Ein Tabu fällt - Die deutsche Außenpolitik entdeckt ihren militärischen Arm
Ein Beitrag von Reinhard Mutz (IFSH) im Friedensgutachten 2002
Am 6. Juni 2002 legten die fünf großen Friedensforschungsinstitute ihr Friedensgutachten 2002 vor. Darin befindet sich eine Reihe höchst lesenswerter Einzelanalysen, aus denen wir im Folgenden eine herausgreifen, sich sich mit den Veränderungen der deutschen Außenpolitik beschäftigt. Der Autor, Dr. Reinhard Mutz, stellv. Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), hat sich mit seinen ebenso fundierten wie prononciert kritischen Analysen der weltpolitischen Entwicklung und des spezifischen deutschen Anteils daran einen guten Ruf in der friedenswissenschaftlichen Fachwelt und in der Friedensbewegung erworben. Auch diesmal dreht sich seine Analyse um den Kern der politischen Auseinandersetzung: Soll bzw. darf Deutschland das Militär (wieder) als "normales" Instrument der Außenpolitik betrachten? 
Wir wollen uns aus Platzgründen auf jene Passagen konzentrieren, die sich mit dem Kanzler-Wort von der "Enttabuisierung des Militärischen" befassen und - aus aktuellem Anlass - auf den drohenden US-Krieg gegen Irak eingehen. Der erste, hier nicht wiedergegebene Teil befasst sich noch einmal retrospektiv mit der Bundestagsentscheidung vom 16. November 2001, womit Deutschland dem US-Krieg "Enduring Freedom" beigetreten ist.
Die Frankfurter Rundschau veröffentlichte am 7. Juni 2002 auf ihrer Dokumentationsseite eine von R. Mutz eigens dafür überarbeitete Fassung seines Beitrags aus dem Friedensgutachten.
Ein Tabu fällt - Die deutsche Außenpolitik entdeckt ihren militärischen Arm    
Von Reinhard Mutz
...
Der
                   7. Oktober 2001 war der erste Kriegstag in Afghanistan. Um dieses Datum herum
                   dürfte den Partnern Washingtons bedeutet worden sein, welchen Solidaritätsbeitrag
                   man von ihnen erwartete. In der Bundesrepublik war das innenpolitische Kräftefeld
                   auf die anstehende Entscheidung einzustimmen. Gerhard Schröder nutzte dafür die
                   Foren der Regierungserklärung (11. Oktober) und des gezielten Presseinterviews
                   (18. Oktober, mit der Wochenzeitung Die Zeit). Beide Male ging es ihm darum, den
                   präzedenzlosen Bundeswehreinsatz in einen neu justierten Bezugsrahmen
                   deutscher Außenpolitik einzupassen. "Enttabuisierung des Militärischen" lautete
                   die Schlüsselbotschaft: "Es geht ja nicht darum, dem Militärischen einen
                   unverdienten Raum zu geben, sondern diesen Aspekt der Außenpolitik nicht zu
                   tabuisieren, was lange gemacht wurde." 
                   Welche neue Maxime wird hier verkündet, welche alte revidiert? Alles andere als
                   neu ist das Vokabular, das der Kanzler bemüht. Die wiedererlangte Souveränität,
                   die gewachsene politische Verantwortung, die nötige Anpassung an "normale"
                   internationale Herausforderungen sind Formeln, die sich im zurückliegenden
                   Jahrzehnt der Debatte um Auslandseinsätze der Bundeswehr hinlänglich
                   verschlissen haben. Gemeinsam ist ihnen, dass sie keine in sich stimmigen
                   Begründungen liefern, warum ausgerechnet auf militärischem Gebiet ein stärkeres
                   deutsches Engagement geboten sei. Überdies entstammen sie nicht dem
                   Programmfundus der gegenwärtigen Koalitionsparteien. Zu den Erklärungen, mit
                   denen Sozialdemokraten und Grüne vor vier Jahren den Wahlkampf bestritten und
                   ihr Regierungsbündnis besiegelten, stehen sie in offenem Gegensatz.
