Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Abrupter Ausstieg oder schleichender Niedergang? Die möglichen Auswirkungen der Bundestagswahl auf die Wehrpflicht

Ein Beitrag von Andreas Dawidzinski aus der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *

Andreas Flocken (Moderator):

In diesem Monat wird ein neuer Bundestag gewählt. Im Mittelpunkt des Wahlkampfes stehen vor allem wirtschaftliche Themen. Der Ausgang der Wahl kann aber auch über die Zukunft der Wehrpflicht entscheiden. Hören Sie Andreas Dawidzinski:

Manuskript Andreas Dawidzinski

Offiziell ist die Bundeswehr eine Wehrpflichtarmee. Und geht es nach dem Willen der Bundeskanzlerin, wird sich daran auch nichts ändern. Angela Merkel bei dem feierlichen Gelöbnis von Rekruten vor dem Berliner Reichstagsgebäude am 20. Juli:

O-Ton Merkel
"Ich bekenne mich zur Wehrpflicht...Die Wehrpflichtigen haben unserem Land gut getan...Die Wehrpflicht ist zum Markenzeichen unserer Streitkräfte geworden, um das wir auch international beneidet werden."
Diese Aussage ist stark übertrieben. Denn international ist die Wehrpflicht ein Auslaufmodell. Fast alle 28 NATO-Staaten haben sich von dieser Wehrform mittlerweile verabschiedet und auf Freiwilligen-Streitkräfte umgestellt. Neben Deutschland halten lediglich vier weitere Allianzmitglieder an der Wehrpflicht fest: Estland, Norwegen sowie Griechenland und die Türkei.

Streng genommen ist aber auch die rund 250.000-Soldaten starke Bundeswehr schon lange keine Wehrpflicht-Armee mehr. Sie besteht vor allem aus Berufs- und Zeitsoldaten - knapp 200.000 Männer und Frauen. Für die Wehrpflichtigen, die neun Monate ihren Grundwehrdienst leisten, sind gerade mal 30.000 Dienstposten vorgesehen.

Mit dem Fall der Mauer und dem Umbau der Bundeswehr zu einer Einsatz- oder Interventionsarmee ist die Wehrpflicht auch in Deutschland immer stärker unter Druck geraten. Denn für die Auslandseinsätze werden Profis und längerdienende Soldaten benötigt.

Von den Bundestagsparteien stehen lediglich CDU und CSU noch hinter der Wehrpflicht. Die SPD plädiert seit einiger Zeit für einen "Freiwilligen Wehrdienst", das heißt, es sollen nur noch die jungen Männer einberufen werden, die sich zuvor damit einverstanden erklärt haben. Angesichts von jährlich rund 400.000 wehrpflichtigen jungen Männern und dem geringen Bedarf der Streitkräfte werde die gegenwärtige Einberufungspraxis als staatliche Willkür empfunden, so die Begründung. Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold:

O-Ton Arnold
"Wenn wir nichts ändern, höhlen wir die Wehrpflicht von innen heraus aus. Weil die junge Generation glaubt, der Staat geht nicht mehr korrekt mit ihnen um. Und damit wird die Akzeptanz, in unserer Gemeinschaft auch was zu leisten, im Endeffekt selbst kaputt gemacht. Und deshalb glaube ich, brauchen wir intelligentere Lösungen als einfach weiter so."
Die FDP ist für eine Aussetzung der Wehrpflicht. Merkels Wunsch-Koalitionspartner hält die Wehrpflicht für ungerecht und nicht mehr zeitgemäß. Birgit Homburger, die Verteidigungsexpertin der Liberalen:

O-Ton Homburger
"Ich glaube, dass wir insgesamt die Bundeswehr auch umstrukturieren und zukunftsfähig machen müssen und dass die Aufgaben und Herausforderungen, die die Bundeswehr jetzt schon wahrnimmt und in der Zukunft wahrnehmen wird, sowieso nicht von Wehrpflichtigen gemacht werden können."
Auch die Grünen halten die Wehrpflicht für überholt. Der verteidigungspolitische Sprecher Winfried Nachtwei plädiert stattdessen für einen freiwilligen und flexiblen Kurzdienst:

O-Ton Nachtwei
"In der Länge 12-24 Monate, offen für Frauen und Männer. Beide Seiten können sich da abtesten, dann ist das glaube ich ein vernünftiger Weg anstelle der Wehrpflicht, die immer noch, das darf man nicht vergessen, ein Eingriff in die Grundrechte junger Männer ist. Und wenn es überhaupt gerechtfertigt sein soll, dann muss es sicherheitspolitisch unverzichtbar sein."
Doch seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation ist die sicherheitspolitische Begründung der Wehrpflicht nicht mehr aufrechtzuerhalten. Nicht zuletzt deswegen kämpft auch DIE LINKE gegen die Wehrpflicht. Doch es gibt weitere Gründe. Der Sicherheitsexperte Paul Schäfer:

