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Entschlossene Weltpolitik

Deutschland hat den Umsturz in der Ukraine massiv befördert und warnt nun vor einer Sezession des Landes – um die Schwarzmeerküste Rußlands Einflußsphäre zu entziehen

Von Jörg Kronauer *

So schnell kann’s gehen. Da hat man sich jahrelang von den deutschen Mainstreammedien eintrichtern lassen müssen, die inhaftierte ukrainische Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko sei ein unschuldiger Engel, und kaum kommt sie aus der Haft frei, da hört man das Gegenteil. Kritiker würfen ihr »dubiose Geschäfte« vor und hielten sie für »opportunistisch und skrupellos«, hat das ZDF überraschend erfahren. Die Süddeutsche enthüllt, Timoschenko sei »als Teil einer dubiosen Wirtschafts- und Machtelite selbst belastet«. Die Welt hat gleich einen ganz schlimmen Verdacht: Timoschenko sei »wie Janukowitsch – nur hübscher und mit Zopf«. Nicht, daß man das alles nicht schon längst hätte wissen können, wenn man es denn wissen wollte. Warum aber wird auf einmal das Publikum der deutschen Mainstreammedien für würdig befunden, umfassend über die oligarchische Karriere der »Gasprinzessin« informiert zu werden?

Der Machtkampf um die Ukraine ist, das pfeifen inzwischen die Spatzen von allen Dächern, nicht an letzter Stelle ein Testlauf für die neue deutsche Außenpolitik. Bundespräsident Joachim Gauck hat in seinen Reden zum Nationalfeiertag 2013 und zur Münchner Sicherheitskonferenz 2014 gefordert, Deutschland müsse »entschlossener« Weltpolitik betreiben, um den globalen »Ordnungsrahmen … zu erhalten und zu formen«. Ein Grundsatzpapier, das rund 50 Personen aus dem außenpolitischen Establishment – darunter mehrere Journalisten – nach einjähriger Arbeit im Oktober publizierten, fordert eine »Neuvermessung« der deutschen Weltpolitik. Viel ist in diesem Zusammenhang von den bevorstehenden Militäreinsätzen in afrikanischen Staaten die Rede. Die deutschen Aktivitäten in Kiew zeigen nun, daß die neue deutsche Außenpolitik auch eine nichtmilitärische Komponente hat. Der deutsche Außenminister setzt die Agenda in der Ukraine; Frank-Walter Steinmeier – und nicht die EU-Chefdiplomatin Lady Ashton! – vermittelt ein Abkommen zwischen Regierung und Opposition. Berlin gibt seinen Segen, als die Opposition tags drauf das Abkommen bricht und per Umsturz die Macht an sich reißt. Und was pfeifen die Spatzen? »Die Ukraine hat gezeigt, was deutsche Diplomatie erreichen kann, wenn sie selbstbewußt auftritt«, jubelt der Tagesspiegel. Und: »Endlich kann man sich vorstellen, was sich die Große Koalition unter einer ›aktiveren deutschen Rolle in der Welt‹ vorstellt.«

Allerdings: »Wer deutschen Interessen in der Welt mehr Gewicht geben will, muß auch mehr riskieren«, warnt das Blatt. Eines der Risiken, mit denen die Berliner Ukraine-Politik spielt, ist die steigende Spannung zwischen dem an Rußland orientierten und dem antirussischen Teil des Landes. Manche malen eine drohende Spaltung der Ukraine an die Wand; auf der Krim ist bereits von einer Sezession die Rede. Die Bundesrepublik Deutschland, die Jugoslawien einst zum »Vielvölkerstaat« erklärte und – auf der Grundlage deutscher Ethnopolitik – seine Zerschlagung vorantrieb, will das Spaltungsszenario in der Ukraine nicht wiederholen. Die künftige ukrainische Regierung müsse auch auf den – russisch geprägten – Osten und Süden des Landes Rücksicht nehmen, teilte Kanzlerin Merkel am Montag mit. Ganz ähnlich hatte Berlin schon 2004 Stellung bezogen, als erstmals Spaltungsgerüchte aufkamen. Die Gründe liegen auf der Hand. Zum einen bekäme die EU mit der Westukraine nur die ökonomisch schwächste Region des Landes. Zum anderen würde die Schwarzmeerküste Teil der Einflußsphäre Rußlands. Daß genau dies nicht geschehen soll, konnte man schon 1997 in Zbigniew Brzezinskis »The Grand Chessboard« (deutscher Titel: »Die einzige Weltmacht«) nachlesen. Könne Moskau »die Herrschaft über die Ukraine« und damit den »Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen«, dann könne es wieder »ein mächtiges Reich« werden, schrieb der einflußreiche US-Außenpolitiker. In der Tat – mit Moskaus Einfluß auf die Küste steht und fällt nicht zuletzt die Möglichkeit für die russische Schwarzmeerflotte, sich im geostrategisch bedeutenden Schwarzen Meer gegen den Westen auf Dauer zu behaupten.

