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Oberst Klein und das System Krieg

Das Bombardement im Kundus-Fluss, Merkels Lüge und der Korpsgeist in der Bundeswehr

Von René Heilig *

Wer in den Krieg zieht, der will töten. Deutschland tötet in Afghanistan. In der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 befahl Bundeswehroberst Georg Klein im afghanischen Kundus den Luftangriff auf zwei entführte Tanklaster, die sich in einer Furt des Kundus-Flusses festgefahren hatten. Wie viele Menschen er umgebracht hat, lässt sich nicht genau feststellen. Es waren vermutlich über 140, die meisten unschuldige Zivilisten.

»Die lückenlose Aufklärung ist für mich und die ganze Bundesregierung ein Gebot der Selbstverständlichkeit«, sagte die Bundeskanzlerin vier Tage nach dem grausamen Geschehen. Die Bundeswehr, so versprach sie weiter vor dem deutschen Parlament, werde »mit allen zur Verfügung stehenden Kräften genau dazu beitragen«. Angela Merkel, Regierungschefin und Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Union, hat ihr Wort gegeben. Und es gebrochen.

Inzwischen kennen wir den Taxwert eines afghanischen Lebens: 5000 Dollar. Der Preis ist so niedrig wie noch nie. Die Bundesregierung hat die Anwälte der Hinterbliebenen erst ins Leere laufen lassen, dann diffamiert und schließlich eigenmächtig, ohne den Beschluss eines ordentlichen Gerichts anzustreben, begonnen, Schweigegeld an die Angehörigen der Opfer auszuzahlen. Ohne Schuldanerkenntnis, wird betont.

Und was ist mit dem Täter? Er bleibt unbehelligt, kein offizieller Makel haftet an der Uniform, geschweige an der Ehre des Obersten Georg Klein. Im Gegenteil. Manche seiner Kameraden verklären ihn zu einem Helden. Damit muss er selbst klarkommen. Er ist Christ, wie Angela Merkel.

Offenbar kann er es. Er ist, wie Offiziere aus seinem Umfeld sagen, fast schon wieder der Alte. Und die Bundeswehr? Die ist irgendwie neu. Nicht nur, was ihre Ausrüstung und ihre Einsatzprinzipien betrifft. Die Soldaten sind anders, Töten geht ihnen freier von der Hand. Das sollte insbesondere jene ängstigen, die sie als Parlamentarier beauftragen, in die Welt hinaus zu gehen. Zu wenige fordern - trotz der Nacht von Kundus - den unverzüglichen Rückzug der Truppen.

Das mit dem Töten ist nicht so neu für die »Armee der Einheit«, die die Bundeswehr seit 20 Jahren sein will. Zu schnell wird vergessen, dass deutsche Tornado-Jagdbomber - ohne UN-Mandat - über 200 HARM-Raketen auf jugoslawische Stellungen abgeschossen haben. Das war 1999 unter einer rot-grünen Regierung. Damals wurde noch Krieg auf Abstand geführt. In Afghanistan ist Töten unmittelbarer. Und dennoch juristisch folgenlos.

Natürlich leiteten deutsche Staatsanwaltschaften Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein ein. Das ist Routine, wenn das Umbringen von Menschen öffentlich wird. Man reichte den Fall wie eine heiße Kartoffel von Potsdam nach Dresden weiter, die dortigen Staatsanwälte bemühten die Bundesanwaltschaft. Die stellte am 16. April alle strafrechtlichen Ermittlungen ein. Nach Auffassung der Juristen verstieß Kleins Handeln nicht gegen das Völkerrecht oder das allgemeine Strafrecht. Soldaten könnten wegen der Tötung von Zivilisten nicht strafrechtlich verfolgt werden, solange dies im Rahmen »völkerrechtlich zulässiger Kampfhandlungen« geschehe.

Ein Freibrief für Uniformierte, das Völkerrecht wird zur Farce degradiert. Oberst i.G. Klein wird nur nicht Brigadegeneral, dabei wäre der Mann von der 13. Panzergrenadierdivision in Leipzig »dran«. Stattdessen prüfte man, ob man dem Oberst im Generalstab ein Disziplinarverfahren »anhängen« muss. Man wollte der antikriegsgestimmten Öffentlichkeit zeigen, wie ernst die Bundeswehr den Vorfall nimmt. Doch diese PR-Aktion sorgte für Empörung in der Truppe, Kameraden schäumten vor Wut, der Bundeswehrverband sandte Solidaritätsadressen aus. »Respekt« habe man vor dem Kameraden. Die Truppe signalisierte, dass sie sich politisch im Stich gelassen fühlt. Das ist das schwerste Geschütz, das eine treue Armee gegen ihre eigene Regierung auffahren kann. Mitglieder des - noch immer eingesetzten - Bundestag-Untersuchungsausschusses, der eigentlich Licht in das grausame Geschehen bringen sollte, lebten ihre Menschlichkeit nur noch an der Seite Kleins aus. Dessen Opfer wurden lästige Nebensache. Auch der Verteidigungsminister, Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), der höchst ungeschickt auf den Bombenangriff reagierte, nachdem er diese politische Last von seinem verantwortlichen - und wegen fortgesetzter durchschaubarer Lügen gefeuerten - Vorgänger Franz-Josef Jung (CDU) übernehmen musste, betonte, er lasse Klein »nicht fallen«.

