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"Bundeswehr im Einsatz: Krisenherd Afghanistan"

Auszüge eines Gesprächs zwischen Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt und Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg

Im Folgenden dokumentieren wir eine Sendung der NDR-Reihe "Streitkräfte und Strategien" vom 13. März 2010. Die ganze Sendung bestand diesmal nur aus einem Beitrag.

Moderation Ulrike Bosse
"Bundeswehr im Einsatz: Krisenherd Afghanistan": Der Titel, den die "Atlantik-Brücke" für ihre Diskussionsveranstaltung in der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität gewählt hatte, lag nahe - die Paarung allerdings, die der Vorsitzende des politischen Vereins "Atlantik-Brücke", Friedrich Merz, als Moderator an einen Tisch geholt hatte, war außergewöhnlich: Helmut Schmidt, Jahrgang 1918, Sozialdemokrat, Bundeskanzler a.D. und Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland von 1969 bis 1972 sprach mit dem heutigen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, CSU, Jahrgang 1971. Friedrich Merz moderierte das Gespräch, das NDR Info als Medienpartner begleitete. In "Streitkräfte und Strategien" präsentieren wir heute Auszüge aus der Veranstaltung, an deren Anfang Helmut Schmidt prinzipielle persönliche Positionen setzte, die er zuerst Ende Januar im SPD-Parteivorstand formuliert und anschließend in der ZEIT publiziert hatte:


Gespräch Helmut Schmidt/Karl-Theodor zu Guttenberg

Schmidt: Drei persönliche Vorbemerkungen. Zunächst erstens: Der Problem-komplex Afghanistan, Pakistan, Zentralasien, islamistischer Dschihadismus. Zu diesem Problemkomplex gibt es gegenwärtig und auf absehbare Zukunft keine überzeugende Lösung. Was Präsident Obama in großer Rede am 1. Dezember letzten Jahres in West Point angekündigt hat, das mag auf Afghanistan bezogen, das mag theoretisch funktionieren. Dass dies tatsächlich geschieht, erscheint mir als sehr unwahrscheinlich. Ich habe im Juli des Jahres 2008 in einem längeren Gespräch zu viert, der Bundeskanzlerin Frau Merkel, dem damaligen Verteidigungsminister Herrn Jung und dem damaligen Generalinspekteur Schneiderhan die weitgehende Aussichtslosigkeit des inzwischen von Präsident Obama präzisierten Vorhabens auseinandergesetzt. Ein westliches "Gewinnen" des Krieges - ich kann das nur in Gänsebeinchen zitieren - ein westliches "Gewinnen" dieses Krieges erschien damals, im Sommer 2008, bereits als erheblich unwahrscheinlicher als etwa noch zu Beginn der Operation im Jahre 2001 oder 2002. Im Sommer 2008 erschienen mir bestenfalls regionale Teilerfolge als erreichbar. Und ich habe damals meinen Gesprächspartnern die ursprüngliche deutsche Beteiligung und die deutsche Konzentration auf die Aufbauarbeit als legitim und als plausibel bezeichnet. Ich habe keineswegs für einen deutschen Abzug plädiert. Wohl aber habe ich auf die Möglichkeit eines gründlichen Stimmungsumschwungs innerhalb des deutschen Volkes hingewiesen. Einen Stimmungsumschwung, der dann auf Abzug drängen könnte.
Inzwischen, beinahe zwei Jahre später, zeichnet sich eine Tragödie im klassisch griechischen Sinne ab. Denn die Zahl der transkontinental tätigen terroristischen Dschihadisten hat in diesen zwei Jahren sehr zuge-nommen, und sie nimmt weiterhin zu. Die Tatsache, dass Obama seit seiner Wahl zum Präsidenten ein ganzes Jahr gebraucht hat, bis er sich für eine der mehreren ihm vorgelegten Alternativen, Handlungsalternativen, hat entschließen können, diese Tatsache allein hat die Unwahrscheinlichkeit des Erfolges der militärischen Intervention zusätzlich unterstrichen.
Dann will ich eine zweite, sehr persönliche Vorbemerkung machen, nur für den Fall eines theoretisch denkbaren Missverständnisses: Für mich rangiert allein das Interesse Deutschlands vor allen übrigen denkbaren Interessen in der Verfolgung des Themas. Und jedenfalls eindeutig höher als etwa das taktische Interesse einer Oppositionspartei im Deutschen Bundestag. Und die dritte und letzte Bemerkung: Das deutsche Interesse gebietet nach meiner Überzeugung, dass Deutschland sich weder innerhalb der NATO, noch innerhalb der Europäischen Union isoliert. Zum Beispiel könnte dies geschehen durch ein alleiniges oder durch ein zeitlich früheres Ausscheiden aus der gemeinsamen Intervention. Die immer noch erhebliche Funktionsfähigkeit der NATO als auch die immer noch erhebliche Funktionsfähigkeit der Europäischen Union darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. In meinen Augen bleibt es dringend geboten, alle deutschen Stellungnahmen jedenfalls mit Frankreich abzustimmen, und möglichst auch mit anderen europäischen Regierungen abzustimmen. Und ich füge hinzu, seit Obamas fulminantem Wahlkampf im Sommer und Herbst des Jahres 2008, soweit es sich auf den afghanischen Krieg bezogen hat, seit diesem Wahlkampf bis hin zu seiner großen Rede, von der ich schon sprach am 1. Dezember 2009, hat es leider keine deutsch-französische Initiative oder etwa einen gemeinsamen Ratschlag an die Adresse des amerikanischen Präsidenten gegeben. Klammer wieder zu und Schluss der Vorbemerkung.

