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NPD unter falscher Flagge: Neonazis marschieren in Wiesbaden angeblich gegen "Kriegstreiberei" der USA und sind doch selbst die größten Kriegstreiber

Dokumentiert: Erklärung des "Friedensratschlags", Soli-Adresse von pax christi an Thierse und ein Leserbrief von Willi Hoffmeister

Am vergangenen Wochenende (1./2. Mai) fanden in zahlreichen Städten Aufmärsche von NPD-Anhängern und anderen Alt- und Neonazis statt. Und überall wurden sie mit der Gegenwehr von Demokraten konfrontiert und in ihrem Aktionsradius erheblich eingeschränkt. In Berlin gelang es rund 10.000 Bürgerinnen und Bürgern, den braunen Zug der Nazis am Prenzlauer Berg zu stoppen (siehe unsere Berichte: "1. Mai bleibt nazifrei"). Gegen einen der Teilnehmer an der Sitzblockade gegen die Nazis, Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, entfachten einige Politiker und Medien eine regelrechte Kampagne: Thierse habe gegen "die Würde seines Amtes" verstoßen, war noch der harmloseste Vorwurf. Dass auch die Führung der Polizeigewerkschaft in den Chor der Thierse-Kritiker einstimmte und ihm gesetz- und rechtswidriges Verhalten, das die Arbeit der Polizei erschwert habe, vorwarf, gehört gewiss nicht zu den Ruhmestaten dieser DGB-Gewerkschaft. Die GdP sollte sich daran erinnern, dass es SA-Nazis waren, die am 2. Mai 1933 die Gewerkschaftshäuser besetzten und die freien Gewerschaften verboten und dass es Nazis waren, die 1934 mit dem "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" jegliche Mitbestimmung in den Unternehmen ausgemerzt haben. Wenn heute Politiker zusammen mit Bürgerinnen und Bürgern sich den Neonazis entgegenstellen, handeln sie aus Verantwortung für den Bestand der Demokratie und freier Gewerkschaften, letztlich also auch für die GdP.

Am kommenden Samstag, dem Jahrestag der Befreiung von der braunen Pest, wollen sich Jung-NPDler und andere Faschos in Wiesbaden zusammerotten, um angeblich gegen die "Kriegstreiber" der USA zu protestieren. Auch gegen dieses Aufmarsch der Neonaziszene mobilisiert ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Kirchen, Friedens- und Antifa-Bewegung und Parteien. Zu hoffen ist, dass sich hessische Landespolitiker finden, die sich in den Protest und in die Blockade einreihen.

Pst

Im Folgenden dokumentieren wir
  • eine Pressemitteilung des Friedensratschlags zum NPD-Aufmarsch in Wiesbaden,
  • einen Solidaritäts-Brief der Generalsekretärin von pax christi an Wolfgang Thierse,
  • einen Leserbrief von Willi Hoffmeister zur GdP.


Friedensratschlag gegen Nazi-Aufmarsch

An die Medien
  • NPD unter falscher Flagge
  • Neonazis demonstrieren in Wiesbaden angeblich gegen "Kriegstreiberei" Friedensratschlag: Die Kriegstreiber sind die Nazis
  • Aufruf zur Anti-Nazi-Aktion
Kassel, 5. Mai 2010 - Es ist nicht das erste Mal, dass die Neonazi-Szene versucht, bei der Friedensbewegung und anderen sozialen Bewegungen anzudocken. Bisher ist sie damit kläglich gescheitert. Weder konnte sie sich in die Massenproteste gegen den Irakkrieg 2003 noch in die Aktionen der Friedensbewegung gegen den Afghanistankrieg einschleichen. "Und dies wird auch so bleiben", erklärte der Sprecher des "Friedensratschlags" am Mittwoch in Kassel.

Mit dem für den 8. Mai angekündigten Nazi-Aufmarsch gegen das Hauptquartier der amerikanischen Landstreitkräfte in Europa in Wiesbaden-Erbenheim verfolgt die NPD-Jugend zwei Ziele: Einmal will sie sich als Kämpfer gegen den US-Krieg in Afghanistan und anderswo darstellen, zum anderen wählt sie dafür den 65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus durch die mit den USA verbündeten Alliierten des Zweiten Weltkriegs. Dahinter steht der plumpe Versuch, antiamerikanische Ressentiments zu wecken und für ihre geschichtsrevisionistische Propaganda zu nutzen. Die alten und neuen Nazis haben sich mit den Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs nie abgefunden, haben nie akzeptiert, dass das verbrecherischste Regime in der Geschichte der Menschheit durch die vereinten Verteidigungsanstrengungen der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens sowie anderer Verbündeter 1945 niedergerungen wurde.

Wenn die Nazis am 8. Mai gegen die "Kriegstreiberei" der USA auf die Straße gehen, dann verdrehen sie die historische Wahrheit. Denn es war die Anti-Hitler-Koalition, die 1945 der gigantischen Kriegstreiberei des Naziregimes ein Ende bereitete. Wer das leugnet, will zurück in den großdeutschen Militarismus der 30er und 40er Jahre, will die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsordnung revidieren.

