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Was ist Befreiung?

8. Mai 1945: "Sechzig Jahre danach ist dieses Datum wie der Meilenstein an einer Straße, auf der niemand mehr fährt"

Von Peter Scherer, Frankfurt a.M.*

Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 7. Mai 1945 im US-Hauptquartier in Reims und am 8. Mai im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst ging ein besonders blutiges Kapitel in der Geschichte Europas zu Ende. Die Ereignisse, die wir unter dem Begriff des Zweiten Weltkrieges zusammenfassen, haben über 55 Millionen Menschen das Leben gekostet und einer vielfach größeren Zahl ein unvorstellbares Maß an Leid und Elend gebracht.

Den Beginn des Krieges auf den 1. September 1939 festzulegen ist eine bloße Konvention. Wie George Orwell einmal schrieb, hatte dieser Krieg im Grunde genommen schon mit dem Überfall Japans auf Nordostchina 1931 begonnen und er endete erst am 9. September 1945 mit der Kapitulation Japans. Es war auch der fernöstliche Schauplatz, der den USA mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor den Anlass lieferte, in den Krieg einzutreten, wodurch dieser tatsächlich zu einem die ganze Welt umfassenden Kampf wurde.

Im Herbst 1945 waren die USA unbestrittene Führungsmacht der kapitalistischen Welt, hatten das Britische Weltreich in dieser Funktion abgelöst und sahen sich nur noch einer Macht gegenüber, die zu einer autonomen Politik imstande war: der Sowjetunion.

Ihr die Grenzen der Macht zu zeigen, war der Zweck der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki im August 1945, eines Verbrechens, das die Welt auch deshalb erstarren ließ, weil das Ende des Krieges in Europa so große Hoffnungen geweckt hatte. Nach den Gräueln dieses Krieges glaubten viele, die Hölle durchschritten zu haben. Eine weitere Steigerung des Mordens schien ausgeschlossen zu sein. Die militärisch sinnlose, aber politische genau kalkulierte Tötung von Hunderttausenden ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter rief dramatisch in Erinnerung, dass der Weltbürgerkrieg, der mit dem Interventionskrieg gegen Sowjetrussland 1918 begonnen hatte, nicht zu Ende war. Er trat in eine neue Phase und endete erst wirklich mit der Selbstauflösung der UdSSR 1991.

Dem Ende des Weltkrieges folgte der Kalte Krieg, folgten die Schlachtfelder Indochinas, folgte die atomare Bedrohung der Menschheit in Permanenz, folgte das vorläufige Scheitern des großen, welthistorischen Versuchs, das Zusammenleben der Menschen und Völker im sozialistischen Sinn zu gestalten.

Als den Hitler-Faschisten 1933 in einem pseudolegalen Akt die Macht übertragen wurde, löste die Errichtung eines autoritären, strikt antibolschewistischen Regimes in Deutschland in den westlichen Hauptstädten durchaus nicht nur Ablehnung aus. Man nahm es in Paris, London und Washington mit Interesse zur Kenntnis, dass dieses Deutschland nun mindestens für eine Reihe von Jahren ein zuverlässiges Glied in der Blockadefront gegen die Sowjetunion sein würde.

Mit dem Regimewechsel in Deutschland lebten die nur vorübergehend zur Seite gelegten Pläne auf, die Ergebnisse auch der russischen Revolution rückgängig zu machen. Nur so ist es zu verstehen, dass Hitler 1938 im Münchner Abkommen nicht nur Österreich, sondern auch große Teile der Tschechoslowakei ausgeliefert wurden, zu einem Zeitpunkt, als niemand über den extrem aggressiven und rassistischen Charakter des Regimes im Zweifel sein konnte. Selbst nach ihren Kriegserklärungen im Herbst 1939 blieben die Westalliierten untätig, bis sie im Frühjahr 1940 selbst angegriffen wurden. Erst dann mussten sie sich eingestehen, dass ihre Rechnung, den deutschen Imperialismus nach Osten zu lenken, nicht aufgegangen war.

