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Anhörung im Bundestag zur gesetzlichen Rehabilitierung der Deserteure der Wehrmacht

Stellungnahmen der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz und der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK)

Im Folgenden dukumentieren wir zwei Stellungnahmen, die am 24. April 2002 anlässlich der Anhörung im Deutschen Bundestag über die gesetzliche Rehabilitierung der Deserteure der Wehrmacht abgegeben wurden.


Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V.:

Für die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz nehme ich wie folgt Stellung:

Die Wehrmachtsjustiz hat Hitlers Meinung "Der Soldat kann sterben, der Deserteur muß ster-ben" in die Tat umgesetzt: Sie hat an unseren Opfern die blutigste juristische Verfolgung der deutschen Geschichte verbrochen: Keiner der Kriegsrichter wurde je dafür bestraft - im Ge-genteil - sie stiegen auf bis zu Bundesrichtern. Sie haben die Aufhebung unserer Urteile - und damit ihre eigene Strafverfolgung - stets verhindert. Erst als sie ihren Einfluss verloren, konnte das Bundessozialgericht in seinem Grundsatzurteil vom 11. September 1991 das ganze Aus-maß dieser Terrorjustiz offen legen: So "wurden nach inzwischen gewonnenen Forschungser-gebnissen im Zweiten Weltkrieg von Wehrmachtsgerichten etwa 30.000 Todesurteile (hochge-rechnet, einschließlich standesrechtlicher Erschießungen sowie der Urteile gegen Zivilisten und Kriegsgefangene sogar 50.000) verhängt". "Die massenhafte Verhängung der Todesurteile zielte auf allgemeine Abschreckung und sollte um jeden Preis von allen Soldaten auch gegen-über sinnlosen Befehlen unbedingten Gehorsam erzwingen und jegliche Abweichung oder Verweigerung mit dem Tode bestrafen." Die Gesamtbilanz der Verurteilungen erkläre sich - so das BSG-Urteil - "nur vor dem Hintergrund einer zur Normalität gewordenen Perversion des Rechtsdenkens... Denn die Todesstrafe wurde um der Kriegsführung Willen so zwangsläu-fig verhängt wie in den Urteilen des Volksgerichtshofes".

Der Bundesgerichtshof (5. Strafsenat Berlin) stellte in seinem Grundsatzurteil vom 16. November 1995 fest, dass die Richter des Volksgerichtshofs sowie die Richter der Kriegs-gerichte und Sondergerichte nicht zu Unrecht "Blutrichter" genannt werden und "sie sich we-gen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen hätten verantworten müssen". Welche Verbrechen die Wehrmachtsrichter begingen, möchte ich an meiner Verfolgung verdeutlichen:


Ich wurde 1940 Soldat und desertierte 1942 zusammen mit meinem Freund Kurt Oldenburg. Wir wurden nach 10 Stunden an der Grenze verhaftet und in Bordeaux zum Tode verurteilt - innerhalb von 40 Minuten. Während der Verhöre und auch noch in der Todeszelle wurde ich auf Weisung der Wehrmachtsrichter gefoltert, weil ich meine französischen Freunde, die uns geholfen hatten, nicht verraten wollte und auch nicht verraten habe. Nach sieben Wochen wurde ich zu 12 Jahren Zuchthaus begnadigt - zu verbüßen nach Kriegsende, vorher KZ und Strafbataillon. Von der "Begnadigung" erfuhr ich nichts. Ich lag 10 Monate in der Todeszelle, Tag und Nacht an Händen und Füßen gefesselt. Am 29. April 1943 wurde ich dem Komman-danten vorgeführt und es wurde mir mitgeteilt, dass ich am 20. August 1942 begnadigt worden war (Anlage) - eine Foltermethode der Wehrmachtsjustiz. Über mehrere KZs kam ich zum Strafbataillon. Diese Bataillone wurden nur noch an der zusammen-brechenden Ostfront dort eingesetzt, wo vorher mit der sogenannten "verbrannten Erde" alles niedergemacht worden war - ganze Dörfer und ihre Einwohner. Fast keiner von uns hat das Grauen überlebt - auch mein Freund Kurt nicht. Ich wurde verwundet und erlebte total zerstört das Kriegsende. Wir dachten, dass unsere Desertion nun anerkannt werden würde, aber wir wurden weiterhin als Feiglinge und Vaterlandsverräter beschimpft und bedroht, bis die meisten von uns traumati-siert und gedemütigt verstarben. Erst mit der Friedensbewegung bekamen wir unsere ersten Verbündeten und die ersten Deserteursdenkmäler. Im Oktober 1990 konnten wir endlich unse-re Bundesvereinigung gründen - 37 Männer, fast alle gebrechlich, keiner hatte Anschluss an die Gesellschaft gefunden. Seitdem kämpfen wir um die Aufhebung unserer Urteile - um unsere späte Würde.