zu Guttenberg: Herzlichen Dank, Herr Bundeskanzler, zunächst für Ihre einführenden Worte. Ich glaube, wir haben tatsächlich noch keine überzeugende Lösung für den über Afghanistan hinausreichenden Komplex gefunden, und wenn wir Afghanistan nur auf Afghanistan beschränkt denken, ist das Scheitern programmiert. Ich möchte allerdings noch ein paar Gesichtspunkte hinzufügen, zu dem, was Sie gesagt haben. Sie haben den Dschihadismus genannt, Sie haben Pakistan zu Recht benannt, Sie haben die zentralasiatischen Staaten mit ihrem Ressourcenreichtum, mit ihren allerdings auch inhärenten Problemstellungen in Bezug gesetzt. Ich würde allerdings gerne noch den Nachbarn Iran ergänzt wissen. Vor dem Hintergrund einer etwas weiter zu fassenden Klammer, verbindet sich mit dem Gesichtspunkt Pakistan auch Indien. Ich würde China auch noch mit in diesen gesamten Komplex mit eingebunden sehen. Und ein Land, das sich schon einmal bemerkenswert verhoben hat, und das in mancherlei Hinsicht, in mancherlei Hinsicht - nicht in jeder Hinsicht, aber in mancherlei Hinsicht - auch lehrreich sein kann, und das ist Russland, ist mit der Fragestellung auch gekoppelt: Kann Russland überhaupt auch eine Hilfe darstellen für die künftige Entwicklung Afghanistans, ja oder nein?
Dann haben Sie die Aussichtslosigkeit des Obama-Vorhabens genannt, und wahrscheinlich auch ein wenig mit versucht zu weisen oder zu deuten, dass damit im Zweifel nicht nur Obama gemeint ist, und die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern 43 weitere Partnernationen, die sich nicht nur, aber eben auch militärisch in Afghanistan engagieren. Und die in einem schwankenden aber doch in ei-nem gemeinsamen Boot sitzen. Und wenn man Obama Aussichtslosigkeit vorhält, muss man sich natürlich sehr schnell die Frage stellen: Trifft uns diese Aussichtslosigkeit vielleicht auch? Wenn man es auf den Satz reduzieren wollte: "Es geht um das Gewinnen eines Krieges", sogar das "militärische Gewinnen" eines Krieges, so bin ich, was das Diktum der Aussichtslosigkeit anbelangt sehr nahe bei Ihnen, weil ich nicht glaube, dass sich Afghanistan allein militärisch gewinnen lässt.
Sie haben die deutsche Konzentration auf die Aufbauarbeit als plausibel bezeichnet, im Jahre 2008. Ich glaube, die alleinige Aufbauarbeit als solche, ist keine, die sich trennen lässt von der militärischen Komponente, sondern sie ist das, was wir mühselig den Vernetzten Ansatz genannt haben, einen Comprehensive Approach, die Verbindung von zivilen und militärischen, insbesondere auch von entwicklungspolitischen Elementen. Hier wurde über viele Jahre hinweg viel geträumt und wenig verbunden. Hier ist man mittlerweile vielleicht einen Schritt weiter.