Selbst die Schaffung der Antihitlerkoalition nach dem Überfall auf die Sowjetunion hat den inneren Widerspruch der westalliierten Politik nicht aufgelöst. Vom 22. Juni 1941 bis zum 6. Juni 1944 dauerte es volle drei Jahre, bis die Kräfte der Alliierten in einer Dimension den europäischen Kriegsschauplatz betraten, die sich mit dem Kräfteeinsatz an der deutsch-sowjetischen Front vergleichen ließ. Statt die zweite Front zu errichten, brannte man deutsche Städte nieder, um so den Schein großer militärischer Anstrengungen zu wahren. Die sowjetische Armee hat diese Verzögerungstaktik mit furchtbaren Verlusten bezahlt.

Die relative Gelassenheit mit der die Errichtung der deutschen Diktatur in den 30er Jahren hingenommen wurde, gilt auch für die schmutzigste Seite der Hitlerschen Politik, die Verfolgung der Juden und Zigeuner. Konnte man für das Schicksal der ziganen Minderheiten schon nichts hoffen, so ist doch erstaunlich, wie wenig Protest die Verfolgung und selbst die Ermordung der Juden hervorgerufen hat. Es ist nicht ganz untypisch, dass eine moralische Instanz wie die katholische Kirche sich zum Mord an den Geisteskranken deutlicher geäußert hat als zum ungleich weiter greifenden Mord an den Juden, und dies obgleich er zu einem sehr großen Teil auf dem Boden katholischer Länder wie Polen, Ungarn und Litauen organisiert und vollzogen wurde. Auch dem Papst war der Kampf gegen den Bolschewismus unter der Führung Deutschlands ungleich wichtiger als das Schicksal der Juden.

Der Antisemitismus ist ein fester Bestandteil der reaktionären und konterrevolutionären Ideologie von Anfang an. Alles was Arbeiterparteien und Gewerkschaften tun, ist nach diesem Weltbild von den Juden intellektuell vorbereitet, gelenkt und wird mit terroristischen Methoden der Einschüchterung und des Zwangs in die Tat umgesetzt. Im pseudo-naturwissenschaftlichen Denken der Nazis war die jüdische Rasse die „biologische Grundlage“ des Bolschewismus. Wollte man diesen „vernichten“, musste man jene „ausrotten“. Die faschistischen Massenverbrechen an den Juden waren somit Teil einer konterrevolutionären, antisozialistischen Politik, die sich für berechtigt hielt, angeblichen „Terror“ durch „Gegenterror“ zu brechen.

Man kann die Konterrevolution nicht erklären, ohne von der Revolution zu reden, von jener großen Bewegung gegen feudale Arroganz und gegen kapitalistische Ausbeutung. Wir müssen reden von 1525, 1789 und 1848, von der Pariser Commune und von den Kämpfen der russischen Arbeiter 1905 und 1917, von Spanien, von Cuba und Chile. Und wir müssen lernen, dass der 9. November nicht allein der Tag eines schändlichen Pogroms ist, sondern in erster Linie der Tag der deutschen Revolution, der Gründungstag der Republik. In dieser großen, Jahrhunderte umfassenden Bewegung sind sich alle Unterdrückten, alle Ausgebeuteten begegnet: die Bauern, die das feudale Joch abwarfen, die Juden, die für ihre Emanzipation kämpften, die Frauen, die sich nicht länger in ein sog. „Schicksal“ fügen wollten, die Arbeiter, die seit 1871, seit 1905 an der Spitze dieser Bewegung gehen, und endlich auch jener Teil des Bürgertums, dem Freiheit mehr bedeutete als das uneingeschränkte Recht, sich zu bereichern.

