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Zirka siebzig Prozent

Fußnoten in Kriegszeiten. Wie mit den Umfragewerten für Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg umgehen?

Von Kurt Pätzold *

Unter den Ereignissen und Vorkommnissen rund um den Vorfall, der Aussicht hat, unter der Falschbezeichnung »Fußnoten-Affäre« in die Geschichte der Skandale einzugehen, die sich um regierende Politiker des Staates Bundesrepublik ranken, hat vieles nicht überrascht. Zuvörderst die Reaktion der Bundeskanzlerin. Die hat keinen Grund, sich von einem Minister zu trennen, der auf Lebenszeit eine solche Leiche im Keller hat, wie sie ein obendrein geglückter Betrugsversuch, verbunden mit dem Diebstahl geistigen Eigentums, nun einmal darstellt. Gleiches gilt für die Haltung seiner Kabinetts- und Fraktionskollegen, die – Solidarität hin, Korpsgeist her – das ihrige taten, die Untat durchgehen zu lassen, können sie sich dann doch in allen Fällen und für die Zukunft auch selbst auf der sicheren Seite sehen. Überrascht hat auch das Auftreten der Bayreuther Professoren nicht, die, als sie das Unumgängliche erledigt hatten, kein Wort eigener Stellungnahme oder Empörung fanden, geschweige denn, daß sie sich zu einer gesellschaftlichen Wertung durchgerungen hätten. Über all das läßt sich kein weiteres Wort verlieren.

Im Amt bleiben

Wie aber steht es mit der auch nicht überraschenden Mitteilung, daß eine bei siebzig Prozent liegende Zahl befragter Bundesbürger den Betrüger als Bundesminister weiter an seinem Platze sehen will? Es kommt hier nicht darauf an, ob der (schwankende) Wert ein wenig über oder unter dieser Zahlenangabe liegt. Nach früheren Befragungen, deren Ergebnisse aus unterschiedlichen Quellen stammen, verdient sie Glaubwürdigkeit. Wer also nicht in den Tag lebt, kommt über diese Zahl ins Nachdenken oder, mehr noch, ins Grübeln. Dafür versorgen ihn die Medien reichlich mit Informationen und Erklärungen.

Die Volksmenge, darauf laufen viele Deutungen hinaus, will sich von dieser zur Lichtgestalt aufgebauten Figur nicht trennen. Das hat den Vorteil, daß sie sich ihren groben Irrtum nicht eingestehen muß. Sie hatte sich auf den Mann als Bundeskanzler in spe schon eingestellt, der sich so vorteilhaft von allen Vorgängern und den Kollegen und Konkurrenten um ihn unterscheidet. Jung, bezaubernd lächelnd, hell strahlend, dynamisch, redegewandt, entschlossen, umtriebig, geschniegelt in Zivil und schmuck im Hindukusch-Look. Dazu von Adel, ein Freiherr von und zu, ein Baron. Seine Mama eine Gräfin, seine Gattin gar eine Gräfin von Bismarck-Schönhausen, Ururenkelin des Reichsgründers. Von der Erscheinung sich trennen?

Wer auch nur einen Moment darob in Zweifel geriet, dem wurden sie ausgeredet. Hier das Repertoire: Wer macht nicht manchmal einen Fehler? Wer ist frei von Irrtümern? Wer war nicht schon mal überlastet? Wer hat sich nicht schon zu hohe Ziele gesetzt und überschätzt? Menschliches, Allzumenschliches. Das kennt man ja und muß das Buch des Friedrich Nietzsche nicht gelesen haben. Nobel hat er sich zudem jetzt gezeigt: selbstkritisch bis zerknirscht, ehrlich, demütig, mit keiner Entschuldigung in jede auch nur denkbare Richtung zurückhaltend und dabei dennoch aufrecht, ja kämpferisch, männlich eben.

Und überhaupt: Fußnoten? Muß man sich darum kümmern und sorgen? Gehörte dahinein, wie vor Jahren zu hören, nicht die DDR? Ein Großteil der Deutschen hat mit der Fußpflege, mit Fußpilzen und dergleichen zu tun. Muß er sich um diese Sorte von Noten kümmern, eine Marotte der Intelligenz und ihres abgehobenen Gehabes und Getues? Vor allem erledigt sich das Ganze doch schon bei dem Gedanken, daß der Mann doch die Anstrengung dieser ganzen Schreiberei gar nicht nötig gehabt hatte. Die vielen einsamen Stunden, denen er sich Frau und Kindern entzog. So wurden den zirka 70 Prozent zu ihrer mitfühlenden Gemütsverfassung die Argumente geliefert, die ihnen zur Rechtfertigung ihrer an Nibelungentreue erinnernden Haltung vor sich selbst dienen können.

