Der 8. Mai und die Volksgemeinschaft
"Die Nazis sind das 'Böse', und wir leiden deshalb alle ..."
Von Wolfgang Dreßen*
So nicht: Die Bombardierung Dresdens mit dem Holocaust vergleichen, auch
noch im sächsischen Landtag und durch eine neonazistische Partei. Die
Empörung war anhaltend und groß. Was soll das Ausland davon halten (Exportwirtschaft)! Außerdem ist die
Relativierung des Holocaust verboten, wenn auch nicht in den Räumen des
Landtages.
Dann lieber so: Anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes klagen die
Provinzblätter landauf, landab über die Bombardierungen, über die Opfer,
über die Entbehrungen der »Deutschen«. Und die Feuilletons frohlocken schon
seit einiger Zeit, man sei jetzt endlich so weit, sogar in der Literatur,
auch der »deutschen« Opfer zu gedenken. Gemeint sind wohl die »Opfer«, die
nach der rassistischen Definition der Nazis »deutsch« waren, also zum
Beispiel keine jüdischen Opfer, wohl auch keine kommunistischen. Also
gedacht wird jetzt endlich der »arischen Opfer«, die sich angepasst oder
zumindest »unauffällig« verhalten haben. Dies sei bisher leider nicht
möglich gewesen.
Merkwürdiger Gedächtnisverlust. Bereits zum 10. Jahrestag gedachte man der
Opfer. In Westdeutschland läuteten die Glocken, Gedenkgottesdienste wurden
abgehalten, karnevalistische Veranstaltungen fielen aus. Schon im Mai 1945
kritisierte der Münchner Kardinal Faulhaber die Alliierten: »Die Bilder aus
Dachau, die alliierte Journalisten wochenlang gemacht haben, um der ganzen
Welt bis zum letzten Negerdorf die Schmach und Schande des deutschen Volkes
vor Augen zu stellen, sind einseitig. Wenn all die furchtbaren Leiden, die
durch Fliegerangriffe über unsere Städte kamen, wenn die Leichen der
verschütteten und verbrannten ... Menschen auch nur von einer Stadt
zusammengestellt und in Lichtbildern aufgenommen werden könnten, wäre ein
solches Gesamtbild nicht weniger schrecklich als die Bilder, die jetzt von
den Konzentrationslagern aufgenommen werden.«
Der Kardinal verweist 1945 nicht nur auf den sächsischen Landtag im Jahre
2005. Im Jahre 1988 war in einer Geschichte von Karl-Marx-Stadt zu
lesen: »Bei diesem nächtlichen Großangriff zerstörten die
anglo-amerikanischen Terrorbomber den Stadtkern.« Ein bemerkenswert langes
Gedächtnis: Das Oberkommando der Wehrmacht berichtete am 6. 3. 45 ebenfalls
von einem »schweren Terrorangriff gegen Chemnitz«. Das hat der
Reichspropagandaminister schon gewusst: Die Sprachregelung »anglo-amerikanische Terrorangriffe« sollte die Volksgemeinschaft zusammenschweißen, noch in der Niederlage. Nur, der Krieg war eben verloren, trotz der millionenfachen Morde und aller »heroischen« Anstrengungen. Die Trauer über den »Zusammenbruch« und
die Empörung über die »Sieger« blieben, über Generationen und in den
verschiedenen politischen Lagern, versteckt, unbewusst, aber immer wieder
deutlich artikuliert.
Weltweit wird jetzt das »Böse« bekämpft, warnend auf Auschwitz verwiesen.
Wie von den Deutschen gelernt: Die Nazis, das ist das »Böse« an sich, eine
anthropologische Konstante. Deshalb ist das »Böse« auch übertragbar, nicht
nur auf die Kommunisten, sondern auf alle, die sich der Marktwirtschaft
nicht fügen wollen.
Was die BRD betraf: In der Niederlage 1945 sah sich die herrschende Klasse
vor einem Problem, das schon vor dem 8. Mai erkannt worden war: Die Angst
vor einem neuen 1918/19. Zwar wurden kurz vor dem Einmarsch der Alliierten
noch möglichst viele Menschen ermordet, die auch später unerwünscht
waren: »fremdrassische« Zwangsarbeiter, politische Gefangene, Juden, Zeugen
des Massenmords. Trotzdem: Wie verhindern, dass diese Niederlage zur
grundsätzlichen Frage nach der Gesellschaftsordnung führt, die all dies
ermöglicht hat? Und auch: Wie ist es auszuhalten, über den 8. Mai hinaus vor
allem und möglichst nur an profitable Geschäfte zu denken?