Wir sind im Deutschen Bundestag immer wieder gescheitert, bis dieser mit seinem Beschluss vom 15. Mai 1997 zur Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure, Kriegsdienstverweigerer und Wehrkraftzersetzer feststellte: "Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernich-tungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen." Die Ver-urteilungen wurden mit dem Beschluss für Unrecht erklärt. "Anderes gilt" jedoch, "wenn die damalige Handlung auch heute Unrecht wäre." Da Desertion auch heute strafbares Unrecht ist, sind Deserteure, anders als Kriegsdienstverweigerer und Wehrkraftzersetzer, mit dem Be-schluss nicht rehabilitiert. Und so hat der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Norbert Geis noch am selben Tag den Medien erklärt, dass Baumann nicht rehabilitiert sei, da er aus Angst vor Strafe desertierte (Anlage), so, als ob wir den Kriegsrichtern unsere Motive sagen konnten, wenn wir überleben wollten. Der ehemalige Bundesjustizminister Prof. Dr. Schmidt-Jortzig (FDP) wollte uns Deserteure mit seinem Gesetzentwurf vom 02. Juli 1997 - der am 04. März 1998 seine 1. Lesung hatte - aber doch gesetzlich rehabilitieren. Das war mit der CDU/CSU-Fraktion nicht zu machen: Am 27. Mai 1998 wurde nur die Aufhebung unserer Urteile aus dem Gesetzentwurf gestrichen, und am 28. Mai 1998 wurde das Gesetz zur Aufhebung der NS-Unrechtsurteile (NS-AufhG) in 3. Lesung verabschiedet.

Am 20. Oktober 1998 wurde uns mit einer rot/grünen Koalitionsvereinbarung zugesagt, das Gesetz für unsere Opfer zu verbessern. Wir haben lange warten müssen und viele unserer letz-ten Betroffenen sind noch vorbestraft verstorben. Darum hat die PDS-Fraktion vor einem Jahr einen Antrag zu unserer gesetzlichen Rehabilitierung in den Bundestag eingebracht. Nun liegt ein guter rot/grüner Gesetzentwurf zur Aufhebung unserer Urteile vor, und wir danken allen Abgeordneten der SPD, der Grünen und der PDS, aber auch vielen Abgeordneten der FDP für ihren langen Kampf mit uns ganz herzlich.

Diejenigen CDU/CSU Abgeordneten, welche die Wehrmachtsdeserteure nicht pauschal reha-bilitieren wollen, sollten wissen, dass sie dafür keine Zustimmung in der Bevölkerung mehr finden. Ich habe immer wieder erlebt, dass die Behauptung, wir Deserteure könnten nicht reha-bilitiert werden, weil damit die anständigen Soldaten ins Unrecht gesetzt werden, als Skandal empfunden wird. Auch das Argument, wir Deserteure können nicht rehabilitiert werden, weil wir unsere Kameraden im Stich gelassen haben, sorgt nur noch für Empörung, auch im Ausland, wie ich jetzt bei Sendungen der Deutschen Welle erlebt habe. Denn abgesehen davon, dass die meisten Desertionen nach Lazarettaufenthalten oder Heimaturlaub erfolgten, weil die Soldaten nicht mehr in das Grauen und Morden der Front zurück wollten, lässt sich doch nicht ernsthaft bestreiten, dass Millionen Zivilisten, KZ-Insassen und auch Soldaten nicht mehr zu sterben gebraucht hätten, wenn die Soldaten massenweise aus dem deutschen Vernich-tungskrieg desertiert wären. Es ist für mich ein erschreckender Gedanke, wenn das Leben der "Kameraden" in diesem Krieg mehr gewertet werden soll als das Leben von Millionen KZ-Insassen. Darum fordern wir Betroffenen, dass auch die Verurteilungen wegen Kriegsverrats aufgehoben werden, denn was ist verurteilenswert am Verrat eines Vernichtungskrieges.

