmerksam verfolgt. Im Wiener "Standard" wirft Gerhard Plott einige kritische Frage auf:
Der Standard (Wien), 17. November 2001
     Gerhard Schröder ist kein Mann, dem man ein gestörtes Verhältnis zur Machtausübung unterstellen darf. Zielstrebig - unter
     Verwendung von Zuckerbrot und Peitsche bis zum politischen Elektroschock - hat er Deutschlands internationale Bündnisfähigkeit
     erzwungen. Mit der ihm eigenen Brachialität verknüpfte Schröder die Zustimmung des Bundestages und seines grünen
     Koalitionspartners zu deutschen Militäreinsätzen im Ausland mit der Vertrauensfrage im Parlament und gewann fürs Erste knapp.
     Die Bundesrepublik soll künftig weder teilungs- noch geschichtsbedingt eine weltpolitische Sonderrolle einnehmen, die organisierte
     Verantwortungslosigkeit der Deutschen soll ein Ende haben. 
     Das in Europa fest integrierte Deutschland wird jetzt endlich normal, meinen Optimisten, es dürfe jetzt kein Zurück mehr zu
     Isolationismus und Scheckbucheinsatz geben. Pessimisten hingegen sehen germanische Kämpfer wieder hurra-patriotisch an
     diversen vordersten Fronten, wobei Gerhard Schröder offenbar den Tambourmajor von US-Präsident George W. Bush geben will.
     Nun würden die Deutschen wieder ihre Pflicht erfüllen.
     Schröder selbst hatte leichtes Spiel, er handelte aus einer Win-Win-Position heraus, er konnte nicht verlieren. Hätten sich die
     Grünen quer gelegt und dem Regierungschef das Misstrauen ausgesprochen, hätte Schröder, ohne mit der Wimper zu zucken, die
     Koalition für beendet erklärt und Neuwahlen ausgeschrieben. Angesichts ausgezeichneter Umfragewerte, einer maroden
     christdemokratischen Opposition und der deutschen Eigenheit, sich in Krisenzeiten stramm hinter einer Führungsperson zu
     versammeln, wäre Schröder ein überzeugender Wahlsieg sicher. 
     Für die Grünen bliebe es hingegen mehr als fraglich, ob sie im Fall von Neuwahlen einen neuerlichen Sprung ins Parlament
     überhaupt schaffen würden. Deshalb wird es sich auch die bekannt sprunghafte grüne Basis auf den kommenden Parteitagen gut
     überlegen, die rot-grüne Koalition aufs Spiel zu setzen. 
     Macht tut eben gut, auch den Grünen. Trotzdem dürfen sich die Frauen und Männer um Politstar Joschka Fischer nicht zu früh
     freuen, Schröder wird die Grünen weiterhin würgen, bis sie blau sind. Ausgesprochenes Vertrauen ist zwar gut, Kontrolle ist aber
     besser, das weiß Schröder von einem Herrn namens Wladimir Iljitsch Uljanow - besser unter dem Pseudonym Lenin bekannt. 
     Die Grünen werden auch weiterhin an Schröders kontrollierender Kandare gehen, sie sind und bleiben in seinen
     sozialdemokratischen Augen unsichere Kantonisten. Schon in seiner Zeit als Regierungschef in Niedersachsen ließ Schröder
     seine grünen Partner über die Klinge springen, sobald er auf (minimale) eigene Mehrheiten zurückgreifen konnte. Wie vertrauensvoll
     kann eine Koalition jetzt noch zusammenarbeiten, in der der Seniorpartner dem Junior permanent die Pistole an die Brust setzt?
...
     Die Aufgabe der Grünen wäre es gewesen, die Zustimmung zum Krieg nicht von nebulosen Nebensächlichkeiten abhängig zu
     machen - dafür ist es längst zu spät, die militärische Logik regiert bereits. 
     Die entscheidende Frage wird bestehen bleiben: Wie sehr, in welchen Umfang und wie "bedingungslos" muss europäische
     Unterstützung für die USA sein? Ist Kritik an Vorgangsweisen zulässig oder werden gegenteilige Meinungen schon als Teil eines
     terroristischen Aktes verstanden? Der erzwungene Blankoscheck am Scheideweg entmündigt zumindest das deutsche Parlament
     in einer Existenzfrage Europas und beschleunigt, nebenbei, das Ende der Grünen. 
Die konservative Neue Zürcher Zeitung attestiert den Grünen einen Reifeprozess in Sachen Bellizismus.
 
Neue Zürcher Zeitung, 17. November 2001
          
                                         Friedrich Merz, der Vorsitzende der
                                         CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, dürfte sich am
                                         Freitag mit seiner Prognose über das politische
                                         Schicksal von Bundeskanzler Schröder getäuscht
                                         haben. Was immer das Ergebnis der vom Kanzler
                                         gestellten Vertrauensfrage sein werde - so
                                         argumentierte Merz -, diese Abstimmung bedeute
                                         den Anfang vom Ende der Regierung Schröder.