»Die Nazis? Die sind alle über den Rhein, abgehauen.« Das bekamen die
alliierten Soldaten immer wieder zu hören, als sie in die linksrheinischen
Städte einrückten. Nazis, das sind vor allem andere. Das ist so geblieben,
bis zu »Hitlers Krieg« im Fernsehen. Robert W. Kempner klagte deshalb schon
1950 über den »Hitlerkult«, der jede Ursache auf den »Führer« verschob, wie
gehabt, nur jetzt nicht mehr positiv, sondern negativ.
Aber so einfach ging dies zuerst nicht. In den nächsten Jahren gab es
Prozesse, gegen Industrielle oder gegen die »Deutsche Bank« oder »IG
Farben«. Und dann gab es noch die »Propaganda aus dem Osten«, die nach der
Verantwortung der Bourgeoisie fragte. Ein Ausweg wurde gefunden. Zunächst
maskierte sich die Volksgemeinschaft als Opfergemeinschaft. Auch sie hatte
unter den Nazis gelitten. Die Nazis? Das waren Sadisten, pathologische
Fälle, sie repräsentierten das »Böse«, das »uns heimgesucht« hatte. Die
Volksgemeinschaft blieb »im Kern sauber«. Alexander Mitscherlich konnte
deshalb die damalige »Waschmittelkultur« kritisieren, in der sich die
Deutschen von jeder Vergangenheit reinigten. Deshalb hießen auch die
Entlastungsschreiben für die lästigen Alliierten, die nach der Vergangenheit
fragten, »Persilscheine«. Und die Volksgemeinschaft konnte ihre alten
Projektionen aufrechterhalten. Denn vor dem 8. Mai 1945 pathologisierte sie
ebenfalls ihre Feinde, die als »Schädlinge« dann auch gleich mit dem
Ungeziefervernichtungsmittel zu behandeln waren. Jetzt verschoben die
Deutschen die Pathologisierung auf imaginierte »Nazis«, eine Abspaltung, die
keine weiteren Fragen nach einer Gesellschaftsordnung aufkommen ließen.
Und jetzt konnte es auch »saubere« Nazis geben, die Vergangenheit wurde
annehmbar. So schrieb Heinrich Böll 1952 über die Deutschen, die von dem
Rommelfilm »Der Wüstenfuchs« begeistert waren: »Da strömen sie nun hin, die
Deutschen, um ihre empfindliche Ehre (die gegen Judenmord, KZ, Deportation
so unempfindlich war, die sie ansonsten aber leicht befleckt glauben)
chemisch gereinigt auf der Leinwand wiederzufinden.«
Arbeit, vor allem deutsche saubere Arbeit, machte immer noch frei. Und dazu
wurden im Westen die Industriellen gebraucht, auch die Beamten und bald auch
wieder, wie schon immer gegen den Osten, die Offiziere von gestern. Das
allerdings ging zunächst nicht so widerspruchslos. »Nie wieder Auschwitz«,
das hieß lange Zeit auch »Nie wieder Krieg«. Der »Osten« blieb freilich
bedrohlich, verteidigen musste man sich. Auch hier half, dass die Nazis
immer »andere« sind. Die Kommunisten mutierten zu Quasinazis, »Extremisten
von links«, dies half, das »Gute« in der bürgerlichen Mitte zu verankern.
Und wie schon von den Nazis konnte die KPD endlich wieder verboten werden.
Aber im Grunde wurde das »Gute« gegen das »Böse« friedfertig verteidigt,
durch die gute alte deutsche Wertarbeit, die am 1. Mai schon seit 1933 in
einem staatlichen Feiertag bejubelt wurde.
