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"Demokratie hört nicht am Kasernentor auf"

Die Innere Führung in der Bundeswehr muss strukturell verbessert werden

Vorgelegt von der Kommission "Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr"

1. Bedingt lernfähig?

Alle Jahre wieder berichtet der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages über zum Teil gravierende Verstöße gegen die Grundrechte der Soldaten und die Grundsätze der Inneren Führung in den deutschen Streitkräften. Warum muss er das immer wieder beanstanden? Ist die Bundeswehr in dieser Hinsicht denn gar nicht lernfähig? Handelt es sich dabei möglicherweise stets nur um bedauerliche, nie ganz auszuschließende Einzelfälle, vor allem durch menschliche Unzulänglichkeiten begründet? Oder aber sitzt das Übel tiefer, verbergen sich hinter diesen jährlichen Mängelberichten nicht auch wesentliche strukturelle Defizite?

2. Was bedeutet "Innere Führung"?

Wie der Wehrbeauftragte bereits in seinem 42. Jahresbericht festgestellt hat, bedeutet "Innere Führung" nichts Geringeres als "die Verwirklichung staatlicher und gesellschaftlicher Normen in den Streitkräften". Sie besitzt also mindestens drei verschiedene Aspekte, nämlich einen innermilitärischen, einen binnengesellschaftlichen und einen internationalen.

Was zunächst das Militär selbst betrifft, garantiert "Innere Führung" dem zivilen Bürger im militärischen Dienst der Bundeswehr seine ihm qua Verfassung verbrieften grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte, die er im Ernstfall unter Einsatz seiner Gesundheit und seines Lebens ja auch verteidigen soll. Innere Führung will die in einem auf der strikten Geltung von Befehl und Gehorsam basierenden, an streng hierarchischen Ordnungsmustern organisierten System herrschende Unterdrückung menschlicher Individualität überwinden. Ihr Leitbild ist der kritische, zu eigenem Urteil befähigte und zivilcouragierte Staatsbürger in Uniform.

Zum zweiten definiert "Innere Führung" ein grundlegend neues Verhältnis von Militär und Gesellschaft. Das deutsche Militär vergangener Zeiten war von einer elitär-solidarischen Gesinnung, dem so genannten Korpsgeist, geprägt, der zu jenem verhängnisvollen Denken vom "Staat im Staate" führte. Der Ansatz von General Graf von Baudissin, dem "Vater der Inneren Führung", zur Militärreform zielt demgegenüber darauf ab, das Militär demokratietauglich und mit einer pluralistischen Gesellschaft kompatibel zu machen, indem die althergebrachte, aus der Geschichte wohl bekannte Borniertheit militaristischen Gedankentums überwunden wird. Solchermaßen soll der gesellschaftspolitischen Selbstisolation der Streitkräfte entgegengewirkt und ihre Integration in den demokratischen Staat sowie ihre Übereinstimmung mit einer offenen, pluralistischen Gesellschaftsform gefördert werden. Drittens schließlich beschränkt sich Graf Baudissin, der nicht nur General der Bundeswehr, sondern auch Hochschullehrer und Gründungsdirektor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg war, in seinen Überlegungen zur Struktur und Verfasstheit der neuen deutschen Armee von Beginn an keineswegs auf die nationale Dimension. Ganz dezidiert konzipierte er die Bundeswehr im Rahmen einer europäischen Sicherheitsarchitektur, d. h. unter internationaler Perspektive.

3. Defizite der Inneren Führung

Diese revolutionär zu nennenden Ansätze der Militärreform Baudissins sind in den seit Gründung der Bundeswehr vergangenen fast fünfzig Jahren gründlich verschüttet worden. Den Traditionalisten, die von Anfang an die neuen deutschen Streitkräfte als eine "optimierte Wehrmacht" planten, ist es gelungen, die Innere Führung umzubiegen zum zwischenmenschlichen Führungs- und Motivationskonzept - zur reinen Sozialtechnik also. Mittlerweile herrscht innerhalb der Bundeswehr ein durchaus beliebiges Verständnis, mitunter auch völliges Unverständnis über Innere Führung. Die Defizite auf diesem Gebiet sind daher zahlreich und vielschichtig:

a) Unter der Devise "Kampfmotivation" haben politische und militärische Führung seit den 1980er Jahren in weiten Teilen der Bundeswehr in bewusster Abgrenzung vom gesellschaftlichen Wertepluralismus ein traditional geprägtes, militärisches Selbstverständnis durchgesetzt. Ihren vorläufigen Kulminationspunkt fand diese Gegenreform in der "neotraditionalistischen" Etablierung eines "Kämpfer-Kultes", der die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr als Maß aller Dinge definierte. Der Soldat als kriegsnah ausgebildeter, allzeit bereiter, selbstlos dienender und unbedingt gehorchender Kämpfertyp wird zur fraglos zu akzeptierenden Norm.