Wie das Disziplinarverfahren ausgehen sollte, war damit klar. Mitte August teilte das Heeresführungskommando in Koblenz mit: »Gegenstand der disziplinaren Prüfung war, ob Oberst i.G. Klein mit seinem Handeln in Rahmen der VN mandatierten ISAF-Mission gegen die zum Ereigniszeitpunkt gültigen nationalen wie internationalen Einsatzregeln verstoßen hat. Diese Vorermittlungen gemäß der Wehrdisziplinarordnung sind nunmehr abgeschlossen: Anhaltspunkte für ein Dienstvergehen haben sich nicht ergeben.«

Das ist schon deshalb eine Lüge, weil Klein bewusst Regeln der Afghanistan-Schutztruppe ISAF für einen solchen Angriff ignoriert hat. Nicht die Friedensbewegung oder Journalisten haben das festgestellt, sondern ISAF-Vorgesetzte, die NATO und selbst deutsche Feldjäger kamen zu dem Ergebnis: Klein hätte den Angriff nie befehlen dürfen. Doch: Was sind Wahrheiten, wenn sie dem Korpsgeist nicht passen? Lästig. Also zu bekämpfen.

So wie die sogenannten Aufständischen in Afghanistan. Dass ISAF und auch Spezialkräfte der Bundeswehr am Hindukusch systematisch töten, bestätigte jüngst ein deutscher NATO-General. Egon Ramms ist Befehlshaber des Joint Force Command und damit faktisch NATO-Vorgesetzter des US-Afghanistan-Generals Petraeus. »Der Tötungsbefehl ist nur ein Teil des Gesamtspektrums«, sagt er einem Radiokollegen und erklärt dieses Killen von Taliban-Führern auf fast menschliche Weise. »Wenn ein solcher Mann mehrfach wieder freigesetzt worden ist und weiter Soldaten umbringt oder umbringen lässt ..., dann sind wir irgendwo an einer Stelle, wo man sagen muss: Das System hat versagt.«

Es ist das System Krieg, das Töten zum Ziel hat.

* Aus: Neues Deutschland, 3. September 2010


NATO setzt sinnloses Töten fort

Zahl der Pakt-Soldaten am Hindukusch erreicht mit 150 000 Höchststand

Von Olaf Standke **


Sie waren auf dem Weg zu einer Veranstaltung vor der Wahl am 18. September, als sie ins NATO-Visier gerieten: Zehn Mitarbeiter des Parlamentskandidaten Abdul Wahid Khurasani sind jetzt bei einem Luftangriff in der nordafghanischen Provinz Tachar ums Leben gekommen, teilte die Provinzregierung am Donnerstag mit. Im Osten und Süden des Landes starben fast zeitgleich erneut US-amerikanische Soldaten durch Taliban-Kämpfer. Damit wurden seit Jahresbeginn 326 von ihnen getötet, schon jetzt mehr als im ganzen bisher verlustreichsten Jahr 2009.

Die Zahl der Angriffe Aufständischer auf die internationalen Truppen am Hindukusch hat sich in den letzten Wochen deutlich erhöht. Die radikal-islamischen Milizen haben sich nach Einschätzung der NATO-geführten »Afghanistan-Schutztruppe« ISAF neu formiert und ihren Aktionsbereich ausgeweitet, vor allem auch in den Landesnorden.

Der afghanische Präsident Hamid Karsai hat das Vorgehen der ausländischen Streitkräfte scharf kritisiert. Die Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 hätten gezeigt, dass der Krieg gegen den Terrorismus in den Dörfern Afghanistans wenig effizient sei und bislang vor allem zivile Opfer gefordert habe. Rund 60 000 Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder, mussten seit Kriegsbeginn ihr Leben lassen, dazu kommen über 2000 Soldaten der Interventionsarmeen. Ein militärischer Sieg aber ist nicht absehbar. Trotzdem hat Präsident Barack Obama die USA gerade noch einmal auf einen »harten Kampf« eingeschworen. »Es wird noch eine schwierige Zeit werden.« Für die Bevölkerung am Hindukusch herrscht sie schon lange. Die Armut ist groß, über ein Drittel der Menschen ist von Hunger bedroht, die Lebenserwartung auf 43 Jahre gesunken.