                   Neu an den Einlassungen des Bundeskanzlers sind zwei Argumente für "ein
                   weiterentwickeltes Verständnis deutscher Außenpolitik". Zum einen gilt die
                   Zusage, "auch militärisch für Sicherheit zu sorgen", als "Bekenntnis zu
                   Deutschlands Allianzen und Partnerschaften". Die Bereitschaft klingt an,
                   konformes Verhalten gegebenenfalls wider bessere Einsicht zu üben. Zum anderen
                   liege der aktive Solidaritätsbeweis im "nationalen Interesse Deutschlands". Was
                   Schröder selbst als nationales Interesse umschreibt, hält jeder kritischen
                   Nachfrage stand: die Sicherheit der Bevölkerung und ein Leben nach eigenen
                   Vorstellungen. Sein Verteidigungsminister setzt den Akzent schon ganz anders. In
                   der parlamentarischen Aussprache über die besagte Regierungserklärung zur
                   Afghanistan-Intervention besteht Scharping auf einem "umfassenden" Begriff der
                   Sicherheit: "Wir wissen doch alle, dass zum Beispiel die weltwirtschaftliche
                   Stabilität und die weltwirtschaftliche Sicherheit von dieser Region stark beeinflusst
                   werden können, von jener Region, in der 70 Prozent der Erdölreserven des Globus
                   und 40 Prozent der Erdgasreserven des Globus liegen."
                   Normalität kommt von Norm. Die Außenpolitik der Bundesrepublik hat ihr
                   normatives Fundament im Grundgesetz und darüber hinaus im Normenkonsens
                   des internationalen Rechts wie es sich z.B. niederschlägt in der Charta der
                   Vereinten Nationen, aber auch im Nordatlantikvertrag. Alle drei verbieten die
                   Anwendung militärischer Gewalt, außer in eng definierten Ausnahmefällen.
                   Enttabuisierung des Militärischen, zumal unter Berufung auf nationale Interessen,
                   kann nur bedeuten, das Verhältnis von Regel und Ausnahme umzukehren. Für
                   einen Vorgang dieser Schwere steht das alarmistische Etikett des Tabubruchs zu
                   Recht. Intervention würde zum Alltagsgeschäft der Bundeswehr und Krieg wieder
                   zum Mittel der Politik. 
...
                   Spätestens die 
Kongressbotschaft Präsident Bushs vom 29. Januar rückte den Irak in das Fadenkreuz Washingtons. Die Fülle interpretierender Erklärungen schuf Gewissheit, dass der "Regimewechsel" in Bagdad, die gewaltsame Entmachtung
                   Saddam Husseins, nicht länger eine erwogene Option, sondern ein gefasster
                   Vorsatz ist. Diplomatische Sondierungen und logistische Vorbereitungen sind
                   angelaufen. Wie steht dazu die Regierung in Berlin? Mitte März hat sie sich
                   festgelegt: Die Bundesrepublik werde an einem amerikanischen Alleingang nicht
                   teilnehmen, sich aber ebenso wenig aus der Krisenregion zurückziehen. Im
                   Kriegsfall kämen die Spürpanzer zum Einsatz, wegen der sonst, so Schröder,
                   "unabsehbaren Folgen für das deutsch-amerikanische Verhältnis". Beteiligung trotz
                   Nichtbeteiligung - wiederum ist zu fragen, um welche Art Krieg es geht. 
                   Vordergründig streiten Washington und Bagdad um die Kontrollkommission, die
                   nach dem Golfkrieg 1991 durch die Vereinten Nationen eingesetzt worden war, um
                   die dem Irak erteilten Entwaffnungsauflagen vor Ort zu überwachen. Im Dezember
                   1998 eskalierte der Konflikt erneut zum Krieg. Vier Tage lang lag das Land unter
                   Beschuss amerikanischer und britischer Kampfbomber. Ihre Waffeninspekteure
                   hatte die UNO noch rechtzeitig abgezogen. Bagdad ließ sie anschließend nicht
                   wieder einreisen. Seitdem gibt es keine internationale Rüstungskontrollpräsenz
                   mehr im Irak. Wenn die amerikanische von der irakischen Führung verlangt, die
                   Inspektionsteams ihre Arbeit wieder aufnehmen zu lassen, so befindet sie sich im
                   Recht. Zwar hatte die Kommission in den letzten Jahren ihrer Tätigkeit keine
                   schwerwiegenden Verstöße des Irak gegen eingegangene Verpflichtungen mehr
                   registriert, aber ebenso wenig hat sie die vollständige Erfüllung aller Auflagen
                   förmlich festgestellt. 