In diesem Kontext wurde der ursprüngliche Gehalt der Inneren Führung deformiert und partiell in sein Gegenteil verkehrt. Die deprimierende Erkenntnis dabei: Die politischen Institutionen wurden ihrer Verantwortung, auf Liberalität und Pluralität in der Bundeswehr zu achten, nur unzureichend gerecht. Die Konsequenz ist, dass die Bundeswehr von ihrem demokratienotwendigen zivilgesellschaftlichen Integrationsbezug losgelöst und auf ein Motivationskonzept des Kämpfer-Kults reduziert wird.

b) Unter dem Vorwand, dass Verfassungspatriotismus und rationales Wertebewusstsein nicht zur Sinnvermittlung soldatischen Dienens ausreichten, wurde dem Konzept der Inneren Führung ein konservativ-reaktionäres Erziehungskonzept entgegengesetzt. Dieses Konzept verweist auf angeblich zeitlos gültige soldatische Tugenden, verherrlicht die militärische Gemeinschaft und betont die Erziehung zu formaler Disziplin.

c) Die Chance zur inneren Demokratisierung der Bundeswehr wird bis heute nur unzureichend genutzt. Denn zumindest in Friedenszeiten ließen sich die internen Strukturen und Verfahren der Streitkräfte sehr weitgehend demokratisieren bzw. an demokratischen Normen und Werten ausrichten. Eventuelle Beschränkungen hinsichtlich der Demokratisierung der Bundeswehr dürfen einzig und allein mit den wirklich unumgänglichen funktionalen Erfordernissen zu begründen sein.

d) Des Weiteren zeigt sich eine weitgehende Entintellektualisierung der Streitkräfte, ein nach wie vor unbefriedigender Zustand der politischen Bildung, ein ständig sinkender Anteil von Berufsoffizieren mit Hochschulabschluss sowohl in der Laufbahn der Truppenoffiziere als auch im Generalstabsdienst. Bei der Entscheidung über die Übernahme zum Berufsoffizier können gute Beurteilungen durch Vorgesetzte ohne weiteres ein fehlendes Universitätsdiplom ersetzen. Alles in allem ist sowohl im Offiziers- als auch im Unteroffizierkorps ein bemerkenswerter Mangel an staatsbürgerlicher Allgemeinbildung und politischer Urteilskraft festzustellen.

e) Dass angesichts der zunehmenden Integration der Bundeswehr in multinationale Streitkräftestrukturen eine Verankerung des Reformkonzepts der Inneren Führung auf der Ebene der angestrebten Europäischen Verteidigungsunion unabdingbar ist, wurde von verantwortlichen Sicherheits- und Verteidigungspolitikern bis dato noch nicht hinreichend berücksichtigt. Es besteht die Gefahr, dass Kernbestände der "Inneren Führung" von politischer und militärischer Seite als disponibel betrachtet werden und im Rahmen multinationaler Streitkräftestrukturen unwiederbringlich verloren gehen.

4. Empfehlungen

Die mangelnde Umsetzung des epochalen Reformkonzepts der Inneren Führung ist evident und zugleich Besorgnis erregend. Gerade auch im Hinblick auf die veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen, unter denen die Bundeswehr ihren Auftrag erfüllen muss, ist es dringend erforderlich, die Zielsetzungen der "Inneren Führung" im Sinne Baudissins nun endlich in vollem Umfang zu realisieren und, wo nötig, weiterzuentwickeln. Von zentraler Bedeutung sind folgende Forderungen:

a) Wenn die Bundeswehr angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen bestehen will, muss sie sich gleichsam zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen fortentwickeln, das von seiner Attraktivität her mit anderen Unternehmen konkurrenzfähig ist. Der moderne Soldat sollte sich als Schützer von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden verstehen, der so lange benötigt wird, wie sich die Welt noch nicht auf adäquatere, d.h. friedliche Konfliktregelungsmechanismen verständigt hat. In einem solchen Soldatenbild müssen Kategorien wie "Motivation", "Anreizen" und "Eigenverantwortung" eine weit größere Bedeutung zugemessen werden.

Zwangsrekrutiertes Personal ist mit diesem Leitbild kaum vereinbar. Lebenserfahrung sollte dem gegenüber ebenfalls ein gewichtiges Einstellungskriterium werden. Daher sollten die Möglichkeiten zum Wechsel zwischen Tätigkeiten auf dem zivilen Arbeitsmarkt und in der Bundeswehr maßgeblich erweitert werden. Insbesondere die Streitkräfte könnten dabei von einem ständigen Zufluss von Know-how aus dem zivilen Umfeld profitieren.