„November 1918? - Nie wieder!“ war eine der letzten Parolen der Nazi-Propaganda. In der Tat gelang es dem Unterdrückungsapparat, bis zuletzt eine fast hermetische Kontrolle aufrecht zu erhalten. Die Kriegsgerichte wüteten, und die „antibolschewistische“ Ideologie tat ein übriges, die Masse der Soldaten bei der Fahne zu halten. Unzählige Male waren die Landser aufgerufen worden, ihre Waffen gegen die faschistischen Machthaber zu kehren. Sie haben es nicht getan. Es gab vereinzelten Widerstand und Fahnenflucht, aber es gab keine politische Arbeit in Heer und Marine, vergleichbar jener in den Jahren 1917 und 1918. So konnten der Krieg bis zum Weißbluten fortgesetzt werden.

Trotz der tiefgreifenden Schwächung der Arbeiterbewegung in den Jahren der Diktatur wurde nach der Befreiung die Erinnerung daran wach, dass in den Jahren zwischen Revolution und Rathenau-Mord, zwischen 1918 und 1922, zwei politische Forderungen der Arbeiterbewegung unerledigt geblieben waren: Die Säuberung des Staates von reaktionären Elementen und die Sozialisierung der Großindustrie. In Gestalt der Forderung nach Entnazifizierung und erneut Sozialisierung bestimmten diese beiden Fragen die Auseinandersetzungen bis in die 50er Jahre hinein.

Und hier war es auch, wo in den Westzonen die Grenzen der Freiheit sehr schnell erreicht wurden. Die Antifaschisten der ersten Stunde mussten hier die gleichen Erfahrungen machen, die schon die Mitglieder der Arbeiter- und Soldatenräte 1918/19 gemacht hatten. Vorübergehenden Zugeständnissen und notgedrungen geduldeter Praxis folgte hinhaltender Widerstand und endlich der Gegenangriff. Mit Beginn des Koreakrieges 1950 hatten sich die alten Mächte so weit von ihrem faschistischen Abenteuer erholt, dass alle Forderungen nach einer Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse, alle tausendfach beschworenen „Lehren der Geschichte“ nichts mehr wert waren.

Für die UdSSR schien der Sieg über Hitler-Deutschland der Garant einer ungestörten, friedlichen Entwicklung zu sein, der endgültige Eintritt in eine neue Epoche der Weltgeschichte, ja in eine neue „Formation der Menschheitsentwicklung“. Im östlichen Deutschland schien der Mai 1945 alle Voraussetzungen geschaffen zu haben, die Revolution des 9. November 1918 zu vollenden. „Sozialistische deutsche Republik“ wollte man den neuen Staat nicht nennen. So hatte es 1918 auf Tafeln gestanden, die von der Front heimkehrende Soldaten begrüßten. Unter dem Namen einer „Deutschen Demokratischen Republik“ wurde der ostdeutsche Staat 1949 gegründet. 40 Jahre später haben wir sein Ende erlebt, wie auch 1991 den Zerfall jener osteuropäischen Macht, an der in langen Kriegsjahren die Pläne der Faschisten gescheitert waren.

Geschichte ist nicht nur das Geschehen selbst, sondern auch seine Wiederspiegelung im politischen Werturteil. Der 8. Mai 1945 – das war für die befreiten Antifaschisten die Chance, aus den Fehlern von 1918, von 1920, von 1933 zu lernen. Die Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald setzten nach ihrer Selbstbefreiung diesen Satz an den Anfang ihres Manifests: „Wir haben Gefängnis, Zuchthaus und Konzentrationslager ertragen, weil wir glaubten, auch unter der Diktatur für die Gedanken und Ziele des Sozialismus und für die Erhaltung des Friedens arbeiten zu müssen.“

Der endliche Beginn des sozialistischen Aufbaus war die Vision, die selbst noch im Konzentrationslager die Kraft zum Überleben gab. Dass der Neubau Deutschlands kein Wiederaufbau des alten Systems sein konnte, das zum Faschismus geführt hatte, leuchtete ein. Selbst eingefleischte Gegner der Revolution wagten es nicht, etwas anderes zu versprechen als eine Art „Sozialismus“, und sei es eben „aus christlicher Verantwortung“ oder „als Tagesaufgabe“.