Aber auch das Argument, unsere Urteile können darum nicht pauschal aufgehoben werden, weil die Wehrmachtsdeserteure unter Umständen auch zusätzliche schwere Straftaten began-gen haben könnten, trifft schon darum nicht zu, weil § 3 des NS-AufhG besagt, dass die Urteile der NS-Verfolgten nicht aufgehoben sind, wenn zusätzliche schwerere Straftaten begangen wurden. Dieser Vorbehalt gilt für alle NS-Verfolgten und wird bei einer pauschalen gesetzli-chen Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure auch für sie gelten.

Wenn allerdings der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Norbert Geis in seiner Presseerklärung vom 01. Februar 2002 behauptet, wir könnten nicht rehabilitiert werden, weil auch "desertiert wurde, um z. B. einer gerechten Strafe wegen einer schweren Straftat, u. U. gegen Zivilisten aus den besetzten Gebieten, zu entgehen", so ist diese Verhöhnung der Opfer nicht mehr hinzunehmen. Denn mit dem von Kriegsrichtern verfassten Barbarossa-Kriegs-gerichtsbarkeitserlass wurden alle Verbrechen deutscher Soldaten an der sowjetischen Zivil-bevölkerung außer Strafverfolgung gesetzt (Anlage). Über 25 Millionen Sowjetbürger - meist Zivilisten - fielen dieser Barbarei zum Opfer - in 4 Jahren der größte Völkermord in der Ge-schichte der Menschheit. Wir haben viele Opfer, die die Vernichtung der Zivilbevölkerung mit der sogenannten "verbrannten Erde" nicht mitmachen konnten und desertierten - sie wurden als Feiglinge erschossen. Die diese Verbrechen an der Zivilbevölkerung mitmachten, hatten keine "gerechte Strafe" zu erwarten, sondern eine Auszeichnung oder Beförderung.

Wir haben uns bei unserem Umgang mit Wehrmachtsdeserteuren daran zu orientieren, wie demokratische Staaten im 2. Weltkrieg mit ihren Deserteuren umgegangen sind: Die USA ha-ben im 2. Weltkrieg 763 Todesurteile gefällt und 146 vollstreckt, davon eins wegen Desertion. Großbritannien hat 40 Todesurteile vollstreckt, 36 wegen Mordes und keins wegen Desertion. Viele dieser Verurteilten waren zuvor wegen ihrer Straftaten flüchtig. Sie wurden aber nicht (oder nur in der Nebensache) wegen Desertion verurteilt, sondern wegen Mordes oder anderer Kapitalverbrechen. In meinem Urteil steht aber: "Die Flucht von der Fahne ist und bleibt das schimpflichste Verbrechen, das der deutsche Soldat begehen kann". Mord war für die Wehr-machtsrichter nicht so schimpflich wie Desertion - eine "Perversion des Rechtsdenkens", welche zu den beispiellosen Exzessen gegen Wehrmachtsdeserteure führte.

Mit dem Gesetz zur Aufhebung der NS-Unrechtsurteile vom 25. August 1998 wurden Millio-nen NS-Unrechtsurteile pauschal gesetzlich aufgehoben - schwere Verurteilungen und Baga-tellfälle. Solange die schwersten Verurteilungen, allein über 30.000 Todesurteile - verhängt gegen die Verweigerer aus Hitlers Krieg - nicht pauschal aufgehoben sind, ist mit diesem Ge-setz schweres neues Unrecht festgeschrieben.

Ludwig Baumann (Vorsitzender)


Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK)

... zunächst vielen Dank für meine Einladung als Sachverständiger zu dieser Anhörung. Ich bin Geburtsjahrgang 1949, seit 1972 anerkannter Kriegsdienstverweigerer und habe 1972/73 mei-nen Ersatzdienst bzw. Zivildienst abgeleistet. Nach Abschluss meiner Ausbildung als Lehrer für Gemeinschaftskunde und Geschichte arbeite ich seit 1982 als angestellter Geschäftsführer der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK), in der die kirchlichen Beauftragten für Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende in den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) bundesweit zusammengeschlossen sind.