Eine Revolution wie 1918/19 konnte 1945 und zuvor vermieden werden, weil die
Volksgemeinschaft in der NS-Zeit ihre eigene Revolution geschafft hatte:
etwa tariflich abgesicherter Urlaub, Kindergeld, Mieterschutz, keine
Steuererhöhungen trotz des Krieges, die Beute der »Heimaturlauber« aus den
geplünderten besetzten Gebieten, die Arisierung, bei der auch Möbel oder
Hausrat für die »einfachen Leute« abfielen. Diese Wurzeln
des »Sozialstaates« blieben nach 1945 versteckt. Der deutsche Verwertungs-
und Vernichtungskrieg, die deutsche Zwangsarbeitergesellschaft, hatte in der
NS-Zeit eine Grundlage geschaffen. Die Volksgemeinschaft sollte nicht
darben, schon damit niemand auf falsche Gedanken kommt, wie nach dem Ersten
Weltkrieg. Der Unmut über die abstrakten Ausbeutungsverhältnisse
konkretisierte sich im Juden. Vom Raub am jüdischen Eigentum haben viele
profitiert, auch die »einfachen Leute«. Die Akten, die Auskunft geben
könnten über die Bereicherungslust, selbst noch am Sack Zwiebeln für die
proletarische Oma, nachdem die »Feinde« endlich in den Osten deportiert
waren, diese Akten sind zum Teil bis heute gesperrt.
Allerdings seit 1989 hat sich einiges geändert. Der Feind kommt immer noch
aus dem »Osten« und heißt jetzt »islamistischer Terrorist«, aber die
deutsche Wirtschaft operiert global, und die Marktwirtschaft wird
hemmungslos noch bis in die sozialen Einrichtungen oder das Hochschulstudium
durchgesetzt. Der Bundeskanzler klagt die »Deutsche Bank« an, dass sie vor
allem an Profit und nicht an deutsche Arbeitsplätze denke. Sie solle sich
doch lieber nicht mehr »deutsch« nennen. Als Sozialdemokrat verwechselt er
hier allerdings Ideologie und Profitinteresse. Die Bank hat immer nur an den
Profit gedacht. Was soll sie als Bank auch anderes machen. Allerdings hat
sich die Geschäftsgrundlage geändert. Als »global player« muss sie auf die
Volksgemeinschaft keine Rücksichten mehr nehmen. Vorbei ist es mit dem
Sozialstaat.
Man muss sich deshalb über die Stimmen der Neonazis nicht wundern. Die
wiederum schaden leider der Exportwirtschaft. Und was soll man jetzt mit der
deutschen Vergangenheit machen? Sie ist immer noch da und will nicht
vergehen. Dieses deutsche Problem wird nun gelöst, indem die Welt endlich
wieder von Deutschland lernt.
Angesichts des weltweiten offenen Profitwettlaufs besteht ein
Ideologiedefizit. Die »global players« halten sich an keine Nationalgrenzen.
Religiöse Fundamentalismen, ob christlich, jüdisch, hinduistisch oder
muslimisch, geben nur zwiespältige, unter Umständen
modernisierungsfeindliche Grundlagen ab. Aber die deutsche Vergangenheit,
die bringt's. Weltweit wird jetzt das »Böse« bekämpft, warnend
auf Auschwitz verwiesen. Wie von den Deutschen gelernt: Die Nazis, das ist das »Böse« an
sich, eine anthropologische Konstante. Deshalb ist das »Böse« auch
übertragbar, nicht nur auf die Kommunisten, sondern auf alle, die sich der
Marktwirtschaft nicht fügen wollen.
Jetzt heißt es also: »Nie wieder Auschwitz« und deshalb führen wir Krieg.
Seitdem unser Außenminister schon in Kosovo Auschwitz verhindert hat (ohne
strafrechtliche Folgen: Verharmlosung von Auschwitz), wird Auschwitz auch am
Hindukusch verhindert. Und der amerikanische Präsident legt am Landungsplatz
der Alliierten in der Normandie Kränze ab, bevor seine Luftwaffe Bagdad
bombardiert: Antifaschismus im globalen Krieg um bestmögliche
Profitmaximierung. Deshalb ist es so unangenehm, wenn Neonazis gerade dort
aufmarschieren, wo der jüdischen Opfer gedacht wird. Hier wird noch eine
zweite Tabuzone verletzt. Die Nazis sind das »Böse« und wir leiden deshalb
alle. Diese Opfergemeinschaft kann dann auch der jüdischen Opfer »gedenken«,
denn wir sind alle Opfer.
Vom Raub am jüdischen Eigentum haben viele profitiert, auch die »einfachen
Leute«. Die Akten, die Auskunft geben konnten über die Bereicherungslust,
selbst noch am Sack Zwiebeln für die proletarische Oma, nachdem
die »Feinde« endlich in den Osten deportiert waren, diese Akten sind zum
Teil bis heute gesperrt.
