Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ist der Zivildienst am Ende?

Zivildienstverbände befürchten "radikale Veränderungen"

Grüne planen das Ende, die Caritas einen freiwilligen Zivildienst

Der noch nicht veröffentlichte Bericht der Wehrstrukturkommission lässt die Wogen auch in der Zivildienstdebatte hochschlagen. Erweist sich nämlich die Wehrpflicht als Auslaufmodell, so könnte es bald auch um den (Zwangs-)Zivildienst geschehen sein. Nach verschiedenen Presseberichten basteln Parteien und Organisationen bereits an neuen Modellen, wie die Aufgaben, die bisher von Zivildienstleistenden bewältig wurden, auf anderer Basis erledigt werden sollen. Die Konzepte der Grünen und des katholischen Sozialverbands Caritas liegen im Ergebnis gar nicht so weit auseinander.

Bündnis 90/Die GRÜNEN

Der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Christian Simmert, stellte am Mittwoch, 10. Mai 2000, in Berlin den Beschluss seiner Fraktion vor, der neben dem Ende der Wehrpflicht auch ein schrittweises Auslaufen des Zivildienstes fordert. Bündnis 90/Die Grünen wollen damit "die Selbstbestimmung junger Bürger" stärken, einen Anstoß für "die Reform des Sozialstaates" geben sowie "nachhaltig" neue "Beschäftigungsfelder" erschließen. Die etwa 2,5 Milliarden Mark, mit denen der Bund jährlich Zivildienststellen finanziert, sollten nach Ansicht der Grünen in neue Arbeitsplätze im sozialen Bereich fließen. "Die Konversion des Zivildienstes im sozialen Sektor wäre zugleich ein Beitrag, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren und Menschen Arbeitsgelegenheiten zu verschaffen, die ihnen eine Existenzsicherung aus eigener Kraft ermöglicht", heißt es in dem Beschluss.

Grundgedanke des Grünen-Vorstoßes, so Simmert, sei "die Verabschiedung von Zwangsdiensten, die in die Rechte von jungen Bürgerinnen und Bürgern eingreifen". Die Grünen wollen zugleich Jugendliche, die sich für ein "Freiwilliges Ökologisches Jahr" oder ein "Freiwilliges Soziales Jahr" entscheiden, künftig finanziell und rechtlich besser abgesichert wissen. Nach Ansicht der Grünen soll eine neue Zivildienstkommission eingesetzt werden, die Vorschläge machen sollte, wie künftig freiwilliges gesellschaftliches Engagement stärker entlohnt werden könne. Für die Übergangszeit bis zum Ende des Zivildienstes sollte sich dieser an der Dauer des Wehrdienstes orientieren, also von demnächst elf Monaten noch einmal um einen Monat verkürzt werden.

Deutscher Caritasverband

Der Deutsche Caritasverband legte am 10. Mai 2000 in Freiburg sein Konzept für einen "Freiwilligen Zivildienst" vor, der den jetzigen Zivildienst und bereits bestehende freiwillige Dienste integrieren soll. Teilnehmen können sollten Frauen und Männer zwischen 15 und 27 Jahren, Deutsche ebenso wie hier lebende Ausländer. Der neue Dienst von wahlweise sechs, zwölf oder 18 Monaten müsse nicht nur angemessen bezahlt werden, fordert die Caritas. Die jungen Leute sollten danach auch einen bevorzugten Zugang zur Berufsausbildung erhalten. Der katholische Sozialverband erhofft sich dadurch eine Absicherung für die Menschen, die bisher auf Zivildienstleistende angewiesen sind.

Quellen: dpa, FR, SZ

Interessante Gedanken macht sich Matthias Drobinski in der Süddeutschen Zeitung über das Auslaufmodell "Zivildienst" (SZ, 11. Mai 2000). Wir bringen wichtige Auszüge aus dem Kommentar.

...
"Der zivile Ersatzdienst, einst für wenige Kriegsdienstverweigerer konzipiert, ist zu einer Stütze des Sozialsystems geworden. 1998 verweigerten 172.000 junge Männer den Dienst an der Waffe, nur 163.000 gingen zur Bundeswehr; im Jahresschnitt gab es 138.000 Zivildienstleistende. Wenn vom 1. Juli an Finanzminister Eichels Sparpaket auch den Zivildienst trifft, tut das den Wohlfahrtsverbänden weh: 14.000 Stellen fallen weg, überwiegend Hausmeister- und Verwaltungsstellen. Gravierender ist die Verkürzung des Dienstes von 13 auf elf Monate. Vielfach ist es nicht mehr möglich, dass der neue Zivi kommt, wenn der alte geht; und kaum ist der neue eingearbeitet, steht sein Abschied bevor. Vielen Behinderten, die rund um die Uhr betreut werden, fehlt dann über Monate der Zivi.