Und wem die nicht hinreichten, dem wurden weitere Lichter aufgesteckt und diejenigen und ihre Antriebe bloßgestellt, die dem Minister an seinem edlen Zeuge flicken wollen. Kein Trick, der dem Guttenberg-Rettungsteam zu primitiv gewesen wäre, um sein für jedes Staatsamt bis zum Bürgermeister von Kötzschenbroda disqualifizierendes Verhalten kleinzureden und als läßliche Sünde auszugeben. Kein Dreck, der ihm zu ekelhaft gewesen wäre, ihn gegen alle zu schleudern, die sich erlaubten, nach dem geistigen und moralischen Maß zu fragen, dem hierzulande ein Bundesminister zu genügen hätte.

Schaden für Deutschland

Statt dessen: Er ist ein begabter und befähigter Politiker, und den will die Opposition zu keinem geringeren Schaden als dem für Deutschland, angetrieben und verstärkt von allerlei hinter ihr stehenden dunklen Mächten, weghaben. Von solcher Art Politikern, das zumindest wissen die zirka 70 Prozent, hat Deutschland nicht so viele. So ist im akuten Mangel ein Grund mehr gefunden, den Könner behalten zu wollen. Nur wodurch wissen sie von der Begabung und Befähigung dieses einen? Die hat er ihnen in einer Weise vorgespielt, daß es für mehr als eine Provinzbühne reichte. Und an willfährigen Regisseuren, dienenden und dienernden Mitspielern, erfahrenen Schminkmeistern fehlte es in keinem Moment. Ankündigungen wurden für die Wirklichkeit ausgegeben, Vorhaben für eingelöst, Vorsätze für umwälzend.

Krieg heißt Krieg

Das einzig vorweisbare und in der Notsituation dieser Tage tatsächlich vorgewiesene »Verdienst« dieses Ministers ist gewesen, daß er anders als seine Vorgänger einen Krieg auch Krieg genannt hat. Das hatte sich zu diesem Zeitpunkt freilich selbst bis in nicht bestimmbare Anteile der zirka 70 Prozent bereits herumgesprochen. Unter anderem beim Blick auf eingeflogene Soldatensärge. (Der Vorgang war nicht ganz neu in deutscher Geschichte: In den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges hatten die Herrschenden dem Volke auch eine – allerdings notgedrungen kürzere – Gewöhnungszeit gelassen und zunächst das Wort Krieg vermieden.) Und sonst? In Afghanistan wird weiter für Einzug und Triumph der westlichen Werte gestorben– vor allem auf seiten der dort lebenden Bewohner. In der Heimat wird derweil eine Bundeswehrreform vorbereitet, die den Steuerzahler noch teuer zu stehen kommt. So zeigt sich in Deutschland Begabung im Ministeramt.

Wir erleben, zum wievielten Male eigentlich, jenen Vorgang, den Heinrich Heine das Einlullen des Volkes, des großen Lümmels, genannt hat. Das geschieht in der Version des Dichters dann, »wenn es greint«. Das aber hat es nicht einmal getan. Keine Demonstration ist vor die Dienstsitze des Bundesverteidigungsministeriums im Berliner Bendlerblock oder auf der Bonner Hardthöhe gezogen. Keine Menschenmenge hat die Abgeordneten des Hohen Hauses vor ihrer Fragestunde in Sachen »Fußnoten« unter irgendeinen Druck setzen wollen. Und es ist auch kein »Entsagungslied«, das dem Bundesbürger da vorgesungen wird. Er soll diesmal nur die schon eingeübte Rolle wieder einnehmen, in der er den Regierenden am liebsten ist, die des Jasagers.

Wer folglich im einstigen Lande der Dichter und Denker, notabene: zu keinem Zeitpunkt haben sie es beherrscht, an die Möglichkeit der Aufklärung von Massen, konkret: an das Bewußtmachen der eigenen und die Verabschiedung von fremden Interessen, noch glaubt und darauf hinzuwirken sucht, hat einen Adressaten. Dem muß er sich verständlich machen. Er muß ihn nicht von der Bedeutung und Notwendigkeit von Fußnoten in wissenschaftlichen Arbeiten überzeugen. Er muß sich nicht in eine Debatte darüber verwickeln, ob ein Minister keinen Doktortitel braucht. Er sollte also den Einlullern nicht dorthin folgen, wo sie sich am wohlsten fühlen: im Abwegigen, Unwesentlichen, Ablenkenden. Er muß, so sehr das berechtigt ist, vielleicht nicht einmal über moralische Ansprüche an regierende Politiker streiten. Vielleicht sollte er damit beginnen, schlicht zu sagen, wieviel Geld, aufgebracht durch Bürgersteuern, unter der direkten Verantwortung des Verteidigungsministers jeden Tag am Hindukusch verschleudert wird. Zumal diese Summe gar nicht in Rede kam, als jüngst über drei Euro mehr oder weniger für die Hartz-IV-Bezieher gekuhhandelt wurde. Vielleicht – nachdenkend mit Kurt Tucholsky – solle er sich dessen Warnung erinnern: »Mit Lateinisch überzeugt man keine Indianer.«

* Aus: junge Welt, 26. Februar 2011


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