Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gehandelt, ohne auf Befreier zu warten

Schwarzenberg blieb sechs Wochen unbesetzt / Kunstwerk erinnert bald an Heym-Roman

Von Hendrik Lasch *

Weil im Mai 1945 die Befreier in Schwarzenberg ausblieben, nahmen die Erzgebirgler ihre Geschicke selbst in die Hände. Zweifel am Wirken des Aktionsausschusses sind heute weitgehend ausgeräumt. Ein Museum aber fehlt noch immer.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich der Pass, den Jörg Beier in seiner urigen Kneipe in einer Gasse unterhalb des Schwarzenberger Schlosses auf den Tisch legt, nicht von einem normalen Reisedokument. Das Ausweispapier, das der Schwarzenberger Künstler entworfen hat, ist blau und zeigt auf der Vorderseite in einem Kreis die Sterne der EU. Erst bei genauerem Hinsehen stutzt der Betrachter. Ein Stern ist durch eine kleine Fichte ersetzt. Und das Land, das als Ausgabeort genannt ist, findet sich in keinem Atlas. Es ist die Freie Republik Schwarzenberg.

Mit den originellen Reisepässen erinnert Beier an eine historische Kuriosität, dank derer die Stadt im Erzgebirge weithin bekannt wurde. Als Deutschland am Ende des II. Weltkrieges von Truppen der Alliierten befreit und besetzt wurde, blieb das Gebiet um Schwarzenberg ausgespart. Die Rote Armee drang bis Annaberg-Buchholz vor, die US-Streitkräfte bis ins Vogtland. Für die rund 2000 Quadratkilometer große Amtshauptmannschaft Schwarzenberg aber schien sich keine Seite zu interessieren. Vermutlich seien militärstrategische Faktoren der Grund dafür, dass das Gebiet mit Schwarzenberg, Aue und vielen Dörfern unbesetzt blieb, sagt der Leipziger Historiker Werner Bramke: Die Amerikaner hätten sich in Richtung Elbe orientiert, die sowjetischen Truppen eher in Richtung Böhmen, wo zuletzt starke Wehrmachtsverbände vermutet wurden. Das hügelige Gebiet im westlichen Erzgebirge habe man »offenbar nicht so wichtig genommen«, sagt Bramke, der aber betont, eine endgültige Erklärung gebe es bis heute nicht. Tatsache ist: Erst am 24. Juni, gut sechs Wochen nach Kriegsende, rückten sowjetische Truppen in das Gebiet vor.

Damit endete ein Intermezzo, das seither viel Raum für Forschungen und Spekulationen bietet und sogar in die Literatur einging. Am 11. Mai 1945 besetzten Antifaschisten das Rathaus, wie an dem nüchternen Zweckbau am Schwarzwasser-Fluss noch heute auf einer Bronzetafel zu lesen ist. Tags darauf gründete sich dann ein Aktionsausschuss, dem vier Kommunisten und zwei SPD-Mitglieder angehörten. Er lenkte fortan die Geschicke des unbesetzten Gebietes, in dem sich auch zahlreiche Flüchtlinge sowie Häftlinge und Zwangsarbeiter befanden – insgesamt 300 000 Menschen, wie Paul Korb schrieb, der im Ausschuss als »Leiter Stadtpolizei« tätig war. Das Gremium kümmerte sich vor allem um die Versorgung, organisierte Lebensmittel, requirierte Kartoffeln und Getreide bei Bauern der Gegend oder schickte, wie sich der damals 16 Jahre alte Karl-Heinz Pötsch erinnert, gar einen Lkw nach Delitzsch, um in einer dortigen Zuckerfabrik Marmelade zu beschaffen. Außerdem wurden Notgeld herausgegeben, Briefmarken gedruckt und eine Zeitung aufgelegt. Der Ausschuss, sagt Heidrun Hiemer, heute CDU-Oberbürgermeisterin von Schwarzenberg, »musste dafür sorgen, dass hier nicht das Chaos ausbrach«.