... Die Wehrstrukturkommission schlägt vor, nur noch 30.000 Männer einzuberufen - das Ende der Wehrpflicht. Dies ist vorerst unwahrscheinlich. Doch was ist, wenn statt derzeit 130.000 Rekruten nur noch 80.000 eingezogen werden, die einen oder zwei Monate kürzer dienen? Dann müssten der Wehrgerechtigkeit wegen auch Dauer und Umfang des Zivildiensts weiter gekürzt werden. Irgendwann ist es aber sinnlos, junge Leute hastig anzulernen und dann zu entlassen - ein Gewehr zu putzen kann man in einer Woche lernen, einen Schwerstbehinderten zu betreuen nicht. Es ist auch nicht mehr gerecht, einen zufällig ausgewählten kleinen Teil eines Jahrgangs dienen zu lassen. Schließlich: Was ist, wenn die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes, dass Frauen Dienst an der Waffe tun dürfen, dazu führt, dass die Bundeswehr eine Truppe männlicher und weiblicher Freiwilliger wird? Dann hat der Zivi ausgedient.

... Wenn er (der Zivi) nicht ganz verschwindet, so wird er doch selten werden; sein Dienst wird zu dem schrumpfen, was er am Anfang war: Ergänzung, nicht Stütze des Sozialsystems. Wenn Politik und Wohlfahrtsverbände klug sind, planen sie jetzt schon den Abschied vom Zivi. Am einfachsten wäre es auf den ersten Blick, ein soziales Pflichtjahr für Frauen und Männer einzuführen. Dagegen steht die Verfassung: Artikel 12 des Grundgesetzes erlaubt einen solchen Dienst nur ausnahmsweise; ein Pflichtjahr fällt nicht unter die Ausnahmen. Ein allgemeiner Dienst würde zudem die Frauen benachteiligen - noch immer sind sie es, die Kinder großziehen und später Angehörige pflegen.

... Eine Alternative haben nun die Grünen vorgeschlagen: Sie wollen die Zivis durch Profis ersetzen. Wenn man die 2,7 Milliarden Mark, die der Zivildienst im Jahr kostet, für neue Stellen in der Pflege verwenden würde, könnten mehrere zehntausend Menschen in Lohn und Brot gebracht werden. Doch die Rechnung funktioniert nur, wenn 70 Prozent der geschaffenen Stellen mit Ungelernten besetzt werden - kaum realisierbar. Die Professionalisierung wird also nur in kleinem Umfang geschehen können.

Vor allem bleibt die Frage: Soll mit dem Zivildienst auch das gesellschaftliche Engagement verschwinden, das sich entwickelt hat - trotz des faktischen Zwangs zum Dienst? Zu den Leistungen des Zivildienstes zählt, dass Millionen junger Männer in Bereichen gearbeitet haben, in denen sie sonst nie gearbeitet hätten, dass sie Not und Elend, Krankheit und Alter gesehen haben, dass sie geholfen haben, wo sie sonst vorbeigegangen wären. Der Wert solcher Erfahrungen für das Humankapital einer Gesellschaft ist kaum hoch genug anzusetzen.

... Wenn freiwillige Arbeit einen Teil der Lücke schließen soll, die der Abschied vom Zivi hinterlässt, muss sie aber konsequenter gefördert werden. Warum soll ein Bewerber für den öffentlichen Dienst nicht bessere Chancen haben, wenn er freiwillig gearbeitet hat? Ein Medizinstudienplatz nicht an ein Jahr Pflegedienst geknüpft werden? Oder das Ehrenamt mit einer höheren Rente belohnt werden? Zu teuer, zu kompliziert, hießen bislang die Gegenargumente. Das Bewusstsein, dass der Zivildienst ein Auslaufmodell ist, könnte zum Umdenklen führen.

Zu weiteren Artikeln, Dokumenten und Berichten zum Thema Bundeswehr auf der
Bundeswehr-Seite

Zur Aktuell-Seite

Zurück zur Homepage