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Entwaffnet Merkel!

Größere militärische Eigenständigkeit: Bundeskanzlerin bietet Nachbarländern "Anlehnungspartnerschaft" an. Mehr Kriegseinsätze angekündigt

Von Arnold Schölzel *

Im Juni rügte Bundespräsident Joachim Gauck die deutsche Gesellschaft als »glücksüchtig« und forderte mehr Offenheit für Kriegseinsätze. Am Montag nachmittag erläuterte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf einer Bundeswehrtagung in Strausberg bei Berlin einen Schwenk in der deutschen Militärdoktrin hin zu mehr Eigenständigkeit. Die Bundeswehr soll nach ihren Worten auch bei einer stärkeren Zusammenarbeit in EU und NATO ihre Kapazitäten nicht abbauen, sondern verbreitern. Wörtlich erklärte Merkel: »Ein Land wie Deutschland, als größte Volkswirtschaft in Europa und mit seiner Bevölkerungszahl und mit seinen Ressourcen, sollte ein breites Spektrum an Fähigkeiten vorhalten.« [Die ganze Rede.] Zwar solle im Bündnis das »pooling« und »sharing« vorangetrieben werden – also die gemeinsame Nutzung von Material. Aber für Deutschland sei das Prinzip »Breite vor Tiefe« außerordentlich wichtig. Das Land biete seinen Nachbarn eine »Anlehnungspartnerschaft« an. Die Nachbarländer könnten sich mit ihren militärischen Fähigkeiten an die Bundeswehr andocken.

Verteidigungsminister Thomas de Maizière unterstützte auf der Tagung diesen Kurs, der laut Reuters eine Abkehr von der früher angestrebten, immer größeren militärischen Arbeitsteilung in EU und NATO bedeutet. Weil andere Partner nicht bereit seien, auf große Fähigkeiten zu verzichten, werde dies auch Deutschland nicht tun, erklärte der CDU-Politiker und fuhr fort: »Es wird – zu Recht – immer der Anspruch an eine Mittelmacht wie die Bundesrepublik Deutschland sein, in jeder Operationsart im Bündnis eine Rolle spielen zu können, einen Teil zu übernehmen.« Deshalb setze er auf das Konzept »Breite vor Tiefe«.

Die Bundeswehr muß sich nach Ansicht des Ministers zudem auf mehr Anfragen für internationale Einsätze vorbereiten. »Wir werden gefragt, unser Einfluß ist erwünscht und anerkannt«, sagte de Maizière laut Redetext. »Als starkes Mitglied der internationalen Gemeinschaft wird Deutschland künftig eher häufiger gefragt werden, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen – auch militärisch.«

Merkel erklärte sich ganz in diesem Sinn grundsätzlich offen für einen militärischen Einsatz der EU in Mali. Eine Ausbildungsmission der EU in dem westafrikanischen Land »wäre denkbar«. Deutschland sei bereit, sich an einem solchen Einsatz zu beteiligen. Freiheitlich demokratische Staaten könnten nicht akzeptieren, daß sich der internationale Terrorismus im Norden Malis ein Rückzugsgebiet erschlossen habe.

Zur Komplettierung ihrer neuen Militärdoktrin deutete sie zudem Rüstungsexporte in Friedenssicherung um und erklärte: »Wer sich der Friedenssicherung verpflichtet fühlt, aber nicht überall auf der Welt eine aktive Rolle in der Friedenssicherung übernehmen kann, der ist auch dazu aufgerufen, vertrauenswürdigen Partnern zu helfen, damit sie entsprechende Aufgaben übernehmen.«

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 24. Oktober 2012


Merkel-Doktrin

Vor Bundeswehreinsatz in Mali

Von Werner Pirker **


Deutschland will sich künftig auch als Militärmacht stärker in den Vordergrund drängen, ließ die Bundeskanzlerin in einer Rede auf der Bundeswehrtagung in Strausberg wissen. »Ein Land wie Deutschland, als größte Volkswirtschaft in Europa und mit seiner Bevölkerungszahl und mit seinen Ressourcen sollte ein breites Spektrum an Fähigkeiten vorhalten«, legte sie ein deutliches Bekenntnis zur forcierten Militarisierung der deutschen Außenpolitik ab. Mit der Beteiligung der Bundeswehr an einer europäischen Militärintervention in Mali soll die Merkel-Doktrin ihre Feuertaufe erhalten.

Es sei nämlich nicht zu akzeptieren, so die Bundeskanzlerin, daß Mali zum Rückzugsgebiet für den internationalen Terrorismus werde. Daß dieser Terrorismus sich gegenwärtig ganz besonders in Syrien austobt, hält die Berliner Politik hingegen für durchaus akzeptabel. Denn in Syrien kommt die kriminelle Energie der Terrorbanden den Bestrebungen der westlichen Warlords zugute, ein widerständiges Regime zu beseitigen. Je nach Lage der Dinge sind Dschihadisten als Kriegsgegner oder auch als Verbündete herzlich willkommen. Was Syrien anbelangt, konzentriert sich Berlin auf den »Day after«, den Tag nach dem Sturz des Baath-Regimes: Als größte Volkswirtschaft in Europa hat man schließlich seine Verantwortung für die neoliberale Neuausrichtung von gewaltsam zum Scheitern gebrachten Staaten. In Mali hingegen will Europas größte Volkswirtschaft auch als militärischer Faktor präsent sein.

Merkels neue Militärdoktrin heißt »Breite statt Tiefe«. Das ist auf das Verhältnis der Bundeswehr zu NATO und EU bezogen. Deutschland will sich als eigenständige Militärmacht wieder in Erinnerung rufen, was eine Abkehr von der früher angestrebten immer größeren Arbeitsteilung in EU und NATO bedeutet. Nachbarländern bietet Berlin eine »Anlehnungspartnerschaft« an, die es ihnen ermöglichen soll, an die militärischen Fähigkeiten der Bundeswehr anzudocken.

Die schwarz-gelbe Koalition will nicht zuletzt ihr Libyen-Trauma überwinden. Deutschlands Abwesenheit im Krieg gegen das nordafrikanische Land lag wohl auch daran, daß Berlin sich nicht dem als Militärmacht überlegenen Frankreich unterordnen wollte. Die offen militaristische Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik verfolgt nun das Ziel, die größte Volkswirtschaft in Europa mit dem entsprechenden militärischen Erzwingungsapparat auszustatten. Interessanterweise ist die deutsche Aufrüstungspolitik nicht auf mehr, sondern weniger europäische Integration ausgerichtet. Wurde angesichts deutscher Dominanz in Europa »mehr Europa« zu einer Art neuteutonischem Glaubensbekenntnis, so ist der Ausbau deutscher Militärmacht eher als nationales Projekt gedacht. Dabei ist die EU, deren Mitgliedsländern eine Aufrüstungsverpflichtung auferlegt wurde, ohnedies schon militaristisch genug. Deutschlands zusätzliche Anstrengungen lassen noch Schlimmeres befürchten.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 24. Oktober 2012


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