Manchmal allerdings entlarvt sich die historische Grundlage überdeutlich.
Die deutsche Volksgemeinschaft, die sich als Opfergemeinschaft verkleidet
hat, fühlt sich in ihrer propagierten Ehrlichkeit angegriffen, wenn Neonazis
am falschen Ort aufmarschieren. Die Neonazis sind unerwünscht, aber sie
bleiben doch Kinder der Volksgemeinschaft, wenn sie auch die Spielregeln
noch nicht gelernt haben. Das erklärt die Zwiespältigkeit in ihrer
Bekämpfung. Nur ein Beispiel: Die Neonazis durften im Sommer 2004 gegen den
Neubau der Synagoge in Bochum öffentlich demonstrieren. Der stellvertretende
Vorsitzende der NPD in NRW begründete seinen »Abscheu«: In Synagogen würde
zum Kindesmissbrauch aufgerufen. Dafür bekam er ein Gerichtsverfahren, bei
dem er aber ausführlich seine antisemitische Talmudinterpretation vortragen
konnte. Der Staatsanwalt forderte 18 Monate ohne Bewährung. Der Richter
verhängte 12 Monate auf Bewährung.
Vielleicht hatten die Nazis doch nicht so unrecht? Besonders wo es der
Volksgemeinschaft wieder so schlecht geht. Und immerhin: Es ist besser, sie
ist antisemitisch. Das meinte auch ein Vertreter der Arbeitgeber, den die
Wahlerfolge der NPD nicht so sehr beunruhigten wie die Wahlerfolge der PDS.
Wobei wir im Osten Deutschlands angelangt sind. Ökonomische Grundlagen des
Nazismus wurden hier erkannt, das beunruhigt die Arbeitgeber an der PDS.
Aber die Volksgemeinschaft? Angeklagt waren nur die »Großen«; die Akten, die
über die Bereicherungslust der »kleinen Leute« Auskunft gaben, waren auch
hier unerwünscht. Auch hier waren alle Opfer, leistungsbereit und arbeitsam
sowieso. Die Vergangenheit? Das war ein Problem des »Westens«, der dann auch
mit den »anglo-amerikanischen Terrorbombern« gleichgesetzt wurde. Gedacht
wurde der Opfer der »Arbeiterbewegung«, wobei der Vorarbeiter, der »seine«
Zwangsarbeiter drangsalieren oder der Gefreite, der sich im »gereinigten«
Osten ansiedeln durfte, vergessen wurde. Das hat sich gerächt. Wenn wir »ein
Volk« sind, was soll da ein »antifaschistischer Schutzwall«, wo doch
zusammenwächst, was immer zusammengehörte?
Aber der Fall der Mauer brachte nicht die erhofften »blühenden
Landschaften«. Der »Sozialstaat« bröckelt, denn die deutsche Industrie
kümmert das Wohlergehen der Deutschen nicht mehr. Da helfen nur die alten
Projektionen, dass die Juden hinter den abstrakten, »undurchschaubaren«
Geschäften steckten. Nur kann dies nicht mehr so offen propagiert werden,
denn die Juden gehören ja auch zur Opfergemeinschaft, und Auschwitz wird
jetzt weltweit verhindert. Aber insgeheim? Über 21% aller Deutschen stimmten
im Jahre 2004 dem Satz zu: »Juden haben zuviel Einfluss in Deutschland«.
Zurück zu den Ursprüngen der Volksgemeinschaft? Dieser »Ausweg« ist auf dem
globalisierten Markt ökonomisch versperrt. Kapitalismus sei Dank.
Auch das deutsche Unternehmen verlagert seine Produktion ins Ausland, wenn
dort höhere Profite zu erwarten sind. Es wird also doch nichts anderes übrig
bleiben, als nachzuholen, was seit 1945 verdrängt wurde, in der Erinnerung
und in der praktischen Frage nach den historischen und aktuellen Grundlagen
dieser Gesellschaft. Erst dann würde der 8. Mai auch in Deutschland zu einem
Tag der Befreiung. Danach allerdings sieht es zur Zeit nicht aus.
* Wolfgang Dreßen, Jahrgang 1942, ist Professor für Politik und Leiter des
Forschungsschwerpunktes Neonazismus und interkultureller Dialog an der
Fachhochschule Düsseldorf.
Der Beitrag erschien im Neuen Deutschland am 16. April 2005
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