Heute, sechzig Jahre danach, ist dieses Datum wie der Meilenstein an einer Straße, auf der niemand mehr fährt. Man fragt sich unwillkürlich, was die Stichwortgeber des herrschenden Medienbetriebs im Sinn hatten, als sie ausgerechnet den 60. Jahrestag der Befreiung auch in ihr Programm aufnahmen. Woran lag ihnen? Welche Funktion sollte es haben, dass ein Wladimir Putin, verantwortlich für den schmutzigen Krieg in Tschetschenien, auf dem Boden von Auschwitz im Beisein von 46 Staats- und Regierungschefs verspricht, er werde nie aufhören die Frage zu stellen „Wie konnte es dazu kommen?“ - offenbar in der sicheren Gewissheit, auch nie eine Antwort zu bekommen.

Krieg ist seit den 90er Jahren ein kontinuierlicher „Friedensprozess“ und Frieden ist ein „weltweiter Krieg gegen den Terrorismus“. Die Erinnerung an das „Unfassbare“ ist im herrschenden Gedankensystem gleichbedeutend mit dem Anspruch auf das uneingeschränkte Interventionsrecht im Namen einer sog. „Staatengemeinschaft“, in Wirklichkeit zu Händen der US-Regierung und ihrer nächsten Verbündeten.

Diese Interventionsdoktrin findet ihre Ergänzung im Dogma der „Globalisierung“. Ist die Doktrin eine Umschreibung für militärische Aggression, so ist das Dogma eine Umschreibung für Erpressung.

Der permanente Kriegszustand wird mit einem hohen ideologischen Aufwand gerechtfertigt. Die permanente Erpressung der Arbeitnehmer entbehrt jeder Umkleidung. Es werden willkürliche Zahlen gegriffen: 3.000 Stellen, 500 Millionen, 20 Prozent. Sodann ist es Sache der betrieblichen Arbeitnehmervertreter, „Angebote“ zu machen für Abbau, Einsparung, Verzicht. Gewerkschaften sind im Prinzip überflüssig, desgleichen auch alles Gerede über „Unternehmenskultur“ und „Betriebsfamilie“. Angesichts einer Reservearmee von real neun Millionen Arbeitslosen klingt es nur noch komisch, dass Arbeitgeber einmal um die „Seele des Arbeiters“ ringen wollten.

So organisiert die Praxis der sog. „Globalisierung“ das Hinterland, aus dem heraus die weltweite Aggression im Zeichen der Interventionsdoktrin stattfinden kann. Das ist nicht die Welt, die sich die befreiten Antifaschisten vorgestellt haben. Das war und ist aber durchaus die Welt nach dem Geschmack eines maßgeblichen Teils ihrer Befreier.

So bleibt der 8. Mai 1945 in dem Schatten, der sich wenige Monate später am 6. August über ihn gelegt hat. Nach dem Abwurf der ersten Atombombe erklärte Präsident Truman in einer uns nur allzu vertrauten Diktion: „Wir danken Gott, dass diese schreckliche Verantwortung uns auferlegt wurde und nicht unseren Feinden. Und wir beten, dass er uns leitet, sie in seinem Sinne zu nutzen.“

Die Demonstration der Macht an die Adresse der Sowjetunion sollte zunächst über einem militärischen Stützpunkt stattfinden, dann hielt man einen industriellen Komplex mit umliegenden Arbeitersiedlungen für passend, schließlich wählte man zwei Großstädte, und man entschloss sich nach längerem Hin und Her die Bevölkerung definitiv nicht zu warnen.

* Peter Scherer, Frankfurt a.M., Historiker, IG Metall


Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 3, Mai 2005

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