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Das "Darmstädter Signal": Eine "aufklärerische Instanz innerhalb des Militärs"

Lothar Liebsch legt seine Dissertationsschrift vor. Aus Vorwort, Einleitung und Schlusskapitel

Lothar Liebsch, geb. 1944, war 30 Jahre Berufsoffizier in der Bundeswehr. Langjährige Verwendungen bei der Raketenartillerie, vornehmlich im atomaren Bereich, sowie eine mehrjährige Lehrtätigkeit an der Artillerieschule der Bundeswehr machen ihn zu einem versierten Kenner der Armee. Im Anschluss an seinen Militärdienst studierte er Politikwissenschaft an der Universität Gießen. Hier promovierte er mit der vorliegenden Dissertation, die unter dem Titel "Frieden ist der Ernstfall" in der Schriftenreihe "Kasseler Schriften zur Friedenspolitik" erschien.
Oberstleutnant a.D. Lothar Liebsch ist selbst seit einigen Jahren in der Friedensbewegung aktiv, und zwar sowohl im Arbeitskreis "Darmstädter Signal", zu dessen Vorstand er gehört, als auch im Bundesausschuss Friedensratschlag, zu dessen Sprecherkreis er gehört.

Im Folgenden veröffentlichen wir Auszüge aus dem Vorwort, der Einleitung und dem Schlusskapitel des Buches, damit die Käufer/innen des Buches (Bezugsadressen am Ende der Seite) wissen, was sie erwartet (und was sie versäumen, wenn sie sich nicht zum Erwerb des Buches entschließen).


Lothar Liebsch:

Vorwort

Es ist ein Phänomen in der deutschen und internationalen Militärgeschichte, dass aktive Soldaten sich über einen langen Zeitraum hinweg in der Friedensbewegung engagieren. Dies tun die Soldaten des DARMSTÄDTER SIGNALS seit nunmehr zwanzig Jahren. Obwohl es ihr Beruf ist, sich mit allen Konsequenzen auf einen möglichen Kriegseinsatz vorzubereiten, erklären sie in scheinbaren Widerspruch dazu für sich den Frieden zum Ernstfall.
Das Spannungsfeld zwischen Zivilgesellschaft und Militär konkret zwischen Friedensbewegung und Bundeswehr bildet den Aktionsrahmen für den Arbeitskreis DARMSTÄDTER SIGNAL. Seine Geschichte ist das Thema des Buches.

Es handelt sich dabei nicht um eine geschichtliche Darstellung des Arbeitskreises. Eine politikwissenschaftliche Dissertationsschrift, wie sie hier vorliegt, zwingt zur Fokussierung auf die charakteristischen Merkmale des Untersuchungsgegenstandes und führt in der Praxis weg von einer umfassenden hin zu einer eher beispielhaften Darstellung der Ereignisse. Der kritische Leser wird möglicherweise einen komparativen Ansatz vermissen und an einer zu einseitig erscheinenden Darstellung Anstoß nehmen. Ihm sei gesagt: Die Soldaten des DARMSTÄDTER SIGNALS sind zu keiner Zeit in einer Position gewesen, in der sie als Ansprechpartner oder Widerpart zu den politischen Parteien, der Bundesregierung oder der Bundeswehrführung hätten agieren können. Deshalb wäre es aus meiner Sicht unredlich gewesen, durch eine fiktive Gegenüberstellung der unterschiedlichen Positionen diesen Eindruck zu erwecken.

Im Grunde genommen wollten die Soldaten des DARMSTÄDTER SIGNALS niemals mehr sein als Staatsbürger in Uniform unter Beibehaltung ihrer verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte. Sie machten aber immer wieder die Erfahrung, als Untertanen behandelt zu werden. So blieb der Staatsbürger in Uniform für sie ein Phantom, weil in der Bundeswehr der Raum zur Entfaltung kritischer Positionen fehlt.

Das offensichtliche Demokratiedefizit der hierarchisch strukturierten Großorganisation Bundeswehr ist eines der wesentlichen Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung. Welche Folgen dieser Mangel für die unmittelbar Betroffenen und deren Angehörigen im Einzelfall hat, lässt sich an vielen Stellen zwischen den Zeilen erahnen.

Ich danke allen, die mir mit fachlichem Rat und persönlichem Zuspruch geholfen haben, diese Dissertation zu schreiben. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Knut Krusewitz, der mir wertvolle konzeptionelle Hinweise gegeben hat.