Sie sagten, dass mit dem Jahre 2008 ein Stimmungsumschwung in Deutschland auf Abzug stattgefunden hätte. Ich glaube, dass der schon früher veranlagt war, was sicherlich auch Ausdruck eines über Jahre hinweg feststellbaren Defizits ist, nämlich, dass es uns von Anfang an nicht gelungen ist, den Afghanistan-Einsatz so zu beschreiben, dass er zumindestens Verständnis weckt, wenn schon nicht unmittelbar Unterstützung. Aber so zumindestens Verständnis. Und bei dem Gewinnen von Verständnis haben wir in meinen Augen in den letzten Jahren auch viele Fehler gemacht. Einer dieser Fehler mag gewesen sein, dass wir den ursprünglichen Grund des Afghanistan-Einsatzes schon dürftig erklärt haben, den Bezugspunkt hin zum Terrorismus, der vielen abstrakt erschien, und als wir gemerkt haben, dass wir über die Dürftigkeit kaum hinwegkommen, Gründe um Gründe nachgeschoben haben, die alle für sich ehrenwert sein mögen, aber die nicht Gründe des ursprünglichen Afghanistan-Einsatzes waren. Und so etwas führt nicht zwingend zu mehr Verständnis in der Bevölkerung. Und auch das ist etwas, was, wenn man es so weiterführte, ja möglicherweise dann schon sehr nahe an eine Tragödie im klassischen griechischen Sinne kommen könnte.
Allerdings haben Sie dann den Bezugspunkt gesetzt: zu dem sich mittlerweile global ausbreitenden Dschihadismus, terroristische Strukturen. Es ist eine Problematik, die wir erkennen, die einem vielleicht wie ein Dilemma erscheinen mag, wahrscheinlich in mancherlei Hinsicht auch eines ist, aber was uns immer noch nicht der Notwendigkeit beraubt, in Afghanistan tatsächlich tätig zu bleiben, zumindestens mit den Zielsetzungen, die wir jetzt auch neu definiert haben und die von mancher Illusion Abschied nehmen, erwächst aus der Betrachtung, die hier jetzt in Teilen sehr nüchtern ausgefallen ist, trotz allem eine Perspektive. Ich glaube diese Perspektive ist gegeben, wenn man bereit ist, Ziele realitätsnäher zu beschreiben, und sie nicht nur an einem Wunschdenken auszurichten. Und das war wahrscheinlich einer der Fehler, die wir auch in den letzten Jahren gemacht haben: dass wir von manchen Entwicklungen in Afghanistan geträumt haben, die sich historisch und kulturell nie werden herstellen lassen. Und dass, so wie ich es am Anfang gesagt habe, [wir] den Bezugspunkt zu sehr auf Afghanistan selbst gelegt haben, und zu wenig den regionalen Aspekt gesehen haben und - damit will ich schließen - einen zweifach regionalen Aspekt: Nämlich den [Aspekt] der Einbeziehung der Nachbarn und zum Zweiten ist [da] der Aspekt der Regionalisierung innerhalb Afghanistans, der kulturellen Vielfalt in diesem Land, die sich mit einem pauschalen, rein zentral oder einem zentralistisch angesetzten Blickwinkel in meinen Augen nie wird lösen lassen.