                   Nach eigenen Angaben verfügt der Irak weder über Massenvernichtungswaffen noch
                   plant er deren Herstellung. Gegenteilige Informationen aus neutraler Quelle liegen
                   nicht vor. Die Auskünfte von Experten lauten heute sehr ähnlich wie 1998: Man
                   habe zwar keinen Anhalt für derartige Aktivitäten, könne sie aber auch nicht
                   ausschließen. Eingestandenermaßen hat das Land bis 1991 chemische
                   Kampfstoffe besessen. Ingenieurwissen lässt sich nicht löschen. Zudem erfordert
                   die Herstellung von C-Waffen keinen übermäßig hohen technischen Aufwand. Seit
                   Jahren beziffert das amerikanische Verteidigungsministerium die Zahl der Staaten
                   auf über 25, die Massenvernichtungswaffen samt zugehöriger Trägermittel
                   entwickeln können. Ob tatsächlich einer oder mehrere von ihnen solche Vorhaben
                   betreiben, könnten nur Vor-Ort-Überprüfungen nachweisen. 
                   Länger als die amerikanische nimmt sich die irakische Beschwerdeliste aus. An
                   der Spitze steht das umfassende Handels- und Finanzembargo, dem das Land seit
                   nunmehr zwölf Jahren unterliegt. Es wird für den Verfall der Wirtschaft und die
                   wachsende Verelendung der Bevölkerung verantwortlich gemacht. Auch in den
                   Augen westlicher Beobachter verliert die Behauptung irakischer Verstöße gegen
                   Abrüstungspflichten zur Begründung der ökonomischen Abschnürung an
                   Überzeugungskraft. Bagdad nutzt den Hebel der Inspektionsverweigerung, um das
                   Thema der Sanktionen auf die politische Tagesordnung zu setzen. Wann und unter
                   welchen Bedingungen ein Ende der internationalen Ächtung in Aussicht steht,
                   würde auch jede andere irakische Regierung interessieren. Solange die
                   Entscheidung jedoch allein von Washington abhängt, wird der Saddam Husseins
                   Propaganda dienliche Eindruck aufrechterhalten: Ein Ende der Sanktionen steht
                   überhaupt nicht in Aussicht, das Land bleibt stranguliert, gleichviel was es tut oder
                   lässt. 
                   Tatsächlich waren 1991 die Abrüstungsauflagen an den Irak nicht auf Dauer als
                   exklusive Vertragspflichten eines einzelnen Staates gedacht. Vielmehr sollten sie
                   Schritte darstellen auf das langfristige Ziel "einer ausgewogenen und umfassenden
                   Kontrolle der Rüstungen in der Region" (UN-Resolution 687). Regionale
                   Rüstungskontrolle fand jedoch im Mittleren Osten nie statt. Gerade die USA haben
                   sie schon im Ansatz unterlaufen, indem sie ihre Militärpräsenz aus den Tagen des
                   Golfkrieges beibehielten und ausbauten zu einem umfassenden Stützpunktsystem
                   rund um die Arabische Halbinsel. Von dort aus attackieren sie periodisch den
                   irakischen Kontrahenten. Die zu Routine gewordenen Luftangriffe auf militärische
                   Einrichtungen bilden den gravierendsten Kritikpunkt Bagdads an Washington.
                   Allein 1999 trafen 1.000 Raketen mehr als 300 Ziele im Irak. Keine rechtliche
                   Legitimierung deckt das selbstherrliche Vorgehen, kein politischer Protest
                   behindert es. 
                   So wie Ariel Scharon das Überleben Yassir Arafats im Libanon-Krieg bedauert,
                   beklagt das politische Washington, Saddam Hussein im Golfkrieg nicht beseitigt
                   oder wenigstens zum Amtsverzicht gezwungen zu haben. Das Versäumte jetzt
                   nachzuholen wäre eine späte Bestrafung, aber kein Beitrag zum "Krieg gegen den
                   Terror". Im Irak sitzen die Islamisten bekanntlich nicht an den Hebeln der Macht,
                   sondern im Gefängnis oder im Exil. Das Regime steht nicht in dem Ruf, fanatische
                   Fundamentalisten zu hofieren. Die heimtückischen Anthrax-Anschläge in den
                   Vereinigten Staaten vom vergangenen Herbst, die anfangs für antiirakische
                   Verdächtigungen herhalten konnten, werden ihm nicht mehr zugeschrieben.