Gießen, September 2003

Aus der Einleitung:

Entstehungsbedingung des Arbeitskreises

Im Jahr 1983 gründeten aktive Soldaten der Bundeswehr einen Initiative, die sie "Arbeitskreis DARMSTÄDTER SIGNAL" nannten. Bereits bei ihrer ersten Zusammenkunft entschieden sich die Gründungsmitglieder für eine basisdemokratische Arbeitsweise und nannten ihren Zusammenschluss deshalb Arbeitskreis. Die Gründung eines Vereins verwarfen sie, weil diese Organisationsform ihren Interessen nach gemeinsamer politischer Betätigung widersprach. Für diesen Vorgang gab es in der deutschen Militärgeschichte kein Vorbild.

Die Entstehung des Arbeitskreises muss im Zusammenhang gesehen werden mit einer sicherheitspolitischen Entscheidung der NATO-Mitgliedsstaaten, die in der Öffentlichkeit leidenschaftliche politische Reaktionen auslöste. Worum ging es dabei?
Grundlage der westlichen Sicherheitsphilosophie war die Abschreckung durch ein militärisches Gleichgewicht zwischen NATO und Warschauer Vertrag. Diesen Standpunkt vertrat auch die damalige sozialliberale Bundesregierung, wie ein Vortrag von Bundeskanzler Helmut Schmidt vor dem International Institute for Strategic Studies in London am 28. Oktober 1977 belegt, in dem er nachdrücklich die Bedeutung eines "politisch-militärischen Gleichgewichts" betonte. Dieses Gleichgewicht wurde nach Ansicht der NATO-Staaten in unzulässiger Weise zu Gunsten des Warschauer Vertrages verschoben, als die UdSSR im Jahr 1976 damit begann, ihre veralteten SS-4 Raketen aus dem Jahre 1961 und ihre SS-5 Raketen aus dem Jahre 1964 durch moderne Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 zu ersetzen. Die daraus resultierende sicherheitspolitische Debatte beschäftigte sich wesentlich mit drei Fragen. Handelt es sich bei der SS-20 um eine Modernisierung bereits bestehender Raketensysteme? Ist sie eine Entwicklung, mit der die UdSSR das fortschrittliche Raketenniveau der USA erreichen will? Oder ist sie eine bloße Aufrüstungsmaßnahme, mit der die USA rüstungstechnisch übertroffen werden sollen?

Unbeschadet einer Klärung dieser Fragen betrachtete die NATO die Stationierung der SS-20 als Bedrohung der Sicherheit Europas und reagierte im Jahre 1979 mit einer Entscheidung, die als "Doppelbeschluss" in die Zeitgeschichte einging. Darin wurde die UdSSR aufgefordert, ihre SS-20 Systeme zu demontieren, anderenfalls werde die NATO als Ausgleich für die SS-20 insgesamt 108 Abschussvorrichtungen für Raketen vom Typ Pershing-II und 464 bodengestützte Marschflugkörper in Westeuropa dislozieren. Beide Trägersysteme konnten mit Atomsprengköpfen ausgerüstet werden.

Die Gefahr einer weiteren nuklearen Aufrüstung in Europa, nicht zuletzt die Aussicht auf Stationierung weiterer atomarer Waffensysteme in der Bundesrepublik Deutschland, führte in der Folgezeit zu einer heftigen öffentlichen Debatte über die Atomwaffen in Deutschland. Nach der Ablösung der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt durch die Koalition aus CDU/CSU und FDP unter Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 hielt die neue Bundesregierung am Nachrüstungs-Beschluss der alten fest. Allerdings führte der Regierungswechsel zu einer veränderten Position der Sozialdemokraten. Während die SPD als Regierungspartei bis September 1982 den NATO-Doppelbeschluss, den Helmut Schmidt quasi mitinitiiert hatte, als politisch und militärisch erforderlich mitverantwortete, schwenkte sie als Oppositionspartei ins Lager der Stationierungsgegner. Auf ihrem Parteitag im November 1983 in Köln lehnte die SPD die Stationierung der neuen Waffensysteme ab.

