Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Die Bundeswehr ist ein Druck- und Drohsystem" - Weiterer Misshandlungsfall bei der Bundeswehr?

Interview mit Helmuth Prieß*, Oberstleutnant a. D. und Sprecher des Arbeitskreises "Darmstädter Signal"

Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das die "junge Welt" (Interview: Ralf Wurzbacher) mit dem Sprecher des bundeswehrkritischen Arbeitskreises "Darmstädter Signal" führte. Vom Darmstädter Signal war zum jüngsten Misshandlungs-Skandal der Bundeswehr zuvor eine Presseerklärung erschienen, die wir weiter unten okumentieren. Dass das Darmstädter mit seiner Vermutung, bei den Vorfällen in Coesfeld handle es sich mitnichten um einen Einzelfall, gar nicht so Unrecht hat, geht aus einer Agenturmeldung vom 25. November hervor, die wir am Ende ebenfalls dokumentieren.


Beim Bund ist »Schnauze halten« angesagt. Die Mißhandelten schweigen aus Angst vor Strafe. Ein Gespräch mit Helmuth Prieß

F: Der Folterskandal im westfälischen Coesfeld schlägt immer höhere Wellen. Inzwischen wird gegen 21 Offiziere und Unteroffiziere ermittelt, ein Beschuldigter hat die Mißhandlungen gestanden. Ist das Ende der Fahnenstange erreicht?

Ich weiß nicht, ob in Coesfeld gefoltert wurde. Klar ist aber, daß Vorgesetzte schwere Dienstvergehen begangen und die Menschenwürde ihrer Untergebenen mit Füßen getreten haben. Ich gehe davon aus, daß die Zahl der Mitwisser wesentlich größer ist, als bekannt wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, daß nur der Kompaniechef und seine Unteroffiziere von den Vorgängen wußten. Solche Schweinereien waren mit Sicherheit Gesprächsstoff in der gesamten Kaserne. Mich überrascht, daß der Kommandeur nichts geahnt oder gewußt haben soll.

F: Wie erklären Sie sich diese Ahnungslosigkeit?

Die Bundeswehr ist und bleibt ein Druck- und Drohsystem, das Menschen durch die Drohung mit und Verhängung von Sanktionen dazu erzieht, »die Schnauze zu halten«. Ich bin ziemlich sicher, daß im Fall Coesfeld die Mißhandelten sich aus Angst vor Strafen nicht getraut haben, die Vorgänge zu melden. Daß man den Betroffenen jetzt sogar noch unter Androhung disziplinarischer Strafen untersagt, sich öffentlich zu äußern, ist ein Skandal.

F: Hat Sie der Fall Coesfeld überrascht?

Daß gegen die Menschenwürde Untergebener verstoßen wurde, das hat es in der Geschichte der Bundeswehr immer wieder gegeben. Aber das Ausmaß der Menschenverachtung im Fall Coesfeld ist ungewöhnlich. In dieser Einheit hat offensichtlich ein Ungeist geherrscht, wie er so bisher nicht beobachtet wurde. Die Vorgänge in Coesfeld sind aber für die Bundeswehr nicht typisch!

F: Weist diese neue Qualität menschlicher Verrohung auf ein strukturelles Problem hin?

Dafür sehe ich Anhaltspunkte. Daß die Änderung des Auftrags der Bundeswehr und der Hinweis, daß wir unsere »Freiheit« auch am Hindukusch verteidigen, irgendwann Früchte tragen werden, war absehbar. Die täglichen Fernsehbilder vom Krieg im Irak und in Afghanistan, von Folter, Quälereien, Geiselnahmen bis hin zu Enthauptungen setzen sich in den Köpfen der Soldaten fest.

F: Sie sehen also einen Zusammenhang zwischen Auslandseinsätzen der Bundeswehr und dem inneren Zustand der Truppe?

Dieser Zusammenhang ist durch Untersuchungen, etwa des Hamburger Friedensforschungsinstituts, belegt. Die Bundeswehrführung muß sich Gedanken darüber machen, was in der Ausbildung geschehen soll und wie man erreicht, daß jeder Offizier und Unteroffizier nur im Rahmen seiner Aufgaben und Rechte handelt.

F: Halten Sie einen Folterskandal wie den von Abu Ghraib in Bagdad auch in der Bundeswehr für denkbar?