b) Die starren Schemata des Funktions- und Verwendungsaufbaus von Offizieren sollten vermehrt aufgebrochen werden. Aufgrund der überwiegend kurzen Stehzeiten in den einzelnen Verwendungen gewinnen für die Führungstätigkeit kurzfristige Kosten-Nutzen-Kalküle vorrangige Bedeutung, echte Fachkompetenz kann sich kaum entwickeln. Daraus folgt, dass die Stehzeiten insbesondere in den Truppenverwendungen verlängert werden sollten, um wieder die Entwicklung eines intensiveren und vertrauensvolleren Verhältnisses zwischen Führern und Geführten zu ermöglichen. Aber auch in Fachverwendungen sollten längere Stehzeiten sowie aufeinander aufbauende Verwendungsreihen eingeführt werden, um möglichst solide Fachkompetenz entwickeln und dauerhaft nutzen zu können. Insgesamt dürfte mittels derartiger Personalführungsmaßnahmen die Berufszufriedenheit der Offiziere signifikant steigen, was sich wiederum nur positiv auf das Betriebsklima und den Zustand der Inneren Führung auswirken kann.

c) Es ist notwendig, der fortschreitenden Entintellektualisierung des Offizierskorps, der Entpolitisierung des Soldatenberufs sowie der von der militärischen Führung betriebenen Rückwendung zu vorgeblich zeitlosen Soldatentugenden mit Entschiedenheit entgegenzuwirken. Daher ist eine Bildungsreform in den Streitkräften von zentraler Bedeutung.

Der kritisch mitdenkende, selbständig und selbstbewusst agierende Offizier wird zu oft als nicht systemkonforme Herausforderung und Zumutung für ein hierarchisch strukturiertes Militär empfunden und daher abgelehnt. Für den Offizierberuf ist, insbesondere in Anbetracht des aufgrund des erweiterten Auftrags erheblich komplexer gewordenen Anforderungsprofils, eine akademische Ausbildung inklusive des damit verbundenen Qualifikationsnachweises eine Conditio sine qua non. Darüber hinaus würde ein durchgängig akademisch gebildetes Offizierkorps die Reputation der Armee in der Öffentlichkeit merklich steigern und zur besseren Integration der Streitkräfte in die demokratische Gesellschaft beitragen. Daher sind die gesetzlichen Bestimmungen derart zu modifizieren, dass nur noch Soldaten/Soldatinnen mit einem nachgewiesenen Hochschulabschluss in die Laufbahn der Offiziere des Truppendienstes und des Generalstabs-/Admiralstabsdienstes übernommen werden.

Das Konzept zum wissenschaftlichen Studium der Offiziere muss ebenfalls verbessert werden. Auch für die Offiziere des Heeres muss das Studium wieder am Beginn der Offiziers-ausbildung stehen, schon um einer einseitigen, an überkommenen militärischen Idealen orientierten Sozialisation in einer Lebensphase vorzubeugen, in der junge Leute noch relativ einfach zu formen sind.

d) Die bereits seit langen Jahren seitens des Deutschen Bundeswehr-Verbandes und der Europäischen Organisation der Militärverbände (EUROMIL) unternommenen Anstrengungen, zentrale Elemente des Baudissinschen Streitkräftereformkonzepts auf europäischer Ebene zu verankern, bedürfen dringend der Unterstützung durch gleichgerichtete Initiativen sowohl aus dem parlamentarischen Raum als auch seitens der Bundesregierung rsp. des Bundesministeriums der Verteidigung. Hierzu sollte eine Task Force "Innere Führung in den europäischen Streitkräften" gebildet werden.

Sämtliche europäischen Harmonisierungsbestrebungen müssen ihre Grenzen dort finden, wo eine Nivellierung "nach unten" das Resultat wäre. Der einzig legitime Orientierungspunkt für eine Reform der Inneren Führung sind und bleiben die Standards einer entwickelten Demokratie.

e) Auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik gehört bekanntlich der Präventionsgedanke zu denjenigen Grundsätzen, über die ein breiter Konsens herrscht. Auch im Bereich der Inneren Führung verdient dieses Prinzip mehr Beachtung. Es erscheint weder ausreichend noch besonders effizient, Defizite nur in "Mängelberichten" des Wehrbeauftragten festzustellen und anschließend - gleichsam dem Übel immer nur hinterherhinkend - zu versuchen, diese zu beheben. Eine möglichst präventive Realisierung der Grundintention der Inneren Führung bedarf aber - gerade in einer stark hierarchisierten Institution wie den Streitkräften - auch geeigneter Strukturen.

Zudem sollte das höchstrichterliche Diktum von der Bundeswehr als "Parlamentsarmee" nicht in Vergessenheit geraten: Daher sollte der Wehrbeauftragte den besonderen Überwachungsauftrag des Parlaments erhalten, den Stand der Realisierung der erforderlichen strukturellen Maßnahmen, insbesondere
  • die Einführung eines Querschnittsbereichs Innere Führung im Zentrum für Analysen und Studien der Bundeswehr
  • die Einrichtung eines Querschnittsreferats Innere Führung im BMVg
  • die strukturelle Aufwertung des Zentrums Innere Führung zur Akademie für Innere Führung
  • die Bestellung eines Beauftragten für Innere Führung im BMVg, aufmerksam zu verfolgen und ggf. nachdrücklich anzumahnen.
Quelle: Homepage des Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik IFSH, www.ifsh.de;
hier: "Positionspapiere der Kommission"



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