In dieser Situation der politischen Widersprüche und öffentlichen Demonstrationen trafen sich am 24. September 1983 siebzehn aktive Soldaten und drei Mitarbeiter der Bundeswehr in Darmstadt und gründeten den Arbeitkreis DARMSTÄDTER SIGNAL. Sie widersprachen in ihrer Erklärung der Notwendigkeit der atomaren Nachrüstung und bezweifelten zugleich die Richtigkeit der gültigen NATO Strategie.

Aus diesem Zusammenhang von bedenklicher Veränderung der sicherheitspolitischen Lage und ihrer als Bedrohung wahrgenommenen Implikation durch aktive Soldaten der Bundeswehr leitet sich die Ausgangsthese dieser Arbeit ab. Sie lautet: Die militärische Bedrohungslage verschärfte sich Anfang der achtziger Jahre auf dramatische Weise, was für eine Minderheit von Soldaten den Anlass für ihre kritische Haltung gegenüber der offiziellen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der NATO bot. Diese spontan entstandene kritische Einstellung organisierten Gleichgesinnte mit dem Ziel, über Probleme, Widersprüche und Gefahren der herrschenden Sicherheitspolitik öffentlich aufzuklären.

Der Hauptteil der Arbeit untersucht, mit welchen Konzepten, Themen und Ergebnissen der Arbeitskreis DARMSTÄDTER SIGNAL seinen Aufklärungsprozess betrieb und welche Reaktionen innerhalb und außerhalb der Bundeswehr er damit hervorrief.
Eine beachtliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Frage nach der Position des Arbeitskreises im Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Militär. Dabei kann es hier nicht darum gehen, dies Verhältnis militär- und demokratiegeschichtlich herzuleiten. Die vorliegende Analyse muss sich vielmehr auf die Zeit beschränken, in der die sicherheitspolitischen Koordinaten des Kalten Krieges zerfielen.
Von Interesse ist in diesem Kontext die Frage nach der Demokratisierbarkeit von Streitkräften. Vertreter und Befürworter der Bundeswehr haben seit Jahrzehnten auf die erfolgreiche Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft hingewiesen. Diese positive Entwicklung sei durch
  • die Umsetzung der Forderung nach dem "Staatsbürger in Uniform",
  • die Beibehaltung der Wehrpflicht,
  • die parlamentarische Kontrolle der Bundeswehr durch den Wehrbeauftragten
ermöglicht worden.
Dem widersprachen in den achtziger Jahren Sozialwissenschaftler wie der Soziologe Hans Paul Bahrdt, der in seiner Studie "Die Gesellschaft und ihre Soldaten" die Frage, "ob das Wunschbild einer Streitmacht, die aus lauter ´Bürgern in Uniform´ besteht, eigentlich in der Weise realisierbar ist, wie man sich das vorgestellt hat", unmissverständlich beantwortete: "Natürlich ist eine Riesenorganisation, die im ganzen auf einer strikten Ordnung nach Befehl und Gehorsam funktioniert, ein Fremdkörper in einer demokratischen Gesellschaft. Diese Feststellung wird nicht dadurch entkräftet, dass es in unserer Gesellschaft noch weitere Großorganisationen gibt, deren Funktionieren auf ähnlichen Prinzipien beruht, wie dies beim Militär der Fall ist. Dazu gehören viele Teile der Großindustrie, der Verwaltung und des Verkehrswesens. Im Gegenteil: Um so mehr Probleme bestehen für die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur".

Offenkundig widersprechen sich Anspruch und Wirklichkeit, militärisches Selbstbild und zivilgesellschaftliches Fremdbild. Den Soldaten des DARMSTÄDTER SIGNALS jedenfalls war seit der Gründung ihres Arbeitskreises dies Widerspruchsverhältnis durchaus bewusst.
In den Medien wurde das DARMSTÄDTER SIGNAL wegen seiner programmatischen Nähe zu bestimmten Positionen der Friedensbewegung rasch als "linke" Initiative verortet. Das entsprach allerdings nicht seinem Selbstbild. Die kritischen Vorbehalte seiner Mitglieder gegen bestimmte Entwicklungen in der Bundeswehr und der NATO gingen niemals so weit, die Institution Militär infrage zu stellen. Militärpolitisch geredet, verband die Mitglieder des Arbeitskreises eine Auffassung von den deutschen Streitkräften innerhalb der NATO, die bedingungslos am Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes und des NATO-Vertrages festhielt. Gerade dies Selbstverständnis aber sensibilisierte für Veränderungen ihres militärischen Auftrages durch den auch in der Friedensbewegung heftig umstrittenen Beschluss der NATO vom Dezember 1979, neue Atomraketen und Cruise Missiles in Europa zu stationieren (Nachrüstungsbeschluss).