                                         Ausdrücklich verwies der CDU-Politiker auf das
                                         Beispiel des früheren SPD-Bundeskanzlers Helmut
                                         Schmidt. Dieser hatte im Frühjahr 1982 ebenfalls die
                                         Vertrauensfrage gestellt, mit dem Zweck, die
                                         zerstrittenen Reihen der damaligen
                                         SPD/FDP-Koalition wieder sichtbar hinter sich zu
                                         scharen. Das war ihm zwar gelungen, doch schon
                                         ein paar Monate später brach Schmidts
                                         Regierungsbündnis vollends auseinander.
                                          Die von Merz bemühte Parallele zwischen der
                                         Situation Schmidts und der heutigen Position
                                         Schröders ist indessen nicht überzeugend - ganz
                                         abgesehen von den in mancher Hinsicht sehr
                                         unterschiedlichen Persönlichkeiten der beiden
                                         SPD-Regierungschefs. Denn selbst wenn Schröder
                                         die Vertrauensabstimmung vom Freitag verloren
                                         hätte und es in einigen Wochen zu vorgezogenen
                                         Neuwahlen gekommen wäre, so hätte er nach
                                         heutiger Lage der Dinge gute Chancen, als Sieger
                                         aus dieser Wahl hervorzugehen und eine neue
                                         Regierung zu bilden - sei es mit den Grünen oder
                                         mit der FDP. Den Wahlkampf hätte er übrigens mit
                                         dem starken Amtsbonus des Bundeskanzlers
                                         bestreiten können. Diesen Vorteil hatte Schröders
                                         SPD-Vorgänger Schmidt vor 19 Jahren nicht, weil
                                         damals der Koalitionspartner FDP mit seinem 
                                         «fliegenden Wechsel» ins Unionslager Schmidts
                                         sofortigen Abgang erzwang.
                                         Im Vergleich zu Schmidts Regierungsbündnis Anfang
                                         der achtziger Jahre scheint Schröders rot-grüne
                                         Koalition heute doch um einiges besser intakt zu
                                         sein. Damals war die Kanzlerpartei SPD in der
                                         sogenannten Nachrüstungsfrage - es ging um die
                                         Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen
                                         in Europa, falls die Sowjetunion ihre bereits
                                         aufgestellten Waffen gleicher Reichweite nicht
                                         vernichten sollte - hoffnungslos zerstritten. Diese
                                         Zerstrittenheit war auch der zentrale Grund für
                                         Schmidts vorzeitigen Sturz. In der Folge mussten
                                         die deutschen Sozialdemokraten 16 lange Jahre auf
                                         den harten Oppositionsbänken ausharren. Bei allem
                                         Murren über manche Richtungsentscheidung
                                         Schröders haben sich viele Akteure auf dem linken
                                         SPD-Flügel diese bittere Erfahrung offenbar hinter
                                         die Ohren geschrieben.
                                         Mit seiner Vertrauensfrage hat der Kanzler die
                                         disziplinierende Wirkung dieser Einsicht geschickt
                                         genutzt. Er hat mit diesem Manöver vorläufig auch
                                         die innerlich weit stärker gespaltenen Grünen
                                         wieder unter das Joch des gemeinsamen
                                         Regierungserhalts gezwungen. Mancher
                                         hartgesottene pazifistische Fundamentalist in den
                                         grünen Reihen, der offenbar glaubt, das
                                         Taliban-Regime und seine terroristischen Ausläufer
                                         liessen sich allein mit zivilen Mitteln ausschalten, hat
                                         sich dieser Übung nur zähneknirschend gebeugt.
                                         Doch wer bei der Abstimmungsdebatte im
                                         Bundestag der Rede etwa der grünen
                                         Fraktionsführerin, Kerstin Müller, zugehört hat,
                                         muss einräumen, dass auch in dieser Partei gerade
                                         beim Thema Militär und Friedenspolitik ein
                                         beachtlicher Denk- und Differenzierungsprozess
                                         stattgefunden hat.
                                         Mit Aussenminister Fischer hat Schröder ausserdem
                                         einen Koalitionspartner an seiner Seite, der mit
                                         seinen engagierten Auftritten keinen Zweifel daran
                                         lässt, dass er mit Herzblut und Überzeugung zur
                                         Fortsetzung dieses Regierungsbündnisses steht.
                                         Fischer war es auch, der am Freitag der CDU/CSU
                                         am effektvollsten ihre eigenen Schwächen und
                                         Widersprüche vorrechnete. In Wirklichkeit hätten
                                         die Unionsparteien doch Stossgebete gen Himmel
                                         geschickt, dass Schröder mit der Vertrauensfrage
                                         nicht scheitern und es nicht zu vorzeitigen
                                         Neuwahlen kommen werde. ...