Das Thema dieser Anhörung beschäftigt mich ehrenamtlich und beruflich seit längerer Zeit. Die private, die öffentliche und die parlamentarische Diskussion darüber, unter welchen Um-ständen die Verweigerung von Kriegsdiensten, wozu bei fehlendem Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung selbstverständlich auch die Desertion gehört, geboten ist, halte ich für äußerst notwendig. Schon Martin Luther hat - im Jahr 1542 angesichts der sog. Wurzener Fehde - beeindruckend klar festgestellt, dass "es wider Gott und Recht ist" unter "unfriedli-chen Fürsten" im Krieg "gehorsam zu sein oder den Eid zu halten". Es ist bezeichnend für die Diskussion um Krieg und Frieden in Kirche und Gesellschaft, dass diese Aussage des späten Martin Luther bis heute weithin unbekannt geblieben ist. Die Diskussion um die Rehabilitie-rung der Wehrmachtsdeserteure habe ich stets als einen sehr wichtigen Beitrag zur Gewissensschärfung für alle, die mit der Frage der Militärdienstleistung konfrontiert sind, wahrgenommen: Ist sie doch eine Art Gradmesser dafür, wie zivil oder wie militärisch geprägt die geistige Befindlichkeit der Bundesrepublik Deutschland ist. Insoweit bin ich als engagierter Kriegsdienstverweigerer allen dankbar, die diese Diskussion - wenn auch aus durchaus unter-schiedlichen Motiven - wachgehalten haben. Ich hoffe sehr und werde mich weiter dafür ein-setzen, dass sie auch nach Abschluss des hier anstehenden Gesetzgebungsverfahrens nicht aufhören wird. Die Tatsache, dass - vor 10 Jahren kaum vorstellbar - in jüngster Zeit deutsche Soldaten weltweit in kriegerischen Konflikten zum Einsatz kommen, macht eine Weiterführung dieser Diskussion ganz einfach nötig, um der Gefahr eines missbräuchlichen Einsatzes von Soldaten entgegenzuwirken. Diese Gefahr besteht bei Trägern von Waffengewalt natur-gemäß immer, auch bei Soldaten demokratisch legitimierter Staaten und sogar bei völker-rechtlich legitimierten Einsätzen. Zu diesen darf es - wenn überhaupt - nur dann als ‚ultima ratio' kommen, nachdem zuvor alle Versuche zu friedlicher Streitbeilegung gescheitert sind. Daran mangelt es mitunter, zumal das gesellschaftliche Bewusstsein für die nachhaltige Ent-wicklung detaillierter politischer Schritte für die ‚prima ratio' von deeskalierenden Maßnah-men auch hier zu Lande noch unterentwickelt ist. Es kann folglich nur im Interesse aller Beteiligten - zuerst der Soldaten selbst, aber auch der entsendenden Staaten - sein, so präzise wie irgend möglich über die völkerrechtliche Legitimation, über Ziel und Auftrag eines Militä-reinsatzes Klarheit zu gewinnen und alle vorhersehbaren Details und Modalitäten in Erwägung zu ziehen. Wie wäre das in einer Demokratie ohne kontroverse und öffentliche Diskus-sion möglich? Diese setzt eine lebendige Streitkultur voraus, nicht nur weil die Wahrheit in der Regel schon vor der Anwendung von Waffengewalt das erste Opfer ist, sondern auch weil die Staaten durch ihre Fürsorgepflicht gegenüber ihren Soldatinnen und Soldaten dazu ver-pflichtet sind. Darauf werde ich am Schluss meiner Stellungnahme noch zurückkommen.

Zunächst möchte ich mit dieser Stellungnahme an den Beginn der Parlamentarischen Bera-tung, die den beiden vorliegenden Gesetzentwürfen vorausging, erinnern (1), dann eine kurze subjektive Bilanz der Diskussion ziehen (2), die Unterstützung der Rehabilitierungsforderung durch die Evangelische Kirche Deutschlands erwähnen (3) und mit einer friedensethisch-rechtlichen Anmerkung zur Notwendigkeit einer pauschalen Rehabilitierung der Wehr-machtsdeserteure schließen (4).