Während die Kampftruppen aus Irak offiziell abgezogen sind, will Washington die am Hindukusch weiter aufstocken. Über 120 000 Soldaten sind zur Zeit in Afghanistan stationiert, zwei Drittel davon aus den USA. In den kommenden Tagen werde ihre Zahl mit 150 000 Soldaten einen Höchststand erreichen, kündigte US-General David Petraeus an. Damit gehe der Kampf gegen die Taliban in seine »letzte Phase«. Wie der ISAF-Kommandeur in einem Interview mit dem NATO-eigenen Internet-Fernsehen sagte, müsse man sich darüber im Klaren sein, »dass wir gerade erst jenen Feldzug beginnen, von dem manche meinen, dass wir ihn schon früher hätten führen sollen«. Eigentlich hatte Präsident Obama den Truppenabzug auf Juli 2011 festgelegt. Doch machte Petraeus jetzt erneut deutlich, dass zu diesem Termin »ein Prozess beginnt, dessen Tempo durch die Verhältnisse an Ort und Stelle bestimmt wird«. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen erwartet die Übernahme der militärischen Verantwortung in Afghanistan durch die dortige Regierung erst ab Ende 2014. Dabei wächst die Antikriegsstimmung in den Pakt-Staaten unübersehbar. In Deutschland etwa sind über zwei Drittel der Bevölkerung laut Umfragen gegen den Krieg. Für die Friedensbewegung ist klar: Die NATO ist am Hindukusch längst zum größten Unsicherheitsfaktor geworden. Und wer das Ende des Sterbens in Afghanistan will, muss zuerst diesen Krieg beenden.

** Aus: Neues Deutschland, 3. September 2010


NATO-Angriff: Zehn Zivilisten tot

Neuer Vorfall im Norden Afghanistans ***

Bei einem Luftangriff der NATO sind im Norden Afghanistans nach Angaben der Regierung in Kabul zehn Zivilisten ums Leben gekommen.

Wie der afghanische Präsident Hamid Karsai erklärte, traf der Luftangriff am Donnerstag (2. Sept.) drei Fahrzeuge mit Anhängern eines Kandidaten für die Parlamentswahl am 18. September. Der Präsident verurteilte den Angriff scharf.

Der Angriff erfolgte in der nordafghanischen Provinz Tachar, die im Kommandogebiet der Bundeswehr liegt. Ein Sprecher der Provinzregierung von Tachar sagte, der Angriff sei im Bezirk Rustak erfolgt. Zwei weitere Menschen, unter ihnen der Kandidat für die Parlamentswahl, seien dabei verletzt worden. Laut Karsai wurden drei Fahrzeuge des Konvois des Kandidaten angegriffen. Laut Verteidigungsministeriums in Berlin war die Bundeswehr am Angriff nicht beteiligt. Er sei »ohne deutsche Beteiligung« erfolgt, sagte ein Sprecher. Die NATO-Schutztruppe ISAF erklärte, der Einsatz habe auf Fahrzeuge gezielt, die Mitglieder der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU) transportiert hätten. Die Gruppe ist im usbekischen Fergana-Tal ansässig und arbeitet mit dem Terrornetzwerk Al Qaida zusammen.

»Wir sind überzeugt, dass dieser Angriff nur das anvisierte Fahrzeug getroffen hat«, sagte der stellvertretende Generalstabschef für gemeinsame Einsätze im ISAF-Kommando, General David Garza. Laut ISAF galt der Angriff dem IMU-Mitglied und »stellvertretenden Schattengouverneur« der von den Taliban in Tachar aufgebauten Parallelverwaltung.

»Im Zuge des Kampfes gegen den Terrorismus müssen die Anhänger der Demokratie von Kämpfern unterschieden werden«, forderte Karsai. Luftangriffe »über afghanischen Dörfern werden im Krieg gegen den Terrorismus nichts bringen außer Tötung von afghanischen Zivilisten«. Karsai sollte am Donnerstag mit US-Verteidigungsminister Robert Gates Gespräche führen, der nach seiner Irak- Visite zu einem unangekündigten Besuch in Kabul eintraf. Derweil wird ein unter Terrorverdacht stehender Deutscher seit mehreren Wochen von USamerikanischen Sicherheitskräften in Afghanistan festgehalten.

Die Bundesregierung bemühe sich bei der US-Regierung um konsularische Betreuung des Mannes, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts am Donnerstag in Berlin. Nach Informationen der »TAZ« gehörte der Mann einer Gruppe von Hamburger Islamisten an, die im März 2009 in das afghanischpakistanische Grenzgebiet gereist waren, um sich dort in Terrorcamps ausbilden zu lassen. Die Islamisten hatten sich vor ihrem Aufbruch in der Hamburger Taiba-Moschee – ehemals Al-Quds- Moschee – getroffen, berichtete die Zeitung unter Verweis auf die Hamburger Innenbehörde.

*** Aus: Neues Deutschland, 3. September 2010


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