Aus dem Schlusskapitel des Buches: Zusammenfassung

Die drei Abschnitte der Arbeitskreis-Geschichte

Die vorliegende Arbeit gliederte die Geschichte des DARMSTÄDTER SIGNALS in drei Abschnitte. Die erste Phase dauerte von der Gründung des Arbeitskreises im Jahre 1983 bis zur Beendigung des Kalten Krieges im Jahre 1989/1990. Die zweite begann mit der Erlangung der deutschen Einheit und endete mit dem Antritt der Bundesregierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 1998. Die dritte reicht vom Regierungswechsel bis zum Krieg gegen Jugoslawien mit seinen außen- und sicherheitspolitischen Folgen bis 2002.

In den achtziger Jahren bestand der militärische Auftrag der Bundeswehr in der Landes- und Bündnisverteidigung. Sie war deshalb als Verteidigungsarmee aufgebaut. Auftrag und Ausrüstung interpretierte der Arbeitskreis als völkerrechts- und grundgesetzkonform sowie als sicherheitspolitisch erforderlich. Seine Kritik richtete sich wegen des NATO-Doppelbeschlusses, den er ablehnte, gegen die atomare Abschreckungsdoktrin der Allianz. Er hielt eine Ausweitung der "Overkill-capacity" für militärisch sinnlos und politisch verantwortungslos. Damit bezog der Arbeitskreis eine sicherheitspolitische Position, die von der damaligen Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP ebenso verworfen wurde wie von der militärischen Führung. Da auch die 1982 zur Opposition verurteilte SPD bis dahin die atomare Nachrüstung befürwortet und vorangetrieben hatte, ähnelte die Auffassung des DARMSTÄDTER SIGNALS einer Position, die mehrheitlich von der Friedensbewegung vertreten wurde.

Bereits in der ersten Phase kritisierte der Arbeitskreis bestimmte Zustände in der Bundeswehr, die gegen Prinzipien der Inneren Führung verstießen. Dazu rechnete er das vorherrschende reaktionäre Traditions- und Berufsverständnis vieler Soldaten. Aus dieser Kritik entwickelte er Vorschläge zur Änderung der Traditionsrichtlinien mit dem Ziel, sie den Anforderung an Streitkräfte in einer demokratisch verfassten Gesellschaft anzupassen. Mit seinen "Thesen zur Traditionspflege der Bundeswehr" von Mai 1989 stieß der Arbeitskreis eine kontrovers geführte Debatte an, unter deren Auswirkungen seine Mitglieder noch nach dem "Soldatenurteil" zu leiden hatten. Der Arbeitskreis forderte nicht nur ein demokratieverträglicheres Traditionsverständnis für die Bundeswehr, sondern er organisierte auch Aktionen zur Umbenennung von Kasernen, die in den fünfziger Jahren nach nationalistischen Generälen benannt worden waren.

In der zweiten Phase seines Planens und Handelns konzentrierte sich der Arbeitskreis auf die Folgen des sich anbahnenden Funktionswandels der Bundeswehr. Die beachtliche Reduzierung der Streitkräfte und ihrer Waffenarsenale in Deutschland, die Umstrukturierung der Bundeswehr und nicht zuletzt die Veränderung ihres Auftrages bildeten den Handlungsrahmen für die kritischen Soldaten.

In keinem anderen Land des Warschauer Vertrages oder der NATO wurde innerhalb eines Jahrzehnts die Anzahl der stationierten Soldaten um über Zweidrittel vermindert. Hinzu kam der Abzug aller chemischen Waffen, sowie die Auflösung der Atomwaffendepots mit Ausnahme des NATO-Standorts Büchel in der Eifel und des US-Stützpunkts Ramstein in der Pfalz. Diese Abrüstung hielt das DARMSTÄDTER SIGNAL für notwendig, nicht aber für ausreichend. Seine Forderung lautete, die Bundeswehr bis zum Jahr 2000 auf eine Personalstärke von 200.000 Soldaten zu verringern. Man hielt die Bundeswehr für überdimensioniert und der alte Slogan, wonach jeder Soldat einer zuviel sei, tauchte erneut in der Argumentation auf.