1. Erinnerung

In der öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages zur "Wieder-gutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht" am 24.6.1987 habe ich damals zu Gunsten der Rehabilitierung der Kriegsdienstverweigerer, Wehrkraftzersetzer und Deserteure der Wehrmacht sprechen können. Die Anregung unserer Arbeitsgemeinschaft war, diese Opfer der Wehrmachtsjustiz "zuerst moralisch und gesellschaftlich, aber auch materiell (finanziell) zu rehabilitieren." Die moralische und gesellschaftliche Rehabilitierung hatten wir zuerst genannt, weil wir nach über 40 Jahren Demütigung dieser Opfer darin die wichtigste Bringschuld der Bundesrepublik Deutschland gesehen haben, den Friedensauftrag des Grund-gesetzes nach innen und nach außen zu verdeutlichen und - zugleich im Sinne der Verfassung und des Soldatengesetzes - eindeutig klarzustellen, dass in Deutschland die Verweigerung der Mitwirkung an einem verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg ungeachtet ihrer Motive pauschal gerechtfertigt ist. Dass diese Klarstellung für die Kriegsdienstverweigerer und Wehrkraftzersetzer erst zehn Jahre später mit der Entschließung der Bundesregierung vom 15. Mai 1997 erfolgen würde, hätten wir damals nicht erwartet, zumal das Menschen-recht der Gewissensfreiheit zur Kriegsdienstverweigerung bereits seit 1949 im Grundgesetz verankert ist. Dass die eindeutige gesetzliche Rehabilitierung der Deserteure der Wehrmacht erst jetzt erfolgen soll und immer noch Vorbehalte (z.B. bezüglich der Verurteilungen wg. sog. Kriegsverrats) aufweist, stimmt uns noch nachdenklicher.

Die von uns damals vorgeschlagenen Punkte, wie wir uns eine Rehabilitierung vorstellen könnten, sind im Protokoll der Anhörung und in der Veröffentlichung des Deutschen Bun-destages (Hrsg.), Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht, Bonn 1987, S. 247-249, und mit vielen weiteren Beiträgen zur Sache in der Publikation von Wolfram Wette (Hrsg.), Deserteure der Wehrmacht: Feiglinge, Opfer, Hoffnungsträger? - Dokumentation eines Meinungswandels, Klartext-Verlag, Essen 1995, nachlesbar.