                   Folglich fehlt es an Gründen, ein bewaffnetes Vorgehen gegen den widerspenstigen
                   Ölstaat zur Terrorismus-Vorsorge zu stilisieren. 
... Zwischen Solidaritätsreflexen und Skrupeln hin- und hergerissen,
                   reagiert Europa gewohnt vielstimmig und unentschieden. Der gemeinsame Nenner
                   ist der kleinlaute Vorschlag, Saddam Hussein auf diplomatischem Weg die
                   Wiederzulassung von Inspektoren abzuringen. Wer so argumentiert, gibt sich
                   naiver als es die Umstände erlauben. Erstens besteht das Irak-Problem aus mehr
                   als diesem einen Aspekt. Zweitens klingt die Versicherung Bagdads glaubhaft,
                   über Waffenkontrollen allein nicht mehr zu verhandeln. Drittens wird sich der Mann
                   im Weißen Haus, wenn er beschlossen hat, den Widersacher loszuwerden, mit
                   weniger nicht zufrieden geben. Europas Rolle hätte eine andere zu sein. Gefragt ist
                   der Umriss eines politischen Konzepts, das mehr bietet als Stückwerklösungen. 
                   Je mehr die Weltpolitik zu ihrer alten Agenda zurückkehrt, desto schärfer treten die
                   Themen hervor, zu denen beiderseits des Atlantiks unterschiedliche bis
                   gegensätzliche Standpunkte bestehen: Entwicklungshilfe, Klimaschutz,
                   UN-Haushalt, Strafgerichtshof, Kinderrechtskonvention, Teststopp, Raketenabwehr,
                   nuklearer Ersteinsatz, C-Waffen, Biowaffen, Kleinwaffen, Personenminen. Die Liste
                   war schon vor dem 11. September lang, sie ist danach nicht kürzer geworden.
                   Jenseits sachlicher Differenzen illustriert sie die Kluft zwischen außenpolitischen
                   Stilen, Methoden und Instrumenten, gegen die Überzeugungsarbeit schwer
                   aufkommen wird. Denn es wäre ja nicht damit getan, einen Präsidenten und seine
                   wichtigsten Helfer umzustimmen, wenn die Mehrheiten im Kongress und die
                   Meinungen in der Bevölkerung bleiben wie sie sind. Deshalb ist an dem in Berlin
                   beliebten Satz, souveräne amerikanische Entscheidungen habe man nicht zu
                   kritisieren, solange wenig auszusetzen, wie er nicht als Aufruf gelesen wird, sich
                   ihnen zu unterwerfen. 
                   Die Bundesrepublik teilt mit ihren europäischen Partnern Ressourcen und
                   Kompetenzen, an denen weltweit Mangel herrscht. Sie betreffen das
                   Aufgabenspektrum ziviler Konfliktregulierung und Krisenprävention. Sich ihrem
                   Ausbau zu verschreiben, verspricht größeren Nutzen als ein kostspieliger
                   Rüstungswettbewerb mit der Bündnisvormacht um Fähigkeiten, die schon im
                   Übermaß vorhanden sind. Selbst wenn das hohe Ziel, Europa möge mit einer
                   Stimme sprechen und im Gleichklang handeln, auch künftig immer wieder verfehlt
                   werden wird, sind die einzelnen Staaten nicht zur Untätigkeit verurteilt. Die
                   Konferenz auf dem Petersberg abzuhalten, die afghanische Polizei aufzubauen und
                   die Stammesversammlung in Kabul auszurichten sind Beispiele für Initiativen, die
                   keiner multinationalen Einbettung bedurften. 
                   Dass Waffenmacht auch zur Unterstützung nationaler Interessen oder zur
                   Unterstützung der Interessen Verbündeter eingesetzt werden darf, ist eine
                   Auffassung, deren Anhängerschaft wächst. Für eine Außenpolitik, die den
                   Anspruch er hebt, Friedenspolitik zu sein, verbieten sich solche Erwägungen von
                   selbst. ...
Quelle: Friedensgutachten 2002, herausgegeben von Bruno Schoch, Corinna Hauswedell, Christoph Weller, Ulrich Ratsch und Reinhard Mutz; LIT Verlag, Münster-Hamburg 2002, S. 105 ff
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