Merz: Ich würde die Diskussion gerne konkreter auf eine Reihe von Fragestellungen konzentrieren. Die deutsche Öffentlichkeit möchte von der deutschen Politik wissen, welches Ziel wollen wir in diesem Konflikt erreichen? Und welches Ziel ist erreichbar? Herr Bundeskanzler, wollen Sie aus Ihrer Sicht dazu etwas sagen?

Schmidt: Ich will gern was dazu sagen, aber Sie müssen aufhören mich als Bundeskanzler anzureden. Ich denk immer, Frau Merkel sitzt hinter mir.

Merz: Wissen Sie, darf ich Ihnen offen sagen, dass ich das Gefühl nicht habe, dass Frau Merkel neben mir sitzt. Ich tue mich aus Respekt vor Ihrer Person schwer, Sie mit "Herr Altbundeskanzler" anzusprechen. Sind Sie mit "Schmidt" einverstanden?

Schmidt: Ich heiße Schmidt, und was Ihre Gefühle angeht, die kann ich nachfühlen. Aber was Ihre Frage angeht, das Ziel der Operation, so wie es der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Jahre 2001 definiert hat, war ganz eindeutig: nämlich Erledigung der terroristischen Organisation Al Qaida und Erledigung der Taliban. Das Ziel, Al Qaida aus Afghanistan zu vertreiben, ist längst erreicht. Trotzdem ist Al Qaida nicht tot. Aber das Ziel war, es in Afghanistan zu erledigen. Das Ziel ist erreicht. Das Ziel was die Taliban angeht, ist nicht erreicht - im Gegenteil. Die Taliban sind heute unendlich viel stärker, als sie im Jahre 2001 und 2002 gewesen sind. Und das Ziel ist nicht erreichbar, wie ich denke. Was im Übrigen Herr zu Guttenberg vorhin gesagt hat, findet bei mir keinen Widerspruch. Ich will aber insbesondere, was das Ziel angeht, auf einen Umstand aufmerksam machen, der hier nicht richtig, bei den meisten Deutschen nicht richtig begriffen wird: Es gibt auf der Welt ungefähr zweihundert Staaten. Davon sind, wie Herr zu Guttenberg vorhin in Erinnerung gerufen hat, ungefähr 40 an der militärischen Intervention in Afghanistan beteiligt. Das ist immerhin ein Fünftel. Darunter sind auch ein oder zwei islamisch geprägte Staaten. Zum Beispiel die Türkei. Auf der anderen Seite gibt es unter den 200 Staaten 50 Staaten, die islamisch geprägt sind. Weit über eine Milliarde aller lebendigen Menschen sind gläubige Muslime. Und in vielen dieser 50 muslimischen Staaten regen sich terroristische Grüppchen und Gruppen und Organisationen, in viel höherem Maße als heute vor neun Jahren, als dieser Krieg angefangen hat. Zum Teil wegen dieses Krieges, zum Teil wegen des anderen Krieges im Irak.
Herr zu Guttenberg hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass keine ausreichenden Anstrengungen unternommen worden sind, zum Beispiel Russland, zum Beispiel China, zum Beispiel Indien, in die Lösung des Problems einzubeziehen. Die Weltmächte China und Russland halten sich da raus. Dann kommt hinzu, dass wir es mit mehreren islamischen Nachbarn zu tun haben: Pakistan, Iran, Türkei. Welche Anstrengungen hat eigentlich der Westen unternommen, oder hat es sogar deutsche Initiativen gegeben? Ich muss hier geschlafen haben. Ich habe davon nichts bemerkt, wenn es darum geht, die Nachbarn einzubeziehen.
Ich glaube es wird langsam Zeit, mit der Eventualität zu rechnen, dass trotz großer eigener Opfer wir diesen Krieg eines Tages abbrechen werden. Nicht wir, die Deutschen, sondern wir, der Westen insgesamt. Jemand, der einen Krieg nicht gewinnen kann, der muss rechtzeitig Verhandlungen einleiten. Hier ist die Frage: "Mit wem? Und wer verhandelt?" Möglicherweise muss man den Verhandlungspartner oder Verhandlungsgegner selber erst konstruieren, möglicherweise gibt es gar keine zentrale Taliban-Führung zum Beispiel. Viel schlimmer ist aber, dass die Verhandlungen etwa mit den Taliban ziemlich unerheblich bleiben, wenn wir gleichzeitig auf der ganzen Welt überall für Unmut unter den Muslimen gegenüber dem Westen sorgen. Überall wo wir, wir der Westen, militärisch interveniert haben, das sind alles muslimische Länder.
Es kommt eins hinzu, dass wir im Westen, ob in Amerika oder ob in England, Frankreich oder Deutschland - wir, der Westen insgesamt, haben uns gegenüber dem Islam im Lauf der letzten Jahrhunderte ziemlich schlecht benommen. Und benehmen uns im Augenblick auch wiederum ziemlich mies, mit ein paar kleinen Ausnahmen. Die Zielsetzung, von der Sie sprechen, muss so weit gehen, dass sie den Westen verpflichtet, einen das ganze Jahrhundert überdeckenden Konflikt zwischen dem aufgeklärten Westen einerseits und dem islamischen Teil der Welt andererseits zu vermeiden. Ein isolierter Frieden in Afghanistan kommt mir sehr unwahrscheinlich vor.

