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Die Hanse, Kaiser Wilhelm II. und der neue Maritime Komplex

Fabian Virchow bespricht das neue Buch von Hermannus Pfeiffer: "Seemacht Deutschland"


Hermannus Pfeiffer: Seemacht Deutschland. Die Hanse, Kaiser Wilhelm II. und der neue Maritime Komplex. Berlin: Ch. Links 2009, ISBN 978-3-86153-513-3, 220 S., 16,90 €

In seinem neuen Buch entwickelt Hermannus Pfeiffer die These, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland – nach den historischen Vorläufern Hanse und Wilhelminismus – erneut ein aus Politik, Wirtschaft und Militär bestehender »Maritimer Komplex« herausgebildet habe. Zur Stützung dieses Gedankens befasst sich der Verfasser in drei großen Abschnitten mit der Hanse (»Netzwerk für Handel und Krieg«), dem wilhelminischen Flottenprogramm (»Aufrüsten für den Krieg«) sowie dem »aktuellen Maritimen Komplex«.

Hinsichtlich der Hanse erinnert der Verfasser zunächst zu Recht daran, dass der Reichtum der Kaufleute maßgeblich auf der Ausbeutung anderer beruht hat, und verdeutlicht dann, dass der Aufstieg der Hanse – also jenes „virtuellen Halbstaats“ (S. 18) aus bis zu 300 Städten, dem Deutschen Orden und der Großbauernrepublik Dithmarschen, der fast drei Jahrhunderte den Handel an Nord- und Ostsee dominierte – eine „kritische Masse an Produktüberschuss und Bevölkerungszuwachs [voraussetzte], um dauerhaft regelmäßige Handelsströme zu erzeugen“ (S. 27). Weitere Faktoren wie technologische Entwicklungen (die Kogge als neuer Schiffstyp), Stadtgründungen, die Durchsetzung der Buchhaltung sowie das sogenannte mittelalterliche Klimaoptimum förderten die Durchsetzung der Hanse, die aufgrund der Wege- und Warenmonopole bald eine dominierende Stellung im Ostseeraum einnahm. Die Hanse kam ohne zentralisierte bürokratische Strukturen aus, setzte gegenüber ihren Gegnern und Konkurrenten jedoch neben abgestuftem politischen und ökonomischen Druck auch Waffengewalt ein. Zwar wurden für rein militärische Zwecke gedachte Schiffe erst im 15. Jahrhundert konstruiert, aber im Kriegsfall wurden Handelskoggen und Fischereifahrzeuge militärisch aufgerüstet und mit wehrpflichtigen hansischen Bürgern und Söldern besetzt. Zu den Söldern zählten professionelle Piraten, die – mit Kaperbriefen ausgestattet – bei den Gegnern der Hanse reiche Beute machten. Auch Konvois mit bis zu 50 Schiffen und mehreren tausend Kriegsleuten wurden zusammengestellt, um Seeblockaden – wie 1284 gegen Norwegen – oder Landungsoperationen durchzuführen. Der Niedergang der Hanse im 16. Jahrhundert war insbesondere der neuen Geographie des globalen Handelns geschuldet, bei der die wichtigsten Handelsströme transatlantisch wurden.

Den Abschnitt zum wilheminischen Imperialismus eröffnet Hermannus Pfeiffer mit einem Blick auf das Wirken des US-amerikanischen Geopolitikers und Seemacht-Theoretikers Alfred Mahan, der von Wilhelm II. irrtümlich als Kronzeuge für die von ihm forcierte Strategie der Entscheidungsschlacht mit England angesehen wurde. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrten sich die Stimmen in Deutschland, die dem Aufbau einer eigenen Marine, später dem Bau einer Schlachtflotte das Wort redeten. Insbesondere Alfred Tirpitz, 1897 zum Chef des Reichsmarineamts befördert, setzte den Aufbau einer gigantischen Kriegsflotte um, mit der sich viele in Deutschland einen »Platz an der Sonne« erstreiten wollten. Der »Maritime Komplex« des wilhelminischen Kaiserreichs „hielten viele adlige und bürgerliche Kreise und ein Teil der Arbeiterklasse (…) nicht allein für nützlich, sondern auch für legal und sogar für legitim“ (S. 87) – der Verfasser diskutiert die jeweiligen Interessen und Erwartungen in Beziehung zur allgemeinen ökonomischen und politischen Entwicklung.