Einen Skandal in diesem Ausmaß halte ich nicht für möglich, sage aber auch, daß auf dieser Welt offenbar nichts unmöglich ist. Verfehlt ist es aber, die US Army als Maßstab für die Bundeswehr heranzuziehen, wie dies am Montag ein CDU-Politiker getan hat, als er sinngemäß sagte, daß die Vorgänge in der Bundeswehr nicht so schlimm seien wie bei den US-Streitkräften. Wenn es so weit käme wie in Teilen der US-Streitkräfte, müßte die Bundeswehr auf der Stelle aufgelöst werden.

F: Sie sind heute als ehemaliger Oberstleutnant friedenspolitisch aktiv. Wie stellt man sich beim Darmstädter Signal die Bundeswehr vor?

Vor dem Hintergrund unserer Geschichte sollten wir den Schwerpunkt deutscher Außen- und Friedenspolitik auf vorbeugende, nichtmilitärische Konfliktlösungsmodelle legen. Das würde es ermöglichen, die Streitkräfte auf rund 120000 Mann zur Landesverteidigung und für Blauhelmeinsätze zu reduzieren. Wir wenden uns aber entschieden dagegen, daß die Bundeswehr an Kampfeinsätzen zur Erzwingung politischer Ziele, wie sie auch die UN-Charta zuläßt, teilnimmt.

* Helmuth Prieß ist Oberstleutnant a. D. und Sprecher des »Arbeitskreises Darmstädter Signal« (AK DS), eines Zusammenschlusses kritischer aktiver und ehemaliger Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr

Aus: junge Welt, 26. November 2004

Coesfeld: ein unerklärlicher „Einzelfall“?

Presseerklärung des Arbeitskreises Darmstädter Signal
22. November 2004

Jeder Fall ist ein Einzelfall. So steht Coesfeld in der Reihe der „Einzelfälle“ von Nagolt, über Hammelburg bis Schneeberg. Und jährlich berichtet der Wehrbeauftragte in seinen Jahres- berichten von „Einzelfällen“ rechtswidrigen, menschenunwürdigen Verhaltens von einzelnen Vorgesetzten.

Natürlich sind die Vorgänge von Coesfeld kein Beleg dafür, dass überall in der Truppe der gleiche Geist herrscht. Die im Arbeitskreis DARMSTÄDTER SIGNAL zusammengeschlossenen aktiven und ehemaligen Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr sind davon überzeugt, dass die Probleme tiefer stecken; denn
  • ... wie ist es möglich, dass der zuständige Kompaniechef und sein gesamtes Unteroffizierkorps über Monate derartige Sauereien betreiben, ohne dass auch nur einer Bedenken hat und sie dienstlich äußert?
  • ... wie ist es möglich, dass ein großer Teil der in der Kaserne stationierten Soldaten, die in Kantinen und Gemeinschaftsräumen über solche Vorgänge sprechen, ebenfalls nicht aufmuckte? Warum machten sie von ihrem Recht auf dienstliche Beschwerde oder der Eingabe an den Wehrbeauftragten keinen Gebrauch?
  • ... wie ist es möglich, dass der Bataillonskommandeur von diesen wiederholt stattfindenden Schweinereien nichts wusste?
  • ... was ist davon zu halten, dass den schikanierten Soldaten unter Androhung disziplinarer Strafen untersagt wurde, außerhalb der Kaserne über die erlebten Schweinereien zu sprechen?
  • ... was für ein Geist und was für eine Vorstellungswelt muss bestehen, dass derartige Dienstvergehen erst durch einen reinen Zufall aufgedeckt werden?
  • ... und was ist davon zu halten, dass die Vorgänge an die zuständige Staatsanwaltschaft abgegeben wurden, sich das Heeresführungskommando und der Verteidigungsminister aber erst nach einem Spiegelartikel einen Monat später genötigt sehen, die Öffentlichkeit zu informieren?
Wir schlagen folgende Maßnahmen zur Verhinderung derartiger Entgleisungen vor:
  1. Das in vielen Truppenteilen vorherrschende Droh- und Drucksystem muss verschwinden! Die Ausbildungsrichtlinien sind zu überarbeiten.
  2. Verbesserung der Rechtsausbildung: Die Untergebenen sind über ihre Rechte gründlich zu informieren und zu deren Wahrnehmung zu ermuntern!
  3. Die Ausbildung der Vorgesetzten muss deren Pflichten und den Rechtsrahmen ihres Handelns deutlicher machen! Die Pflichterfüllung ist in und durch alle militärischen Ebenen intensiver zu kontrollieren!
  4. Die Bundeswehr muss sich gegenüber der Öffentlichkeit und besonders gegenüber den Medien endlich öffnen – die regelmäßige Blockade kritischer Berichterstattung schadet der Bundeswehr.
  5. Verteidigungsminister Peter Struck: „Wir verteidigen unsere Freiheit auch am Hindukusch“. So haben sich die Bilder von Unruhen und Krieg mit Hinterhalt, Unterdrückung, Folter und Mord in den Köpfen vieler Soldaten festgesetzt. In einem ständigen Informations- und Reflektionsprozess muss Soldaten der Bundeswehr klar gemacht werden, dass diese Bilder in der allgemeinen militärischen Ausbildung zwischen Husum und Füssen nichts zu suchen haben!
Oberstleutnant a.D. Helmuth Prieß (Sprecher)
Major d.R. Manfred Wagner
Oberstleutnant a.D. Lothar Liebsch