Merz: Heißt das, mit den Taliban zu verhandeln?

zu Guttenberg: Das heißt auf jeden Fall nicht, mit einer vorauseilenden Hybris irgendeine kulturelle Gruppe in Afghanistan prinzipiell auszuschließen, aber es trotzdem an Bedingungen zu knüpfen. Ich möchte den Gedanken aufgreifen. Der Eindruck von Hochmut ist zumindestens in der Zeit vor Obama durchaus befördert worden. Nicht alleine durch die Vereinigten Staaten haben einige auch schon dann hübsch mitgemacht. Ich glaube allerdings, dass es auch Zeichen gab, die auf Entspannung hindeuten. Ich darf nur die Rede in Kairo in Erinnerung rufen, die in der Breite auch von der muslimischen Welt positiv aufgenommen wurde.
Und, welches Ziel ist erreichbar? Ich kann es mir leicht tun und zunächst einmal sagen, welches Ziel ist nicht erreichbar? Aber ich glaube, es gehört in diesen Definitionskomplex mit hinein. Ich habe das schon einige Male gesagt und das klingt wahrscheinlich furchtbar trivial, aber der Traum, den viele träumten, aus Afghanistan eine Vorzeigedemokratie westlichen Maßstabs zu schaffen, ist schlicht visionär, ist nicht darstellbar. Dafür wird man enorm geprügelt, wenn man das immer wieder zur Sprache bringt. Aber ich glaube, das ist eine erste Erkenntnis, die zu sehen ist.
Das zweite Ziel, einen Krieg militärisch zu gewinnen - darauf habe ich vorhin schon mal kurz hingewiesen - ich glaube, das ist einfach schlicht nicht machbar. Führt es uns dann dazu einen Krieg abzubrechen? Ja dann, Herr Bundeskanzler, wenn wir glauben, dass die Aufständischen-Bekämpfung und die erfolgreiche Aufständischen-Bekämpfung in Afghanistan eines der wesentlichen Ziele ist. Damit drücken wir uns schon wieder um eine Fragestellung, die auch nicht so furchtbar einfach zu beantworten ist. Nämlich: Ist jeder Aufständische in Afghanistan gleichzeitig eine Gefährdung der internationalen Gemeinschaft? Oder überheben wir uns nicht drastisch, wenn wir genau das annehmen, oder diese Differenzierung nicht vornehmen und jeden, der dort eine Waffe in der Hand hat, zunächst einmal potenziell als einen Gegner der internationalen oder eine Gefahr für die internationale Gemeinschaft sehen. Und das ist eine Differenzierung, die wahrscheinlich dann sogar innerhalb der Gruppe zu führen ist, die wir einfach mal so platt mit Taliban umschreiben. Also das ist ein Punkt, wo ich glaube, [wo wir] näher zu einer Zielsetzung kommen, die nicht Krieg abbrechen heißt, sondern dann bedeutet, Afghanistan in einen anderen Prozess überzuleiten, den wir jetzt mit der Begrifflichkeit "Übergabe in Verantwortung" zu umschreiben versuchen.

Schmidt: Also die Übergabe der Verantwortung unterstellt ja, dass da jemand sei, der Verantwortung übernehmen kann. Aber es hat noch nie in der Ge-schichte einen afghanischen Staat gegeben, der länger funktioniert hätte als eine Generation. Den wird es auch in Zukunft nicht geben.