Die kritischen Soldaten versäumten es in dieser Phase, sich von ihrer nationalen sicherheitspolitischen Sichtweise zu lösen und zu fragen: Wie viele Soldaten braucht Europa in der Zukunft? Gleichzeitig mussten sie zur Kenntnis nehmen, dass ihre Kritik am raschen Wandel der nationalen und internationalen Sicherheitspolitik nicht mehr hinreichte, um noch länger als aufklärerische Instanz in der Friedenspolitik wahrgenommen zu werden. Das traf auch auf ihre Kritik am Wandel der Bundeswehr zu, die seit dem Erlass der "Verteidigungspolitischen Richtlinien" (1992) systematisch von einer Verteidigungs- zur Interventionsstreitmacht umgebaut wurde. Deutsche Soldaten wurden seither zu Einsätze "Out of area" nach Kambodscha, Somalia, auf den Balkan und nach Afghanistan geschickt.

Der Arbeitskreis bekämpfte diese Entwicklung von Anfang an. Er verwies auf den Verteidigungscharakter der Bundeswehr und berief sich auf das Grundgesetz, wonach die Bundeswehr nur zu Zwecken der Verteidigung eingesetzt werden darf. Dieser Auffassung widersprach das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1994.

Überdies wollte eine überragende Mehrheit der aktiven Soldaten die Auftragserweiterung für die Bundeswehr, weil sie darin die einzige Möglichkeit sah, Sinn und Funktion der Streitkräfte dauerhaft zu gewährleisten. Durch sein Beharren auf dem Prinzip der Landesverteidigung entfernte sich das DARMSTÄDTER SIGNAL zunehmend von der neu formierten Bundeswehr.

Hinzu kamen gravierende Veränderungen in der Struktur des Arbeitskreises. Das Ende der Dienstzeit mehrerer Zeitoffiziere und das vorzeitige Ausscheiden fast aller seiner Berufsoffiziere aus der Bundeswehr waren hierfür ursächlich. Dadurch verlor der Arbeitskreis ab Mitte der neunziger Jahre fast völlig den Kontakt zur aktiven Truppe. Deshalb begann man sich mit der Frage zu befassen, ob sich das DARMSTÄDTER SIGNAL überlebt habe und ob es mit seinem konzeptionellen Ansatz nicht gescheitert sei.

Die dritte Phase ist für den Arbeitskreis möglicherweise seine existenziell schwierigste. Der Wechsel von der konservativ-liberalen zur rot-grünen Bundesregierung führte nicht zu dem erwarteten Wandel in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Im Gegenteil: Die neue Regierung setzte die vom DARMSTÄDTER SIGNAL oft kritisierte Sicherheitspolitik ihrer Vorgängerin nicht nur fort, sondern sie führte als erste Nachkriegsregierung sogar Krieg. Der Arbeitskreis saß nach dem Regierungswechsel plötzlich zwischen allen Stühlen, zumal einflussreiche Mitglieder und Förderer der SPD oder BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angehörten. So dauerte es einige Zeit, bis sich die Aktivisten im Arbeitskreis dazu durchringen konnten, auch an der neuen Regierungskoalition deutlich Kritik zu üben. Im Mittelpunkt dieser Kritik standen der weiterhin zu hohe Personalumfang der Bundeswehr, die aktuelle Ausrüstungsplanung mit Schwerpunkt bei den Einsatzkräften zur Steigerung deren Interventionsfähigkeit, die fehlenden politischen Alternativen zu den laufenden und geplanten Militäreinsätzen und vor allem die Kampfeinsätze auf dem Balkan und in Afghanistan.

Da die Mehrheit des Arbeitskreises auch unter einer rot-grünen Regierung nicht bereit war, Kampfeinsätzen der Bundeswehr "Out of area" zuzustimmen, verlor er zunehmend an politischem Rückhalt im Deutschen Bundestag und in den Regierungsparteien.