Die Friedensbewegung wird den Naziaufmarsch in Wiesbaden nicht tatenlos hinnehmen. Der Bundesausschuss Friedensratschlag ruft dazu auf, sich den Aktivitäten des "Rhein-Main-Bündnisses 8. Mai gegen den Nazi-Aufmarsch in Wiesbaden" anzuschließen. In diesem Bündnis haben sich zahlreiche Organisationen und Verbände zusammengefunden, darunter der DGB, die GRÜNEN, SPD und DIE LINKE, die katholische Kirche, die Arbeiterwohlfahrt und das Wiesbadener Bündnis gegen Rechts. Es gilt nach Auffassung der friedensbewegung, den Nazis keinen Zentimeter Rau für ihre volksverhetzenden Lügen zu lassen. So wie in Dresden am 13. Februar und in Berlin am letzten Wochenende muss es gelingen, den braunen Spuk bereits im Ansatz zu blockieren.

Wer am 65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus etwas gegen Kriegstreibere tun will, muss sich den Nazis in den Weg stellen. Die Lehre der Friedens- und der antifaschistischen Bewegung aus der Geschichte lautet: "Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg!"

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)



Anwürfe gegen Thierse erschreckend und gegenstandslos

pax christi-Generalsekretärin dankt für seine Beteiligung an der Sitzblockade am 1. Mai

Dokumentation der Solidaritätsadresse an Wolfgang Thierse (5.5.2010)

Sehr geehrter Herr Bundestagsvizepräsident,

für Ihr Engagement gegen den Nazi-Aufmarsch in Berlin am 1. Mai danke ich Ihnen sehr. Es stärkt die mündigen Bürgerinnen und Bürger, dass es Politiker wie sie gibt, die bereit aktiv an unserer Seite Freiheit und Demokratie zu verteidigen.

Wer aus der deutschen Geschichte gelernt hat, muss wachsam und aktiv gegen rechtsextreme Aktivitäten sein. Denn Courage und Tatkraft können verhindern, dass rechtsextreme Aufmärsche in deutschen Städten Fuß fassen. Das haben junge Menschen bereits in Köln und Dresden gezeigt und das gilt genauso für Berlin.

Es erschreckt mich, wie viele und wer sich alles sich berufen fühlt, Ihr Handeln zu kritisieren und dabei eine nicht vorhandene Straftat zu suggerieren. Die Anwürfe gegen Sie wegen der Sitzblockade sind gegenstandslos, da Sitzblockaden keine Straftat nach § 240 Strafgesetzbuch darstellen. So hat es jedenfalls das Bundesverfassungsgericht 1995 in seinem Beschluss zu den Mutlangen-Blockaden festgestellt. Auch stellen sie keine verwerfliche Nötigung und keine Gewalt dar.

Wie kann es sein, dass in der deutschen Presse der letzten Tage die Anwürfe gegen Sie so viel Platz einnehmen, die Reflexion über die drohende Vermischung von bürgerlicher Mitte und rechtsextremem Gedankengut aber fehlt?
Diese bodenlose Debatte zeigt nur einmal mehr, dass die Wahrnehmungsfähigkeit dafür, von wo aus der Demokratie Gefahr droht, arg beeinträchtigt ist. Eine erneute Aufforderung auch an pax christi rassistischem, antisemitischem und islamophobem Denken und Handeln Einhalt zu gebieten wo immer es -- ganz alltäglich -- schleichenden Eingang in die deutsche Normalität sucht.

Nochmals meinen herzlichen Dank und Ausdruck meiner Freude darüber wie sie der Wut an der richtigen Stelle öffentlich Gehör verschaffen

Solidarisch grüßt
Christine Hoffmann
pax christi-Generalsekretärin



Leserzuschrift an die junge Welt; betr. Artikel "Klare Kante für Nazis" vom 3. Mai 2010

Wenn ein Gewerkschafter wie der GdP-Vorsitzende Konrad Freiberg das Auftreten von Wolfgang Thierse gegen den Nazi-Aufmarsch als "würdelos" bezeichnet, bleibt festzustellen: Nicht das Verhalten von Thierse ist zu kritisieren sondern die Einstellung von Richtern, die immer wieder Nazi-Aufmärsche ermöglichen und damit eindeutig gegen den Artikel 139 des Grundgesetzes verstoßen. Vom Gewerkschaftskollegen Freiberg hätte ich etwas mehr Zivilcourage erwartet. Hat er denn aus der Geschichte der 1930er Jahre, als die Nazi-Horden am 2. Mai 1933 die Gewerkschaftshäuser stürmten, gar nichts gelernt? Es ist an der Zeit, Herr Kollege Freiberg, dass Sie und alle Mitglieder der Polizeigewerkschaft endlich sagen: Für diese braune, ewig gestrige Bande halten wir unseren Kopf nicht mehr hin! Der gesamte Nazi-Spuk würde sich sehr schnell erledigen. Und kommen sie mir jetzt bitte nicht mit unserem Demokratieverständnis und dem "Ertragen müssen von anderen Meinungen"! Faschismus ist keine Meinung sondern ein Verbrechen und wer die Demokratie verteidigen will, muss schon etwas dafür tun. Wolfgang Thierse hat meine volle Unterstützung. Ich wünschte mir, dass sich alle Mandatsträger zivil und ungehorsam gemeinsam mit den Antifaschisten gegen Nazi-Aufmärsche auf die Strasse setzen und ein Polizei-Gewerkschaft-Boss da ist, der das richtig findet.

Willi Hoffmeister
seit 57 Jahren Mitglied der IG Metall



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