                                         
                                         
Rudolf Augstein, der alte Mann des kritischen Magazin-Journalismus geht in der SPIEGEL-Ausgabe 47 vom 19. November 2001 mit Schröders atlantischer Politik ins Gericht.Gleichzeitig fällt er ein vernichtendes Urteil über den US-Krieg in Afghanistan. Auszüge daraus:
Die Amerikaner haben ein hungerndes Land in Grund und Boden 
gebombt. Ihre Pläne zur Terrorismusbekämpfung sind ein 
Abenteuer. Deutschland muß seine Beziehung zu den Vereinigten 
Staaten überdenken. 
Gerade mal zwei Stimmen über den Durst. Und doch: Riskant war 
es wohl kaum, dass Gerhard Schröder im Parlament die 
Vertrauensfrage gestellt hat. Er wusste, was er tat, und hat für die 
Stimmen in seiner Koalition bis zuletzt redlich gerackert. Wer weiß 
- vielleicht wäre ihm eine Niederlage bei der Abstimmung im 
Bundestag noch lieber gewesen. Die anschließende Wahl hätte er 
haushoch gewonnen und sich einen Koalitionspartner aussuchen 
können. 
...
Die Amerikaner haben ein armes, hungerndes Land in Grund und 
Boden gebombt und dabei jede Verhältnismäßigkeit missen 
lassen. Man täusche sich nicht: Die militärischen Erfolge der 
Nordallianz sind für den Westen Pyrrhussiege. In Kabul herrschen 
jetzt wieder die Stammesführer, die Afghanistan schon einmal in 
den Abgrund getrieben haben. Nicht gerade Bundesgenossen, die 
man sich wünscht. 
...
Die Taliban sind ohne Zweifel widerwärtige, fanatische 
Gotteskrieger. Doch sie sind auch hervorragende Guerrillakämpfer. 
Sie hatten schon vor ihrer Flucht vorsichtshalber angekündigt, 
wenn man sie aus den Städten vertriebe, würden sie sich in ihre 
bergigen Verstecke zurückziehen. Einen solchen Guerrillakampf 
hat die riesige Sowjetmacht schmählich verloren. Man darf 
gespannt sein, mit welch hochgezüchteten neuen Waffen die 
Amerikaner versuchen, diesen Krieg zu gewinnen. Und man darf 
skeptisch sein, ob ihnen das gelingt. 
Deutschland muss seine Beziehungen zu den Vereinigten Staaten 
überdenken, solange der US-Präsident Bush an seiner arroganten 
Parole festhält: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns." Diesmal 
haben sich Schröder und sein Außenminister, mehr willig als 
unwillig, überrollen lassen. Aber es drängt sich dann doch die 
Frage auf, warum wir im vorauseilenden Gehorsam Pläne der US-
Regierung mittragen sollen, die wir nicht kennen und auf die wir 
keinen Einfluss nehmen dürfen. Es geht dabei wohlgemerkt nicht 
um die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und 
Amerika, die über lange Jahre gewachsen sind und ganz 
unabhängig von der großen Politik gedeihen. 
... Washingtons Art, den Terror weltweit und weitgehend 
ohne Berücksichtigung seiner Wurzeln zu bekämpfen, wird zu 
noch mehr Terror führen. Die Nato ist weder dazu da noch in der 
Lage, Terroristen auf den Philippinen oder irgendwo im Nahen 
Osten aufzuspüren. 
Im Golfkrieg waren die Interessen der Amerikaner so unmittelbar 
und tief berührt, dass sie mit oder ohne Bundesgenossen 
eingreifen mussten. Es ging ums Erdöl. Womöglich geht es auch 
bei dem jetzigen Krieg um strategische Interessen, um neue 
Pipelines durch Afghanistan. 
Dass Usbekistan und Tadschikistan, die neuen US-Verbündeten, 
Menschenrechte massiv verletzen, kümmert in Washington keinen. 
So wenig wie die Leiden der irakischen Zivilbevölkerung. Die 
Amerikaner haben den Diktator Saddam Hussein, den sie früher 
gegen Teheran aufrüsteten, ja absichtlich als geschwächten 
Politiker weiter an der Macht gelassen. 
In Washington wird jetzt hinter den Kulissen heftig gerungen: Eine 
Fraktion um den Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz 
möchte am liebsten gegen Bagdad losschlagen. Aber selbst 
Wolfowitz weiß nicht, ob es nach einem möglichen Sturz Saddams 
nicht noch schlimmer kommen würde. Auch in Kabul ist keinesfalls 
sicher, dass durch den Sieg der Nordallianz eine langfristige 
Verbesserung für die Lebensumstände der leidenden Bevölkerung 
erreicht wird. Zwischen den triumphierenden Stammeskriegern und 
marodierenden Räuberbanden ist der Unterschied nicht allzu groß. 
...
                                         
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