Der Verfasser stützt seine These vom »Maritimen Komplex« mit zahlreichen Hinweisen auf den Ausbau bzw. Neubau von Hafenanlagen und Kanälen, die Gründung von Schifffahrtsbehörden und staatlichen Schlepperdiensten sowie die Expansion der Werften – all dies war maßgeblich von der ökonomischen Entwicklung, darunter dem steigenden Export sowie der wachsenden Abhängigkeit von Importen bestimmt: „Die schnell wachsenden Metropolen benötigten Nahrungsmittel, und strategische Rohstoffe für die Industrie mussten ebenfalls aus Übersee eingeführt werden (…). Durch diese neuen Abhängigkeiten gewannen Handels- und Kriegsmarine einen ganz neuartigen Einfluss.“ (S. 91)

Neben ökonomischen Interessen prägten auch Prestigedenken und Überlegenheitsdünkel den »Maritimen Komplex«. »Navalismus« und Rüstungswettlauf brachte immer größere Kriegsschiffe hervor – einen Beitrag zum militärischen Sieg konnte die deutsche Flotte im Ersten Weltkrieg freilich nicht leisten. Sie wurde schließlich zur Selbstversenkung in Scapa Flow zerstört.

Auf nur wenigen Seiten handelt der Verfasser die Marine- und Seekriegspolitik des deutschen Faschismus ab; trotz Nutzung des völkischen Mythos der Hanse und einer Rennaissance des Schlachtschiffbaus blieb nach Ansicht von Hermannus Pfeiffer die Herausbildung eines »Maritimen Komplexes« in dieser Zeit aus, da sowohl Handelsmarine als auch Kriegsmarine „im strategisch auf Autarkie und auf Landmacht orientierten Nationalsozialismus zweitrangig“ (S. 113) blieben.

Den aktuellen »Maritimen Komplex« verortet der Verfasser in einem Koordinatensystem, das durch verschiedene Faktoren bestimmt ist: die kontinuierliche Steigerung des seewärtigen Handels, den Ausbau von Hafenanlagen und Containerumschlagplätzen, eine hohe Wettbewerbsfähigkeit und Auslastung der deutschen Werften, den Ausbau der deutschen Handelsflotte (von 20 Mio Bruttoregistertonnen [BRT] Mitte der 1990er auf 65 Mio BRT im Jahr 2008), die international bedeutende Rolle der maritimen Zulieferindustrie, die Installierung eines Werftenverbundes sowie die Einführung einer „Tonnagesteuer, die Steuerdumping für erfolgreiche Reeder und ihre Finanzinvestoren bi Gewinnen erlaubt“ (S. 151) und damit die Neubautätigkeit anregt. Die Verständigung über die Entwicklung dieses »maritimen Komplexes« erfolgt auf zahlreichen Konferenzen, auf denen nicht zuletzt die Rohstoffabhängigkeit der deutschen Wirtschaft regelmäßig diskutiert wird. Diese ist auch Gegenstand der in den Verteidigungspolitischen Richtlinien und den jüngeren Weißbüchern festgehaltenen Aufgaben der Bundeswehr. Die Kriegsmarine wird dafür ausgerichtet, mit ihren neuen Schiffen mitzuwirken; auch die neue Fregatte »F125« wird „wieder Landziele bekämpfen und Städte verwüsten können“ (S. 176). Der Verfasser bilanziert seine Untersuchung: „Der aktuelle Maritime Komplex ist eine Kopfgeburt, (…) In seiner Eliteorientierung ähnelt es dem kaiserlichen Flottenprogramm. (…) auch bei der medialen Popularisierung, beim politischen Marketing und bei der politischen Durchschlagskraft in Regierung und Parlament. (…) Wie der Hanse-Komplex ist der aktuelle Marine-Komplex zuallererst auf den Handel ausgerichtet. Der militärische Pol zieht allerdings gegenwärtig ungleich stärker an als in der Hanse-Zeit (…).“ (S. 198).

Dem Buch ist weite Verbreitung zu wünschen; erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber dem Auftreten der »schwimmenden Wehr« ebenso. Schließlich war es – und hier wären noch ausführlichere Abschnitte wünschenswert gewesen – die bundesdeutsche Kriegsmarine, die bei der »Normalisierung« der deutschen Wiederbewaffnung auch gegenüber dem Ausland und der schrittweisen Rückkehr zum Einsatz des Militärs für außenpolitische Zielsetzungen häufig eine führende Rolle gespielt hat – etwa bei den frühen Besuchen des Segelschulschiffs »Gorch Fock« in von den Nazis zuvor besetzten und ausgeplünderten Ländern, bei der erstmaligen Kommandierung multinationaler Verbände oder den ersten Out-of-Area-Einsätzen der Bundeswehr…

Fabian Virchow


Dieser Beitrag erschien in: Wissenschaft & Frieden 3/2009

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