2. Bilanz

Nach fast 15 Jahren möchte ich auf unsere damaligen Vorschläge für eine gesellschaftliche Rehabilitierung von Kriegsdienstverweigerern und Wehrmachtsdeserteuren nur sehr kurz ein-gehen und eine Art Bilanz ziehen:
  • Kriegsdienstverweigerung, Wehrkraftzersetzung und auch Desertion aus der Wehrmacht sind aus unserer Sicht öffentlich inzwischen - bis weit in die zivile Gesellschaft hinein - als Beiträge zum Widerstand anerkannt; in militärgeneigten Kreisen und in Teilen der wissen-schaftlichen Diskussion bleibt dies - nicht nur wegen Definitionsschwierigkeiten beim Wi-derstandsbegriff - umstritten; eine amtliche, offizielle Neubewertung und Anerkennung ist bis heute - wenn sie irgendwo stattfindet - eine eher seltene lokale oder regionale Ausnahme.
  • Von einer Würdigung der Kriegsdienstverweigerer, Wehrmachtsdeserteure und anderen Opfern der NS-Militärjustiz bei geeigneten Anlässen - z.B. bei den jährlichen offiziellen (Bundes-)Gedenkfeiern am 27. Januar oder 20. Juli - kann bisher überhaupt keine Rede sein. Sogar begründeten einschlägigen Bitten um explizite Erwähnung dieser Opfergruppe im Vor-feld solcher Veranstaltungen wurde nicht entsprochen. Auf regionaler oder örtlicher Ebene werden diese Beiträge zum Widerstand aber durchaus gelegentlich gewürdigt, sie sind dann regelmäßig mit dem eingangs angedeuteten produktiven Ergebnis reger Diskussion verknüpft.
  • Öffentliche Aufrufe an die Opfer, dass sie nun rehabilitert sind und Anspruch auf Entschä-digung haben, hat es - mit Ausnahme des Hinweises auf den Ablauf der Antragsfrist - nicht gegeben. Die schließlich gewährte pauschale Entschädigung ist - infolge der einmaligen Zahlung von 7.500,00 DM - von den wenigen, die sie (noch) erhalten haben, zum Teil als entgegenkommende Geste empfunden worden. Wir wissen aber von Opfern, die sie abgelehnt oder - aus materieller Not - nur mit gemischten Gefühlen angenommen haben. Ein Mangel ist auch, dass viele Angehörige von der Entschädigungsmöglichkeit ausgeschlossen geblieben sind.
  • Die Einrichtung einer bundeseigenen "Forschungsstelle Gewaltverzicht" hat nicht stattge-funden, die angeregte aus Bundesmitteln geförderte Erforschung der "Geschichte der Kriegs-dienstverweigerung, gewaltfreien Handelns und ziviler Friedensdienste" findet in Deutschland lediglich auf privater Basis oder im universitären Bereich statt, auch dort kaum öffentlich. Hier zeigt sich, dass in der Politik unverändert militärisch geprägte Sicherheitsvorstellungen Vorrang haben. Während zur Erforschung und (Weiter-)Entwicklung von Waffensystemen enorme Mittel aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung stehen, sind für Methoden gewaltfreier Konfliktbearbeitung keine oder - erst seit drei Jahren - marginale Geldmittel vorhanden. Eine aus Bundesmitteln zentral geförderte Koordinierung "gewaltfreier Konfliktbearbeitung" fehlt, obwohl auch die Bundesrepublik Deutschland 1990 die ‚Charta von Paris für ein neues Euro-pa' unterzeichnet hat, die feststellt, dass die "friedliche Beilegung von Streitfällen eine we-sentliche Vervollständigung der Pflicht der Staaten ist, sich der Androhung oder Anwendung von Gewalt zu enthalten." Die Dimension, den individuellen Gewaltverzicht gerade bei jun-gen Menschen zu fördern und dafür zu motivieren, Konflikte durch Empathie, Fantasie und Verweigerung gegenüber vermeintlich normaler Eskalation zur Gewalt zu regeln, ist bisher im Denken und Handeln staatlicher Sicherheitsvorsorge nahezu ausgeblendet. Stattdessen wird an der überkommenen Wehrpflicht festgehalten, in der junge Menschen bei der Bundes-wehr die Anwendung von Waffengewalt zum Verletzen und Töten anderer Menschen als staatlich gewollte Normalität erlernen.
  • Eine Erforschung der Geschichte von Kriegsdienstverweigerern, Wehrmachtsdeserteuren der NS-Zeit auf lokaler oder regionaler Ebene liegt nur für sehr wenige Orte oder Regionen vor, in denen wissenschaftliche LehrerInnen und ForscherInnen Anstöße zu diesem Thema gegeben haben. Eine gezielte Förderung durch Bundes- oder Landesmittel hätte hier sicher mehr Forschungsarbeit ermöglichen können, die zu Lebzeiten von Zeitzeugen besonders er-giebig und daher dringlich ist.
  • Als erfreuliches Resümee kann und muss aber abschließend festgestellt werden, dass nicht wenige wissenschaftliche Arbeiten entstanden sind, die diese Themen auch ohne Förderung aufgegriffen haben - meist infolge zuvor erwähnter öffentlicher Diskussionen. Insoweit hat sich die - damals von uns beklagte - Forschungs- und Literaturlage deutlich zum Positiven gewandelt. Das gilt auch für die Berichterstattung in Zeitungen und Zeitschriften, für zahllose Rundfunk- und Fernsehbeiträge, die - seit den wichtigen Initiativen für örtliches Gedenken an Kriegsdienstverweigerer und Wehrmachtsdeserteure Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre - diesen Themen deutlich mehr Aufmerksamkeit und Raum gegeben haben. Von besonderer Bedeutung dafür ist auch die 1990 erfolgte Gründung der "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V." gewesen und das sehr engagierte und beharrliche Wirken ihres Vorsitzen-den, Herrn Ludwig Baumann, der als Zeitzeuge nicht zuletzt im Umfeld der für die Aufar-beitung deutscher Geschichte äußerst verdienstvollen Ausstellung "Verbrechen der Wehr-macht" eine intensive Vortrags- und Öffentlichkeitsarbeit durchgeführt hat.

3. Unterstützung durch die EKD

Der angedeutete Meinungswandel, dass innerhalb dieses Zeitraums Wehrmachtsdeserteure für viele Menschen in Deutschland zu Hoffnungsträgern für eine zivile, freiheitliche Gesellschaft geworden sind, lässt sich auch anhand der Beratung dieses Themas in der Evangelischen Kir-che Deutschlands (EKD) zusammenfassend, kurz skizzieren:

Die Stellungnahme der EKD 1987 zu Gunsten der Wiedergutmachung an Opfern nationalsozialistischer Verfolgung nahm einleitend Bezug auf die biblische Mahnung "Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind." (Sprüche Salomons 31,8) Die Kriegsdienstverweigerer, Wehrkraftzersetzer und Deserteure der Wehrmacht und weitere Opfer der NS-Militärjustiz waren damals stumm, sie hatten weder Organisation noch Stimme. Infolge ihrer Arbeit zu diesem Thema wurde die EAK als evangelisch-kirchliche Einrichtung für Kriegsdienstverweigerer vom Bundestag gesondert um Stellungnahme gebeten. In der kirchenamtlichen EKD-Stellungnahme wurden die "wegen Kriegsdienstverweigerung, Fahnenflucht oder Zersetzung der Wehrkraft Verurteilten" als eine vom Bundesentschä-digungsgesetz - nach herrschender Auslegung - nicht anerkannte Opfergruppe immerhin unter anderen Opfergruppen erwähnt. Auch wurde in diesem Text auf die Unterscheidung hinge-wiesen, "ob sich jemand in einem Rechtsstaat der Abwehr eines verbrecherischen Krieges oder in einem diktatorischen Staat der Führung eines solchen entzieht". Die dort aufgezeigte Möglichkeit, durch eine weniger enge Auslegung des Bundesentschädigungsgesetzes noch zu einer Einbeziehung dieser Opfer in die bestehenden Entschädigungsregelungen zu gelangen, blieb aber erfolglos. In der Folgezeit wurde mehrmals durch entsprechende Beschlüsse der EKD-Synode daran erinnert, dass eine gesetzliche Regelung mit dem Ziel einer Rehabilitierung und Entschädigung immer noch ausstehe. Die EKD-Synode von Borkum 1996 bezog schließlich in einer Kundgebung zur Desertion und Kriegsdienstverweigerung im 2. Weltkrieg deutlich Position und erklärte:

"1. Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsoziali-stischen Deutschland verschuldetes Verbrechen. Auch die Kirche, die das seinerzeit nicht erkannt hat, muß das heute erkennen.

2. Wer sich weigert, sich an einem Verbrechen zu beteiligen, verdient Respekt. Schuldsprü-che aufrechtzuerhalten, die wegen solcher Verweigerungen gefällt wurden, ist, seit der ver-brecherische Charakter der nationalsozialistischen Diktatur feststeht, absurd. Sich der Betei-ligung an einem Verbrechen zu entziehen, kann nicht strafwürdig sein. ... Mehr als fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Untersuchungen über jede einzelne Desertion anzustellen, ist heute praktisch unmöglich. ...

8. Eine Rehabilitierung der Opfer der Wehrmachtsjustiz kann keine negativen Wirkungen auf die Bundeswehr haben. Sie ist die Armee eines demokratischen Rechtsstaates. Das Grundge-setz verbietet jede auf einen Angriffskrieg angelegte Handlung. Den Soldaten ist darüber hin-aus durch das Soldatengesetz verboten, verbrecherische Befehle zu befolgen." ...

Diese Entschließung der EKD-Synode war offensichtlich ein fruchtbarer Impuls für das Zu-standekommen der Bundestagsentschliessung vom 15. Mai 1997. Diese hat den wegen Kriegsdienstverweigerung, Desertion/Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung durch die Wehrmachtsjustiz verurteilten Opfern "Achtung und Mitgefühl" ausgesprochen. Allerdings ließ diese Entschließung, wie auch das später folgende NS-Unrechtsaufhebungsgesetz (v. 25. August 1998) Fragen nach der Reichweite bzw. Geltung für die Wehrmachtsdeserteure offen: Der Wortlaut des Gesetzes sah keine eindeutige gesetzliche Rehabilitierung vor, sondern die-se musste ggf. erst durch Antragstellung und Einzelfallprüfung ermittelt und belegt werden - eine Unzumutbarkeit, gegen die sich diese NS-Opfergruppe zurecht gewehrt hat. Darin wurde sie stets von der EAK unterstützt, die sich dabei im Einvernehmen mit der EKD wusste. Anlässlich der Enthüllung eines Gedenksteins für die Kriegsdienstverweigerer und Deserteure der Wehrmacht in der Gedenkstätte Buchenwald am 15. Mai 2001 schrieb der Ratsvorsitzen-de der EKD, Präses Manfred Kock, in seinem Grußwort:

"Die gesetzliche Aufhebung der Urteile, die gegen Kriegsdienstverweigerer und Deserteure der Wehrmacht ergangen waren, steht immer noch aus. Der Bundestag hat sich seinerzeit nicht darauf verständigen können, bei der nachträglichen Beurteilung der Wehrmachtsdeser-tion von einer pauschalen Unschuldsvermutung auszugehen wie in der Kundgebung der EKD -Synode 1996 angeregt. So ist es bei der staatsanwaltschaftlichen Einzelfallprüfung geblieben.
Die Erinnerung an die zahlreichen Opfer der nationalsozialistischen Militärjustiz erhält durch den Gedenkstein in Buchenwald einen Ort, der auch kommenden Generationen von jungen Menschen Gelegenheit zum Gedenken und Anstoß zur eigenen Gewissensbildung sein soll. Mögen sie alle nie wieder vor der Entscheidung stehen, vor der junge Männer und Ju-gendliche in den Jahren 1939 und 1945 gestanden haben. Möge die Erinnerung an die, die damals NEIN gesagt haben, ihnen heute und in Zukunft ein Wegweiser bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung sein."

