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Zu Gast bei Jägern und Sammlern

Feldversuch zur Inneren Sicherheit: Die Fußball-WM in Deutschland dient Polizei, Geheimdiensten und Bundeswehr als Anlass für eine groß angelegte Anti-Terrorübung

Von Rolf Gössner*

Spieler greifen an, schießen, überrennen die Verteidigung und verletzen sich - Fußball kann gefährlich sein, hochgefährlich sogar. So jedenfalls empfinden es die Verantwortlichen für die innere Sicherheit in Deutschland. Als besonders riskant erscheint es ihnen, wenn Hunderttausende von Fußballbegeisterten aus aller Welt aufeinander treffen, schließlich seien zuweilen nicht wenige auf Zerstörung, Randale und Gewalt aus.

Massenveranstaltungen während der Fußball-WM, das bedeutet für Polizei, Geheimdienst und Bundeswehr jedoch vor allem Terrorgefahr. Deshalb ist entgegen dem offiziellen Motto des Championats "Die Welt zu Gast bei Freunden" aufgerüstet worden wie selten zuvor - es wird überwacht, kontrolliert, abgeschottet und ausgegrenzt, auch wenn gerade erst der Amoklauf eines 16-Jährigen in Berlin begreifen ließ, dass es keine absolute Sicherheit geben kann. Wie auch immer, ein Großaufgebot an Sicherheitskräften steht bereit, um gegen die beschworenen Gefahren gewappnet zu sein.

Nicht ob, sondern wann

Am "Nationalen WM-Sicherheitskonzept" haben Polizei- und Geheimdienststrategen lange gefeilt und alle denkbaren Bedrohungsszenarien durchgespielt: Dabei werden betrunkene Fußball-Fans und fingerfertige Taschendiebe eher in den unteren Kategorien eines latenten Gefahrenpotenzials eingestuft, als weitaus bedrohlicher gelten gewaltbereite Hooligans, Zuhälter und Menschenhändler, als größte Herausforderung die "Gefahren des internationalen Terrorismus". Im Augenblick deutet selbst nach offiziellen Angaben zwar nichts auf mögliche Terroranschläge hin, doch die Sicherheitsbehörden wollen nicht ausschließen, dass Deutschland längst ins Visier islamistischer Terroristen geraten ist. Die Frage sei nicht, ob es hierzulande Anschläge gäbe, sondern lediglich, wann es dazu komme. Keine Phantasie scheint zu weit hergeholt: Schmutzige Bomben, Selbstmordanschläge, Flugzeuge als mörderische Waffen gegen Tausende.

Unter diesen Umständen wird die Fußball-WM zur Anti-Terrorübung, zur perfekten Gelegenheit für einen Großfeldversuch, bei dem sich umstrittene Sicherheitsmaßnahmen und -techniken austesten lassen. Bereits im Vorfeld des Ereignisses mussten die Besteller von WM-Tickets geradezu inquisitorische Fragen beantworten und ausgesprochen persönliche Angaben hinterlassen, ihre Staatsangehörigkeit zum Beispiel - auch für welche Nationalmannschaft das eigene Fußball-Herz schlage, war von Interesse. Mit diesen Informationen sollen offenbar Fan-Ströme gesteuert und in den Stadien Gefahren mindernd verteilt werden. Fans, die etwa die saudi-arabische oder iranische Nationalmannschaft favorisieren, könnten zumindest Argwohn erwecken, wenn nicht gar polizeiliche oder geheimdienstliche Präventivmaßnahmen auslösen. Nun wollen auch noch Neonazis die WM als Forum nutzen - ein Grund mehr für ein gewaltiges Polizeiaufgebot.

Alle Karteninteressenten haben ihre Ausweis- oder Reisepassnummern angeben müssen, obwohl es gesetzlich verboten ist, diese als Personenkennziffern zu nutzen - doch im Namen der Sicherheit scheinen Rechtsnormen von sekundärer Bedeutung. Sämtliche WM-Tickets sind zudem mit einem sogenannten RFID-Chip ausgerüstet, mit dem jeder Stadionbesucher per Funk geortet werden kann, ohne es selbst zu merken. Damit ließen sich praktisch Bewegungsbilder der Betroffenen erstellen. Hunderttausende von arglosen Fans dienen als Testobjekte für eine höchst fragwürdige Kontrolltechnologie.

Fußballspieler, Journalisten, Reinigungs- und Hilfskräfte bis zum Würstchenverkäufer, aber auch Sicherheits-, Feuerwehr- und Rettungskräfte mussten sich bei der Akkreditierung für die WM einer kategorischen Überprüfung unterziehen. Über 250.000 Menschen wurden de facto als potenzielle "Innentäter" durchleuchtet. Schon bestimmte Verdachtsmomente genügten, um keine "Arbeitserlaubnis" im Sicherheitsbereich zu erhalten: Schulden beispielsweise können als Indiz für eine mögliche Erpressbarkeit gelten, Kontakte zu bestimmten Organisationen ohnehin. Für diesen Marsch durch die Sicherheitsschleusen fehlte allerdings die gesetzliche Grundlage, bestenfalls wurden sie in einer rechtlichen Grauzone aufgebaut.

Schadensfall, statt Sportfest

Auch andere Maßnahmen verdienen es, in diesem Kontext hinterfragt zu werden, angefangen bei der flächendeckenden Videoüberwachung von Stadien und Stadtzentren, über Reiseverbote und Meldeauflagen bis hin zu Aufenthalts- und Stadionverboten sowie beschleunigten Strafverfahren - die Kontrolle des Luftraums durch AWACS-Aufklärungsflugzeuge nicht zu vergessen.

Von besonderer Tragweite ist der Bundeswehreinsatz im Inneren, denn in Deutschland sind Polizei und Militär schon aus historischen Gründen strikt voneinander zu trennen. Danach darf die Bundeswehr keinesfalls zur nationalen Sicherheitsreserve für den Einsatz im Inland werden. Nun aber soll sich die Bevölkerung offenbar gerade hieran allmählich gewöhnen. Die WM sorgt für eine willkommene Gelegenheit, diesem Paradigmenwechsel jede Anstößigkeit zu nehmen: Bundeswehrangehörige werden logistische und technische Amtshilfe leisten, um die Polizei zu entlasten, wird argumentiert - was sollte daran falsch sein? Tausende Soldaten stehen sozusagen "Gewehr bei Fuß", auch wenn sie keineswegs für zivil-polizeiliche Aufgaben ausgebildet sind.

Eine internationale Meisterschaft bietet den Anlass, sich in eine Art Ausnahmezustand hineinzuphantasieren, gerade als wäre die WM ein gigantischer Schadensfall und kein Sportfest. Wir erleben einen populistisch angehauchten Aktionismus, der den Daten- und Persönlichkeitsschutz und damit die Bürgerrechte Hunderttausender ignoriert. Die "terroristische Gefahr" liefert dafür einmal mehr die Legitimation - der Zweck scheint jedes Mittel zu heiligen. Mit dem 9. Juni 2006, dem Tag der WM-Eröffnung, wird der autoritäre Präventions- und Sicherheitsstaat wieder um ein beträchtliches Stück näher gerückt sein.

* Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Bremen, Lehrbeauftragter an der Uni Bremen, Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte

Aus: Freitag 22, 2. Juni 2006



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