O-Ton Schäfer
"Jugendliche sind auch dafür, dass es gerecht zu geht in dieser Gesellschaft. Es geht aber was die Wehrpflicht anbetrifft überhaupt nicht mehr gerecht zu. Die Minderheit geht dort hin, die Mehrheit eben nicht. Und das soll geändert werden. Also Wehrpflicht aufheben, abschaffen."
Von den Bundestagsparteien verteidigt inzwischen allein die Union die Wehrpflicht. Trotzdem versuchen die Anhänger der Wehrpflicht, manchmal einen anderen Eindruck zu vermitteln. So sind für Verteidigungsminister Jung öffentliche Gelöbnisse ein Bekenntnis zur Allgemeinen Wehrpflicht. Abgeordnete aus den anderen Parteien, die ebenfalls an diesen Veranstaltungen teilnehmen und die gegen diese Wehrform sind, werden diese Interpretation des CDU-Politikers zweifellos nicht ohne weiteres teilen.

Franz Josef Jung weiß, dass die Wehrpflicht-Anhänger nicht nur international sondern auch in Deutschland in der Defensive sind. Hauptvorwurf der Kritiker ist, dass von den rund 400.000 Wehrpflichtigen eines Jahrgangs für die Bundeswehr jedes Jahr nur rund 60.000 gebraucht werden. Peter Tobiassen, von der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer:

O-Ton Tobiassen
"Die Politik verlangt im Augenblick von der Verwaltung die Quadratur des Kreises, denn so etwas lässt sich einfach nicht gerecht organisieren. ... Ein Mittel dazu ist, dass im Rahmen der Musterungen 46 Prozent der deutschen Männer nicht mehr in der Lage sein soll, ... dass sie zur Landesverteidigung beitragen [können]. Das kann nie und nimmer gerecht sein. Der Großteil der Fußballspieler in der Bundesliga ist nicht tauglich. Dass kann man niemandem erklären, dass diese Hochleistungssportler nicht in der Lage sein sollen, zur Landesverteidigung beizutragen. Das ist etwas, wo wir sagen, es herrscht eine gesetzlich normierte Wehrungerechtigkeit die mit Artikel 3 Grundgesetz (Gleichbehandlung) aller nicht vereinbar ist."
Der Vorwurf, es gebe eine Wehrungerechtigkeit, weil nur ein kleiner Teil der Wehrpflichtigen zur Bundeswehr einberufen wird, lässt den Verteidigungsminister nicht kalt. Franz Josef Jung macht eine ganz andere Rechnung auf:

O-Ton Jung
"Wenn Sie rund 400.000 Jugendliche haben, dann waren bei den einberufenen Jahrgängen rund 20 Prozent untauglich. Also dann sind Sie schon einmal bei 320.000. Dann waren in etwa die Hälfte [von] dieser Zahl Zivildienstleistende, also Wehrdienstverweigerer. Dann sind Sie bei rund 170.000. Dann hatten [wir] eine Zahl von 20.000, 25.000, die jetzt erstens beim THW die Zeit machen, oder bei der Feuerwehr oder dritte Söhne sind oder verheiratet sind - die berufen wir auch nicht ein. Dann waren Sie noch bei 150.000. Und davon haben wir 125.000 - ich sage jetzt nur die Rund-Zahl - einberufen, das heißt also rund 80 Prozent. Das ist im Grunde genommen die Aufgliederung. Und wenn immer wieder steht, von 400.000 werden nur 60.000 einberufen, dann ist das einfach falsch."
Mit diesem für Kritiker etwas eigenwilligen Verständnis von Wehrgerechtigkeit ist der Verteidigungsminister im Juli beim Bundesverfassungsgericht durchgekommen. Die Karlsruher Richter wiesen nämlich erneut eine Vorlage des Verwaltungsgerichts Köln zurück, in der die gegenwärtige Einberufungspraxis als verfassungswidrig beurteilt wurde. Die Verwaltungsrichter hätten ihre Ansicht zu pauschal und nur unzureichend begründet, monierte Karlsruhe. U.a. wurde eine konkrete Auseinandersetzung mit der Frage vermisst, wie sich die vor einigen Jahren vom Verteidigungsministerium verordnete Streichung des Tauglichkeitsgrades T3 ausgewirkt habe. Durch diese Maßnahme sind schlagartig Tausende junger Männer für den Wehrdienst nicht mehr in Frage gekommen.