4. Friedensethisch-rechtliche Anmerkung

Die eindeutige gesetzliche Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure trägt endlich auch rechtlich dazu bei, diejenigen "kleinen Leute" ins Recht zu setzen, die ihre Beteiligung an einem verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg aufkündigten. Nachdem sie erkannt hatten, an welchem Unrecht sie beteiligt waren, haben sie ihre individuelle Verantwortung als Soldaten damals wahrgenommen und haben NEIN gesagt. Mit allen schrecklichen Konse-quenzen, die diese persönliche Entscheidung für sie hatte. Unabhängig von den Motiven ihres Handelns haben alle Verweigerer des Militärdienstes Zeichen gesetzt und wichtige Anstöße für eine zivile Entwicklung gegeben. Humanitäres Völkerrecht und nationales Recht haben durch sie wichtige Impulse erhalten. Die individuelle Verantwortlichkeit auch für das Han-deln eines Soldaten steht unter dem Schutz des Menschenrechts der Gewissensfreiheit. In Deutschland wird dies durch Artikel 4 Absatz 3 GG (Kriegsdienstverweigerung aus Gewis-sensgründen) ausdrücklich hervorgehoben. § 11 des Soldatengesetzes verpflichtet Soldaten zu Ungehorsam gegenüber Befehlen, die die Menschenwürde verletzen. Die Gewissensfreiheit zur Kriegsdienstverweigerung als Grundrechtsnorm geht historisch auf den Blutzoll der Ver-weigerer des Dienstes in der Wehrmacht zurück.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind Erfahrungen gemacht worden, dass auch Soldaten demo-kratischer Armeen missbräuchlich eingesetzt werden können und dass dem Militärsystem die Gefahr missbräuchlichen Gewaltgebrauchs innewohnt. All dies muss - national und interna-tional - zu verbindlichen rechtlichen Regelungen führen, die diesen Gefahren entgegenwirken. Internationale Organisationen bemühen sich darum. Dafür sei ein Beispiel genannt:

Der Verhaltenskodex zu politischen und militärischen Aspekten der Sicherheit, den die Mit-gliedsstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 1994 in Budapest beschlossen und dessen größtmögliche Verbreitung zugesichert haben, sagt dazu Folgendes:
"30. Jeder Teilnehmerstaat wird die Angehörigen seiner Streitkräfte mit dem Humanitären Völkerrecht und den geltenden Regeln, Übereinkommen und Verpflichtungen für bewaffnete Konflikte vertraut machen und gewährleisten, daß sich die Angehörigen der Streitkräfte der Tatsache bewußt sind, daß sie nach dem innerstaatlichen und dem Völkerrecht für ihre Handlungen individuell verantwortlich sind. 31. Die Teilnehmerstaaten werden gewährleisten, daß die mit Befehlsgewalt ausgestatteten Angehörigen der Streitkräfte diese im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht und dem Völ-kerrecht ausüben und daß ihnen bewußt gemacht wird, daß sie nach diesem Recht für die un-rechtmäßige Ausübung ihrer Befehlsgewalt individuell zur Verantwortung gezogen werden können und daß Befehle, die gegen innerstaatliches Recht und das Völkerrecht verstoßen, nicht erteilt werden. Die Verantwortung der Vorgesetzten entbindet die Untergebenen nicht von ihrer individuellen Verantwortung."

Auch vor dem Hintergrund dieser für alle OSZE-Mitgliedsstaaten unmittelbar politisch bin-denden Vereinbarung darf der Deutsche Bundestag denjenigen, die sich dem verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg der Wehrmacht durch Desertion entzogen haben, die ein-deutige und pauschale rechtliche Rehabilitierung nicht versagen. Angesichts der Einsätze deutscher Soldaten in aller Welt ist ebenfalls diese lange überfällige Klarstellung endlich geboten.

Günter Knebel
Geschäftsführer Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK)


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