Anspruch und Realität

Die Soldaten des DARMSTÄDTER SIGNALS verstanden und verstehen sich als aufklärerische Instanz innerhalb des Militärs. Als Methode ihrer aufklärerischen Arbeit benutzten sie die immanente Kritik an sicherheits- und verteidigungspolitischen Entscheidungen der militärischen und politischen Führung. Sie hielten diese Kritikform für den methodisch geeigneten Zugang zu Sicherheitspolitik und Bundeswehr sowie zu ihrer Wahrnehmung.
Sie stellten folglich nicht die Voraussetzungen ihrer beruflichen Existenz infrage, sondern sie beschränkten sich darauf, bestimmte Fehlentwicklungen innerhalb dieses Handlungsrahmens zu kritisieren.
Zu den Voraussetzungen, zum Handlungsrahmen zählten sie die Charta der Vereinten Nationen mit ihrem generellen Gewaltverbot, das Recht souveräner Staaten auf Landes- und Bündnisverteidigung, die Existenz der Bundeswehr als integrierte Streitmacht sowie die NATO als reines Verteidigungsbündnis.
Zu den Bedingungen rechneten sie die nukleare Erstschlagdoktrin, veränderte Aufträge von NATO und Bundeswehr sowie erhebliche Demokratiedefizite innerhalb der Bundeswehr. Diese Denkweise machte die Mitglieder des DARMSTÄDTER SIGNALS dann nicht zufällig glauben, es sei geradezu ihre soldatische und staatsbürgerliche Pflicht, auf Mängel in der Sicherheitspolitik und auf Missstände in der Institution Bundeswehr öffentlich hinzuweisen.

Obwohl die Mitglieder des DARMSTÄDTER SIGNALS in den ersten Jahren ihrer Arbeit hofften, durch ihre Aufklärungsmethode innerhalb der Streitkräfte auf Akzeptanz zu stoßen, riefen sie dort eher Unverständnis, Ablehnung, sogar Feindschaft hervor. Ihre Denk- und Argumentationsweise war jedoch nur ein Grund, warum die kritischen Soldaten glaubten, mit dem Verständnis derer rechnen zu können, die sie fachlich kritisierten.
Ein weiterer war ihre Interpretation der Grundrechte und, damit zusammenhängend, die ihres Status als Staatsbürger in Uniform. Deshalb konnten sie Konflikte mit ihren Vorgesetzten in der Regel nur als Ergebnisse unterschiedlicher Rechtsauffassungen verstehen und Vorwürfe, gegen Dienstpflichten verstoßen zu haben, erschienen ihnen als unbegründet. Die ständige Zurückweisung ihres Anliegens durch den Dienstherrn machte den Mitgliedern des DARMSTÄDTER SIGNALS ihre Bedeutung, aber auch die Grenzen ihrer Einflussnahme bewusst.

Wer Arbeit und Wirkung der kritischen Soldaten bewerten will, sollte sie an ihrem eigenen Anspruch messen. Der Anspruch, der ihr Denken und Handeln über zwei Jahrzehnte strukturierte, zielte auf Aufklärung innerhalb und außerhalb der Bundeswehr über sicherheits- und verteidigungspolitische Entwicklungen, die sie für gefährlich hielten. Sie hatten folglich nicht den Anspruch, ein eigenes Konzept von Sicherheitspolitik und vom Strukturwandel der Bundeswehr zu begründen.

Im Gegensatz zur politischen und militärischen Führung, die die vielfältigen Aktivitäten des Arbeitskreises DARMSTÄDTER SIGNAL strikt ablehnte, reagierten bestimmte politische Parteien und die militärkritische Öffentlichkeit unbefangener, verständnisvoller und fair. Diese Haltung führte zur Gründung eines Förderkreises, ohne dessen Mitglieder die vielfältigen Aktivitäten des Arbeitskreises nicht möglich gewesen wären.

Auf Zustimmung stießen die kritischen Soldaten auch in weiten Kreisen der Friedensbewegung. Ihr Verhältnis war allerdings nicht unproblematisch. Einerseits hatten pazifistische Gruppen kaum überwindbare Schwierigkeiten, wenn es darum ging, mit Soldaten zusammen zu arbeiten, und seien sie kritisch, anderseits schadete dem Arbeitskreis seine Nähe zur Friedensbewegung innerhalb der Bundeswehr. Die Scharnierfunktion zwischen Bundeswehr und Friedensbewegung, die das DARMSTÄDTER SIGNAL übernehmen wollte, war keineswegs so eindeutig und unumstritten, wie seine Mitglieder glauben wollten. Aus der Position zwischen konservativem Militär und radikalem Pazifismus resultierten für den Arbeitskreis Stärke und Schwäche zugleich. Stärke, weil er wie keine andere friedenspolitisch agierende Gruppe als Schnittstelle zwischen Zivilgesellschaft und Militär fungieren konnte. Dies war jedoch auch seine Schwäche, weil er in beiden Bereichen mit Vorbehalten der jeweiligen "Fundamentalisten" konfrontiert wurde, die er nicht überwinden konnte. Gerade die Distanz, ja Ablehnung der Soldaten der Bundeswehr, den wichtigsten Adressaten seiner Aufklärungsarbeit, konnte der Arbeitskreis nicht überwinden. So blieb er gefangen im Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Militär und musste lernen, mit den sich daraus ergebenden Widersprüchen umzugehen.