Merz: Darf ich nachhaken?

zu Guttenberg: Bitte.

Merz: Der amerikanische Präsident hat in seiner Rede am 1. Dezember letzten Jahres in West Point ein Abzugsdatum genannt mit dem Jahr 2011, wo der Abzug der amerikanischen Streitkräfte beginnt. Was bedeutet das für die Staatengemeinschaft der 40? Hilft das?

zu Guttenberg: Das kann, wenn damit lediglich ein Prozessbeginn beschrieben ist, kann es hilfreich sein in zweierlei Hinsicht. Nämlich, weil es auch eine afghanische Regierung mit unter Druck setzt, endlich einmal über das, was in hehren Worten versprochen wird, auch einmal in Tagespolitik und auch über den Tag hinausreichende Politik umzusetzen - wobei man hier auch viel Phantasie mitbringen muss, ob das dann letztlich im Einzelnen auch gelingt. Und zweitens kann es hilfreich sein, den Koordinationsgrad auch innerhalb der internationalen Gemeinschaft noch etwas zu optimieren. Und drittens will ich allerdings sagen, dass das, was einige andere machen, zu glauben, dass man ein Datum setzen kann, wann der letzte Soldat der internationalen Gemeinschaft Afghanistan verlässt, dass das in seiner Weisheit überschaubar ist. ... Das wird dann ein deutscher Soldat sein, [der] knipst dann das Licht in Afghanistan aus, selbst diese Äußerung habe ich schon gehört, im Jahre 2014 oder 15. Dann ist man natürlich dort, dass sich nur jene zurücklehnen und auf diesen Zeitpunkt warten, um dann das Licht wieder anzuknipsen, das aber dann andere Schatten wirft, als wir es uns eigentlich wünschen würden. Und das wäre eine fatale Entwicklung. Deswegen sage ich: den Prozessbeginn an Zielmarken gebunden, das ist ja ganz wichtig dabei. Nicht nur zu sagen: Wir beginnen mit dem Abzug, ohne etwas erreicht zu haben. Sondern es muss damit natürlich auch verbunden sein, dass ein Soldat gehen darf, wenn ein anderer in der Lage ist, in Afghanistan für ihn diese Sicherheitsverantwortung zu übernehmen. Das hat was mit Ausbildungserfolgen zu tun und ähnlichem. Dass man das an Zielmarken knüpft, und sagt, wenn das erreicht, ist kann man auch sukzessive abziehen, aber eben nicht Hals über Kopf und an ein Enddatum gebunden.

Schmidt: Obamas Rede, in der er angekündigt hat, 2011 mit dem Abzug anzufangen [ist], strategisch gesehen leichtfertig. Denn der Gegner kann warten. Und inzwischen werden neue Militärcamps errichtet, vielleicht auf pakistanischem Boden, vielleicht auf syrischem Boden, vielleicht auf jemenitischem Boden. Überall werden Terroristen ausgebildet, fast überall, auch in Ägypten. Fast überall in der islamischen Welt. Die können warten. Tatsächlich interpretiere ich die Ankündigung Obamas, im Jahre 2011 mit dem Abzug zu beginnen als innenpolitisches Beruhigungsmedikament. Das soll man nicht allzu ernst nehmen. Aber wenn er das ankündigt, dann kann auf die Dauer Herr Guttenberg sich dem nicht verschließen und sagen: "Wir bleiben aber."

zu Guttenberg: Ich glaube, Herr Bundeskanzler, Terroristen werden weltweit an unterschiedlichsten Orten, wahrscheinlich [in einem] immer rasanteren Ablauf ausgebildet, trainiert werden und aktiv werden, unabhängig davon, ob wir jetzt einen Abzugstermin in Afghanistan nennen, ja oder nein, und diesen Abzugstermin vornehmen. [Das] bringt uns im Grunde in eine ganz andere Fragestellung: Gelingt es uns überhaupt, dieser Problematik, dieser Asymmetrie, Herr zu werden. Nicht nur reaktiv, sondern vielleicht auch mal im Vorfeld solcher Entwicklungen, das sind Punkte, denen wir uns überhaupt noch nicht strategisch angenähert haben.