Kein Wunder, dass Verteidigungsminister Jung den Beschluss der Verfassungsrichter begrüßte. Trotzdem bleibt die Wehrpflicht unter Druck. Begründet wird sie u.a. als ein Beitrag zur Sicherheitsvorsorge. Ein nicht überzeugendes Argument, findet nicht nur der Wehrpflichtkritiker Tobiassen:

O-Ton Tobiassen
"Von den 114.000 Männern des Geburtsjahrgangs 1981, das sind die, die jetzt 28 sind, haben 1021 Wehrübungen geleistet. Das sind 0,9 Prozent. Andersherum heißt es, 99 Prozent derjenigen, die Grundwehrdienst geleistet haben, haben danach nie mehr eine Wehrübung gemacht. Und die Bundeswehr sagt, wer drei Jahre lang nicht in der Truppe war, der fängt eigentlich bei Null wieder an. Das heißt, die Situation, dass die Wehrpflicht Sicherheitsvorsorge sein soll, ist überhaupt nicht mehr gegeben. Nur dann, wenn man die Leute tatsächlich in Übung hält, würden sie im Verteidigungsfall auch zur Verfügung stehen."
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird in der Union über ein Heimatschutzkonzept nachgedacht - quasi als Weiterentwicklung der Wehrpflicht. Reservisten und ehemalige Wehrpflichtige könnten dann auch eine größere Rolle spielen - so die Vorstellung. Möglicherweise nicht nur beim Katastrophenschutz sondern auch bei der Terrorabwehr. Die Diskussion über einen Einsatz der Bundeswehr im Innern ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen.

Einer der wesentlichen Gründe für die Wehrpflicht ist inzwischen, dass sich auf diese Weise vergleichsweise einfach die Rekrutierungsprobleme der Bundeswehr entschärfen lassen. Denn die Wehrpflichtigen von heute sind die Zeit- und Berufssoldaten von morgen. So sieht es der Verteidigungsminister:

O-Ton Jung
"40 Prozent unserer Zeit- und Berufssoldaten waren Wehrpflichtige."
Für den Bundesverteidigungsminister und seinen Generalinspekteur ist die Wehrpflicht nicht nur die intelligentere Wehrform. Nach Ansicht von General Wolfgang Schneiderhan schafft die Wehrpflicht auch die Voraussetzungen, dass Deutschland die Auslandseinsätze durchhalten kann:

O-Ton Schneiderhan
"Die Bundeswehr hat noch nie sagen müssen: Wir können nicht mehr. Wir fliegen seit Januar 2002 jeden göttlichen Tag mit Hubschraubern und Transall in Afghanistan. Uns ist die Luft nie ausgegangen. Wir mussten nicht abziehen und die Solidarität im Kosovo verlassen oder sonst wo. Wir halten das, was wir zugesagt haben, konsequent ein, über viele, viele Jahre...Ich würde sagen, das gehört auch zur Wahrheit, dass wir das ohne Wehrpflicht vermutlich so nicht leisten könnten. "
Die Bundeswehr, aufgrund der Wehrpflicht also ein Vorbild für die NATO-Bündnispartner? Obwohl Grundwehrdienstleistende nicht für Auslandsmissionen eingesetzt werden? - Wohl kaum. Denn von der 250.000-Soldaten starken Bundeswehr befinden sich gerade etwas mehr als 7.000 im Auslandseinsatz - weniger als 5 Prozent. Vielmehr geht zurzeit auch nicht. Großbritannien ist dagegen allein in Afghanistan mit mehr als 9.000 Soldaten präsent - und das, obwohl die britischen Freiwilligen-Streitkräfte kleiner sind als die Bundeswehr. Außerdem gibt es bei dem deutschen Kontingent am Hindukusch einen chronischen Mangel an Helikoptern - man verfügt über lediglich acht Transporthubschrauber - viel zu wenig, wie immer wieder in der Truppe geklagt wird. Zur Selbstzufriedenheit besteht daher kein Anlass. Mit der Wehrpflicht lassen sich diese Probleme jedenfalls nicht lösen. Dass diese Wehrform ein Zukunftsmodell ist, darf bezweifelt werden. Wie auch immer die Bundestagswahl in diesem Monat ausgehen wird: Die Unionsparteien werden es nicht leicht haben, die Wehrpflicht gegenüber einem Koalitionspartner durchzusetzen. Gute Argumente haben sie jedenfalls nicht.

* Aus: NDR-Sendereihe Streitkräfte und Strategien, 5. September 2009; www.ndrinfo.de

Zum selben Thema erschien zuletzt auf unseren Seiten:
Streitfrage: Ist die Wehrpflicht noch zeitgemäß?
Es debattieren: Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler, und Jürgen Rose, Oberstleutnant der Bundeswehr


Zurück zur Bundeswehr-Seite

Zur Seite "Wehrpflicht, Zivildienst, Kriegsdienstverweigerung"

Zurück zur Homepage