Neben praktischen traf der Ausschuss aber auch politische Entscheidungen, indem etwa Vertreter des NS-Regimes wie der Bürgermeister Ernst Rietzsch verhaftet wurden. Am Fall des unbesetzten Schwarzenberg lasse sich studieren, »wie sich ohne politische Anleitung von außen Gegner der Nationalsozialisten zusammenfanden und einen Freiraum nutzten, den es sonst in Deutschland nirgends gab«, sagt Bramke. Genau dieser Aspekt war es, der auch den Schriftsteller Stefan Heym interessierte. Basierend unter anderem auf langen Gesprächen mit Korb, publizierte er 1984 seinen Roman »Schwarzenberg«. Darin griff er zwar die historischen Fakten auf, wie das auch Johannes Arnold in seinem schon 1969 in Halle erschienenen Roman »Die Totgesagten« getan hatte. Heym entwickelte daraus aber politische Utopie. Die im Roman skizzierte »Republik Schwarzenberg« sei eine Art Gedankenspiel darüber, wie »auf befreitem Boden, aber ohne Druck von Seiten fremder Mächte« ein politisches Gebilde entstand, in dem versucht wurde, »Demokratie und Sozialismus miteinander zu verknüpfen«, wie es im Buch heißt. Den DDR-Oberen passte der Ansatz offenbar nicht; »Schwarzenberg« erschien nur im Westen.

Nach 1989 spannen Jörg Beier und seine Mitstreiter von der Künstlergruppe »Zone« Heyms Idee fort: Sie riefen die virtuelle »Freie Republik Schwarzenberg« aus. Am Eingang von Beiers Kneipe weist ein Messingschild das Haus als deren »Ständige Vertretung« aus; drinnen gibt es Pässe und wechselnde Ausstellungen zum Thema. Ihn interessiere, sagt Beier, ein bodenständig-schlitzohriger Erzgebirgler, »der utopische Ansatz hinter den historischen Fakten« – unter anderem die Frage, was sich nach dem Ende der DDR in Ostdeutschland hätte entwickeln können, wenn es erneut keinen politischen Einfluss von außen gegeben hätte.

Während freilich die Künstlergruppe ausgelassen-hintersinnige Feste organisierte, die Behörden in Land, Bund und EU mit nicht ganz ernst gemeinten Entwürfen für eine eigene Fahne irritierte und auf diese Weise nicht zuletzt Touristen nach Schwarzenberg lockte, regte sich auch geharnischte Kritik. Dabei ging es nicht nur um vermeintliche »Legendenbildung« jenseits harter historischer Fakten, wie sie ein Ex-Landrat den Künstlern vorwarf. Nachdem diese bei einem Fest auch die Verhaftung von Bürgermeister Rietzsch nachgestellt hatten, wurde ihnen vielmehr vorgeworfen, Unrecht ins Lächerliche gezogen zu haben. Im Buch einer örtlichen Historikerin hieß es gar, der Aktionsausschuss habe 1945 putschartig die Macht übernommen und im unbesetzten Gebiet eine Vorstufe zur späteren SED-Diktatur etabliert; Gefangene wie Rietzsch seien drangsaliert worden. Dieser wurde später zum Tode verurteilt und im April 1946 in Dresden hingerichtet.

Solchen Vorwürfen widersprechen Wissenschaftler wie Zeitzeugen. Werner Bramke betont, das Bemerkenswerte an dem Ausschuss sei gerade gewesen, dass dieser angesichts des Machtvakuums spontan gebildet worden sei, ohne zunächst über ein politisches Programm zu verfügen. Auch Karl-Heinz Pötsch erinnert sich an Versammlungen, zu denen jeder eingeladen war, der aktiv mitarbeiten wollte, und bei denen ganz praktisch entschieden wurde, welche Aufgaben als nächstes zu erledigen waren. Und Rathauschefin Heidrun Hiemer hält die Frage, ob in den sechs Wochen im Frühsommer 1945 eine Diktatur etabliert worden sei, für ebenso irreführend wie die, ob sich im Erzgebirge eine Republik gebildet habe. »Es war weder das eine noch das andere«, sagt die CDU-Politikerin: »Die Menschen haben einfach gehandelt.«