Quelle: Pressedienst des "Darmstädter Signals" (per e-mail)



Donnerstag 25. November 2004, 19:19 Uhr

Möglicherweise weiterer Misshandlungsfall bei der Bundeswehr

Berlin (AP) Bei der Bundeswehr ist es möglicherweise auch an weiteren Standorten zu Mißhandlungsfällen wie in Coesfeld gekommen. Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Willfried Penner, berichtete der Tageszeitung «Die Welt» (Freitagausgabe), dass er eine entsprechende Eingabe erhalten habe. «Dem gehen wir nach», sagte Penner der Zeitung zufolge. Das Bundesverteidigungsministerium äußerte sich zunächst nicht dazu.

Der Vorfall, den der Wehrbeauftragte untersucht, soll sich in einer nordrhein-westfälischen Garnison abgespielt haben und eine ähnliche Situation wie bei der Geiselhaft-Übung im westfälischen Coesfeld betreffen.

Erstmals seit Bekanntwerden des Misshandlungsskandals von Coesfeld schilderten betroffene Soldaten Einzelheiten. In der «Bild»-Zeitung bestätigten Wehrdienstleistende Medienberichte über eine nachgestellte Geiselnahme. Die Tatsache, dass die Soldaten die Schikanen über sich ergehen ließen, begründete ein Soldat damit, dass keiner als Feigling habe gelten wollen. Nur eines der Opfer habe ein vereinbartes Codewort ausgesprochen, um das Martyrium für sich zu beenden.

Den Schilderungen zufolge wurden die Soldaten bei der Nachstellung einer Geiselnahme gefesselt in einen Keller gebracht. Von dort seien sie einzeln zu «Verhören» abgeführt worden. Dann seien einige mit Wasser bespritzt worden, andere hätten Schläge in den Nacken erhalten. Ein Soldat sei mit Stromschlägen im Nacken traktiert worden.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen der Vorfälle gegen insgesamt 21 Vorgesetzte einer Ausbildungskompanie im westfälischen Coesfeld. Auch Verteidigungsminister Peter Struck hat bereits Disziplinarmaßnahmen gegen die Verantwortlichen angekündigt. Er lässt auch überprüfen, welche Auswirkungen Auslandseinsätze auf die Moral der Soldaten haben.

Das Rollenspiel «Verhalten als Geisel» gehört einem General zufolge zur normalen Vorbereitung auf Auslandseinsätze der Bundeswehr. «Das Thema ist für unsere Einsatzausbildung unverzichtbar», sagte der Ausbildungsbeauftragte im Verteidigungsministerium, Alois Bach, der «Sächsischen Zeitung». Diese Ausbildung dürfe aber nur im Rahmen der Einsatzvorbereitung von speziell geschultem Personal durchgeführt werden. «Ein solches Rollenspiel ist nicht Bestandteil der Grundausbildung für wehrpflichtige Soldaten», sagte Bach weiter. Möglicherweise seien den verantwortlichen Ausbildern im westfälischen Coesfeld «die Grenzen für eine realistische, fordernde und erlebnisreiche Ausbildung» nicht mehr klar gewesen.




Zurück zur Bundeswehr-Seite

Zurück zur Homepage