Der Westen ist im Schwarzen Meer bislang vor allem in Form der NATO präsent: über die NATO-Anrainerstaaten Türkei, Bulgarien und Rumänien sowie vor allem über Militärmanöver, an denen immer wieder auch ukrainische Soldaten teilnehmen. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat sich während des aktuellen Konflikts durchaus zu Wort gemeldet. Nach dem Umsturz vom Samstag erklärte er, die NATO könne »bereit sein, ihre Beziehungen zur Ukraine zu intensivieren«. Nun hat Berlin erst 2008 den NATO-Beitritt der Ukraine blockiert. Auf einen Kurswechsel deutet nichts hin. Im Gegenteil: Kommentatoren wie Stefan Kornelius (Süddeutsche), der laut einer Studie des Leipziger Medienwissenschaftlers Uwe Krüger aufs engste mit dem außenpolitischen Establishment der BRD vernetzt ist, bestehen hartnäckig darauf, mit der Ukraine habe »die EU« – und nicht etwa die NATO – »ein gewaltiges Entwicklungsprojekt geerbt«. Das entspricht der deutschen Auffassung von der neuen transatlantischen Arbeitsteilung, wonach die USA ihren Schwenk nach Asien vollziehen und weite Teile des westlichen Interessengebiets – nicht nur in Afrika! – ihrem Juniorpartner EU anvertrauen, der nun seinerseits unter deutscher Führung durchaus eigenständige Herrschaftsgelüste entfaltet.

Das wiederum bestätigen die geleakten Mitschnitte von Telefonaten der US-Diplomatin Victoria Nuland und der deutschen Diplomatin Helga Schmid. Sie zeigen: Die Deutsche besteht nicht nur darauf, die EU solle in der Ukraine eigenständig operieren. Es gibt darüber hinaus einen handfesten Streit um Personalien. Berlin will Witali Klitschko an die Macht bringen, die USA zogen – zumindest bis zum Wochenende – Arseni Jazenjuk vor. Als nun die nach wie vor mächtige und mit besten Kontakten nach Washington ausgestattete Julia Timoschenko aus der Versenkung geholt wurde, da war das aus Sicht Berlins ein klarer Rückschlag bei dem Versuch, mit Klitschko erstmals einen Machthaber mit ganz überwiegend deutschem Hintergrund in Kiew zu installieren. Daher der etwas unvermittelte Ärger über Timoschenko. Nicht umsonst hat Kanzlerin Merkel sich der Sache sofort angenommen, der erkrankten Politikerin diplomatisch gratuliert und sie zur Behandlung nach Berlin eingeladen. Daß Timoschenko in der Charité ausschließlich medizinisch verarztet wird, darf man getrost bezweifeln.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 26. Februar 2014


Faschisten wollen die Macht

Regierungsbildung in Kiew verschoben. Machtkampf unter Putschisten

Von Reinhard Lauterbach **


Die faschistische Schlägertruppe »Rechter Block« will in der Ukraine an die Macht. Nach Angaben der der bisherigen Opposition nahestehenden Internet­zeitung Ukrainska Prawda hat ihr Anführer Dmitro Jarosch für seine Gruppierung einflußreiche Posten in den »Gewaltressorts« Inneres, Justiz und Verteidigung sowie das Kommando über die paramilitärischen Truppen des Innenministeriums beansprucht. Den Posten des parlamentarischen Kontrolleurs über die Generalstaatsanwaltschaft hat bereits der Justitiar der faschistischen Freiheitspartei, Oleg Machnitzki, übernommen.