Bosse: Gegen Ende der Veranstaltung wurde die Diskussionsrunde geöffnet für Zuschauerfragen. Auch der frühere SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping meldete sich zu Wort. Er erinnerte noch einmal daran, wie es überhaupt zum Einsatz in Afghanistan kam:

Scharping: Nach dem 11. September gab es mehrere Treffen, der damals in der Bundesregierung Verantwortlichen. Und am Abend des 11. September bestand Übereinstimmung, dass man am darauffolgenden Tag, den 12. September seitens der Bundesregierung im NATO-Rat die Feststellung des Verteidigungsfalles beantragen würde. Das war im Übrigen mit Frankreich und mit anderen Nationen abgestimmt. Ich erwähne das deswegen, weil die Tendenz in Deutschland und manchmal auch in anderen europäischen Nationen dahingeht, als seien wir von den Amerikanern in etwas hineingezogen worden. Richtig ist, dass wir von einem schon lange vor 2001 bestehenden internationalen Terrorismus in etwas hinein gestürzt worden sind. Und die Frage war, wehrt man sich oder wehrt man sich nicht?

Merz: Herr Schmidt:

Schmidt: Wenn ich darf, dann möchte ich meinem alten Genossen Scharping Recht geben, mit einer ganz kleinen Ausnahme, Rudolf. Es gab in den Tagen, 11./12. September 2001 eine Beratung des damaligen Bundeskanzlers Schröder durch drei Personen. Richard von Weizsäcker, Genscher und mich. Und wir waren uns einig mit Schröder, dass wir mit Amerika Solidarität halten und erklären wollten. Die Ausnahme ist, dass Gerhard Schröder von sich aus öffentlich das Wort "uneingeschränkte Solidarität" hinzugefügt hatte. Das würde ich heute auch gerne wieder streichen. Keine "uneingeschränkte", denn ich bin gar nicht sicher, wie der nächste Bush Junior als Präsident der USA heißen wird. Eine kleine Bemerkung noch, auch zu Herrn Scharping, der mit Recht darauf hingewiesen hat, dass die heutige Bundesregierung diese Sache geerbt hat von der vorangegangenen Regierung. Und die vorangegangene Regierung hat sie von der davor vorangegangenen geerbt. Und Herr zu Guttenberg hat die Sache auch nur geerbt. Und er muss eine Sache vertreten, und das tut er auch, die er nicht angefangen, und auch in der Mitte der Affäre nicht hat beeinflussen können.

zu Guttenberg: Ich bin nicht so ganz sicher, was mit mir passiert, wenn ich zwei alten Genossen Recht gebe, dass nicht jeder Schlüssel allein in Amerika liegt. Vielleicht liegt einer der Schlüssel auch im Verständnis von gemeinsamen Wertegemeinschaften, darauf hat Helmut Schmidt vorhin hingewiesen, aber eben auch in der Achtung anderer Wertegemeinschaften, und dann wiederum auch im kulturellen Verständnis. Und ich glaube, hier ist noch immens vieles zu leisten. In der Hinsicht war der heutige Abend auch für mich sehr bereichernd und impulsgebend. Und ich kann einmal mehr nur sagen, dass man auch, es bricht einem ja kein Zacken aus der Krone des Jüngeren, das man von einem Älteren, ob er nun Genosse ist oder nicht, immer wieder auch in solchen Diskussionen viel mitnehmen und lernen kann.

Bosse:
Sie hörten Auszüge aus einem Gespräch zwischen dem früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt und Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg in der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Die Veranstaltung der "Atlantik-Brücke" wurde von deren Vorsitzenden Friedrich Merz moderiert.
Das war die Sendung "Streitkräfte und Strategien". Sie finden diese Sendung auch in der Mediathek und als Podcast unter ndrinfo.de. Dort können Sie auch den Newsletter der Sendereihe Streitkräfte und Strategien abonnieren. Wir schicken Ihnen dann jeweils das aktuelle Manuskript der Sendung kostenlos per E-Mail zu. Als Redakteurin der heutigen Sendung verabschiedet sich Ulrike Bosse.


* Aus: NDR-Sendereihe Streitkräfte und Strategien, 13. März 2010; www.ndrinfo.de


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