Nicht erhärtet haben sich auch die Behauptungen, der Aktionsausschuss habe sich im Fall Rietzsch Unrecht zuschulden kommen lassen und diesen womöglich aus Rachegelüsten in den Tod geschickt. Bramke betont, es sei inzwischen erwiesen, dass der Ex-Bürgermeister wegen seiner unrühmlichen Rolle im NS-Besatzungsregime in Weißrussland verurteilt und hingerichtet wurde. Jörg Beier zeigt in einer materialreichen und bedrückenden Ausstellung in seinem Lokal, an welchen Grausamkeiten NSDAP-Mann Rietzsch im Gebiet um Witebsk beteiligt war, wo er als Landrat amtierte. Während dort im Zusammenspiel von SS, Wehrmacht und Besatzungsbehörden viele Juden und Weißrussen ermordet wurden, schrieb Rietzsch in einem Brief, er stehe »mit Frische freudig hier draußen in der Arbeit«.

Im Lichte solcher Erkenntnisse scheint die Kontroverse um den Aktionsausschuss im 65. Jahr der »unbesetzten Zone« an Schärfe verloren zu haben. Die damals Verantwortlichen hätten sich offenbar keiner gravierenden Vergehen schuldig gemacht, sagt Rathauschefin Hiemer: »Daher habe ich auch kein schlechtes Gewissen, die Ereignisse zu feiern.« Dazu wird bei einem Straßenfest am 19. Juni Gelegenheit sein. Zuvor kommt am 10. Mai der Stadtrat zu einer Sitzung mit wissenschaftlichen Vorträgen zusammen. Besucher werden zu thematischen Stadtführungen eingeladen. Höhepunkt ist am 24. Mai die offizielle Einweihung einer umgestalteten Grünanlage am Rathaus. Dort wird dann auch eine Metallplastik zu sehen sein, die an Stefan Heym und seinen »Schwarzenberg«Roman erinnert. Allerdings beeilt sich die CDU-Frau zu betonen, man würdige »nur den Schriftsteller«. Der Eiertanz sorgt bei der politischen Konkurrenz für Kopfschütteln. Wie die Würdigung Heyms, der 1994/95 für die PDS im Bundestag saß und als dessen Alterspräsident die konstituierende Sitzung des Parlaments leitete, im Detail aussehe, sei gleichgültig, sagt Ronald Krauß, der LINKE-Fraktionschef im Stadtrat: »Man kann ihn von seiner politischen Haltung ja nicht lösen.«

Besucher, die künftig nach Schwarzenberg kommen, werden dort nun allerdings zwar Heym und den Roman gewürdigt finden, mit dem er die Stadt und ihre ungewöhnliche Rolle am Ende des II. Weltkrieges bekannt machte. Über die »unbesetzte Zeit« aber werden sie von der Stadt weiterhin kaum etwas erfahren: Eine Sonderausstellung im Stadtmuseum lässt Besucher ohne gründliche Vorkenntnisse weitgehend ratlos; in der Dauerausstellung wird das Thema auf die Inhaftierung von Rietzsch & Co. reduziert. »Es fehlt ein Punkt, wo man die gesammelten Erkenntnisse bündelt«, sagt Jörg Beier, dem das Verdienst zukommt, auf der Internetseite der Freien Republik wenigstens eine detaillierte Chronologie der Ereignisse zu liefern. Auf ein Museum zum vermutlich bekanntesten Abschnitt seiner Geschichte aber muss Schwarzenberg auch 65 Jahre danach weiter warten.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Mai 2010


Zurück zur Themenseite "Befreiung von Faschismus und Krieg"

Zur Deutschland-Seite

Zurück zur Homepage