Unter dem Deckmantel einer »Rückbindung an den Maidan« haben sich die Faschisten einen weiteren Einflußkanal geschaffen. Mit parlamentarischer Unterstützung von Politikern der »Vaterlandspartei« verlangen »Vertreter des Maidan«, in allen Ministerien Staatssekretärsposten zu bekommen. So könnten sie Korruption kontrollieren, erklärte »Vaterlands«-Politiker Arseni Jazenjuk. Was er nicht sagte: Genauso können sie natürlich an dieser Korruption teilhaben und interne Mittel und internationale Hilfsgelder in die eigene Tasche stecken oder an ihre politischen Formationen weiterleiten. Jazenjuk ist in den letzten Tagen verstärkt als Wortführer »des Maidan« aufgetreten. Er versucht offenbar, seine Bekanntheit als Anführer der Proteste in eine neue politische Machtbasis zu verwandeln, nachdem seine Stellung in der »Vaterlandspartei« durch das Comeback von Julia Timoschenko geschwächt ist.

Befürchtungen, daß die neue ukrainische Staatsmacht nicht viel besser sein wird als die vorherige, sind offenbar nicht unbegründet. Die Ukrainska Prawda – wohlgemerkt ein Blatt, das den Maidan mehr als nur wohlwollend begleitet hat – schrieb wenige Tage nach dem Machtwechsel von »Byzantinismus in Reinkultur« in den Korridoren und Hinterzimmern des Parlaments. Die »Donezker«, die das Rückgrat der Janukowitsch-Administration stellten, würden verdrängt, und die »Lieben Freunde« – ein Kürzel für die Oligarchencliquen im Umfeld der »orangen« Koalition der Jahre 2005 bis 2010 – kämen zurück. Im Zusammenhang damit versuchen die in der Partei der Regionen versammelten Nutznießer der alten Staatsmacht offenbar, den Rest ihres Einflusses zu retten. Der verbliebene Rest der Partei kündigte an, nicht in die Regierung einzutreten – in der sie ohnehin niemand haben will –, aber die Kabinettsbildung durch ihr Abstimmungsverhalten zu erleichtern.

Was zuerst wie eine unnötige Unterwerfungsgeste aussah, könnte noch an Tragweite gewinnen. Denn in der »Vaterlandspartei« ist ein offener Machtkampf ausgebrochen. Die amtierende Führung der Partei um Jazenjuk hatte die Rückkehr Julia Timoschenkos aus der Haft offenbar nicht wirklich auf der Agenda. Wie ukrainische Medien berichten, besetzt Timoschenko inzwischen führende Posten im Land mit ihren persönlichen Vertrauten, unter anderem dem amtierenden Präsidenten und Parlamentsvorsitzenden Oleksander Turtschinow. Daß die Regierungsbildung, die ursprünglich für Dienstag geplant war, auf Donnerstag verschoben wurde, ist in diesem Zusammenhang kein großes Wunder. Es gibt noch viel zu kungeln. Womöglich ist selbst der angeblich ausgestellte Haftbefehl gegen den gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch eine Fiktion. Eine Recherche ukrainischer Journalisten in der Fahndungsdatenbank des Innenministeriums ergab keinen Eintrag zu seiner Person.

Auf internationaler Ebene deutet sich inzwischen eine russisch-französische Koalition an, die den geopolitischen Ehrgeiz der Maidan-Förderer in Berlin, Warschau und Washington zu bremsen sucht. Rußlands Außenminister Sergej Lawrow sagte in Moskau, es sei im russischen Interesse, daß die Ukraine Teil der europäischen Familie sei und bleibe. Es dürfe aber nicht dazu kommen, daß die Staatsmacht in Kiew von Nationalisten und Radikalen übernommen wird. Fast wortgleich erklärte in Paris Außenminister Laurent Fabius, die Ukraine gehöre zu Europa, aber nicht zur EU. Sie könne deshalb nicht die EU und Rußland gegeneinander ausspielen. Frankreich hatte bereits in der Vergangenheit EU-intern versucht, die deutsch-polnisch-schwedische »Östliche Partnerschaft« auszubremsen und deshalb im EU-Rat die Zusage einer Mitgliedschaftsperspektive an die Ukraine durch sein Veto verhindert.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 26. Februar 2014


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