Die Rede vom Widerspruch zwischen Gesellschaft und Militär beschreibt einen Sachverhalt, den die politische und militärische Führung bestreitet. Sie verweist auf den vorgeblich erfolgreich abgeschlossenen Integrationsprozess der Streitkräfte in die demokratische Gesellschaft. Die einschlägigen Erfahrungen der Mitglieder des DARMSTÄDTER SIGNALS lassen ganz andere Folgerungen zu. Danach stieß ihr konzeptioneller Ansatz, durch immanenten Kritik mehr Demokratie auch als Soldaten zu wagen, in der Bundeswehr nicht zufällig auf grundsätzliche Ablehnung. Eine andere Erfahrung besagte, dass in den Streitkräften die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer dann am unerträglichsten wurde, wenn es um die Innere Führung ging. Der in diesem Konzept gefeierte "Staatsbürger in Uniform" als Verbindungsglied zwischen Militär und Gesellschaft erwies sich für das DARMSTÄDTER SIGNAL als Phantom, für das in dieser Arbeit ein strukturelles Demokratiedefizit der Institution Bundeswehr ursächlich verantwortlich gemacht wird.

Die Frage, ob die kritischen Soldaten mit ihrer Methode erfolgreich waren, die militärische Realität zu erkennen und zu kritisieren, um sie verändern zu können, ist einstweilen entschieden. Das DARMSTÄDTER SIGNAL spielt innerhalb der Bundeswehr keine Vermittlerrolle mehr und sein parlamentarischer Einfluss ist bedeutungslos.

Es darf aber bezweifelt werden, dass dies doppelte Scheitern einer verfehlten Denk- und Arbeitsmethode geschuldet ist. Ursächlich verantwortlich dürfte vielmehr der Wandel der Bundeswehr von einer traditionsorientierten Verteidigungsarmee hin zu international agierenden Interventionsstreitkräften sein, den alle Bundesregierungen nach dem Zerfall der politischen Koordinaten des Kalten Krieges systematisch betrieben. Eine genauere Analyse der Interessen, die diesen Wandel eingeleitet und systematisch voran getrieben haben, dürfte zu dem Ergebnis kommen, wonach das DARMSTÄDTER SIGNAL nicht an methodischen, sondern an machtpolitischen Entscheidungen scheiterte.

Sollte der Arbeitskreis DARMSTÄDTER SIGNAL aus seinen langjährigen Erfahrungen notwendige Konsequenzen ziehen, wird er sich Mitgliedern und Förderern aus militärferneren Kreisen öffnen und neue Adressaten erschließen. Als militärkritische Aufklärungsinstanz jedenfalls bleibt er gerade unter veränderten sicherheits- und kriegspolitischen Bedingungen unverzichtbar.


Lothar Liebsch: Frieden ist der Ernstfall. Die Soldaten des "DARMSTÄDTER SIGNALS" im Widerspruch zwischen Bundeswehr und Friedensbewegung
Verlag Winfried Jenior: Kassel 2003 (Kasseler Schriften zur Friedenspolitik Bd. 10); 277 Seiten; Preis 15 Euro (ISBN 3-934377-84-X)

Dissertationsschrift zur Erlangung des Doktorgrades (Dr.rer.soc.) des Fachbereichs Sozial- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen

Bestellungen an:
  • Verlag Winfried Jenior, Lassallestr. 15, D-34119 Kassel; Tel.: 0561-7391621, Fax 0561-774148; E-Mail: Jenior@aol.com
    oder
  • Universität Kassel, FB 10, Frau Teichert, Tel. 0561/804-3135; e.mail: ateicher@uni-kassel.de



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