Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Chemiewaffen im Visier

Syrien soll das größte Arsenal in Nahost besitzen / Bisher 80 Prozent der weltweiten Bestände vernichtet

Von Olaf Standke *

Syriens Staatschef Baschar al-Assad hat jetzt in einem Gespräch mit der russischen Zeitung »Iswestija« den Vorwurf, seine Armee habe chemische Waffen eingesetzt, noch einmal scharf zurückgewiesen. Entsprechende Äußerungen westlicher Politiker seien »eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes«, sagte der Präsident. Dass im Lande chemische und biologische Kampfstoffe existieren, hat die Führung in Damaskus aber schon zugegeben. Experten stufen Syriens Arsenal als das größte im Nahen Osten und viertgrößte weltweit ein. Nach Schätzungen der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) geht es um über 1000 Tonnen Kampfstoffe, darunter Sarin, Senfgas und das Nervengas VX, hauptsächlich in Lagerstätten unweit der Stadt Homs und östlich von Damaskus.

Laut Pentagon-Angaben sollen etwa 250 moderne nordkoreanische Scud-Mittelstreckenraketen diese Kampfstoffe bis zu 300 Kilometer weit tragen können. Mit iranischer Hilfe wurden zudem etwa 100 alte sowjetische SS-21-Raketen modernisiert. Hinzu kommen Kampfflugzeuge verschiedener Typen als mögliche – und zielgenauere – Trägersysteme.

Seit Beginn des bewaffneten Konflikts in Syrien sind mehr als ein Dutzend konkrete Giftgas-Verdachtsfälle bekannt geworden, ohne dass es bisher wirklich belastbare Beweise gäbe. Die UN-Inspekteure haben gestern als erste Station ein Krankenhaus in Muadamijat al-Schams südwestlich von Damaskus besucht. Aufständische und Regierung werfen sich gegenseitig den Einsatz chemischer Kampfstoffe vor.

Glaubt man dem Institut für Strategische Studien in London, begann Damaskus in den 70er Jahre mit den Arbeiten an einem geheimen militärischen Forschungsprogramm – später nicht nur mit Unterstützung Moskaus, sondern auch aus Frankreich, Iran und der alten Bundesrepublik. Während des Jom-Kippur-Krieg von 1973 lieferte Ägypten seinem damaligen Verbündeten mit chemischen Kampfstoffen gefüllte Artilleriegeschosse und Bomben, zur Abschreckung gegen einen befürchteten Einsatz israelischer Massenvernichtungswaffen.

Syrien ist bisher den Konventionen zum Verbot chemischer und biologischer Waffen nicht beigetreten. Aber es gehört dem Genfer Protokoll von 1925 an, das nach den schrecklichen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs mit 100 000 Gas-Toten die Anwendung chemischer und bakteriologischer Kriegsmittel untersagt. Die umfassendere C-Waffen-Konvention wurde vor 20 Jahren in Paris unterzeichnet und trat 1997 in Kraft.

Inzwischen haben 188 Staaten den Vertrag ratifiziert. Acht stehen nach wie vor außerhalb des Verbotsregimes, neben Syrien sind das Angola, Ägypten, Nordkorea, Südsudan und Somalia sowie Israel und Myanmar, die die Konvention zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert haben. Israel will diesen Schritt erst tun, wenn alle Länder der Nahost-Region beigetreten sind; arabische Staaten verweigern sich mit Hinweis auf die mutmaßlichen israelischen Atomwaffen. Aber auch Staaten wie Äthiopien, China, Iran, Pakistan, Serbien, Taiwan oder Vietnam werden vom Washingtoner Stimson Center verdächtigt, insgeheim C-Waffen zu besitzen oder zu entwickeln. Die Konvention verbietet, chemische Waffen zu entwickeln, herzustellen, zu erwerben, zu lagern oder zurückzubehalten und weiterzugeben.

Das Abkommen erfasst drei Arten toxischer Chemikalien und ihrer Vorprodukte. Die Bestände und Produktionsanlagen, über die jeder Mitgliedstaat Meldung machen muss, sind innerhalb bestimmter Zeiträume zu vernichten – was sich allerdings als mühsamer Prozess erweist. Trotz mehrfacher Fristverlängerungen sind bisher erst 56 800 der erfassten 71 000 Tonnen Kampfstoffe vernichtet worden. So wird es nach OPCW-Schätzung wohl noch bis mindestens 2023 dauern, bevor die USA, die im Vietnam-Krieg massenhaft chemische Mittel wie das hochgiftige »Agent Orange« mit verheerenden Folgen für Menschen und Natur versprühten, ihre letzten Bestände liquidiert haben. Diese Vernichtung erfolgt unter internationaler Kontrolle.

Die OPCW-Kontrolleure müssen aber auch die zivile Chemieindustrie im Auge haben, denn diverse Stoffe lassen sich wegen ihres sogenannten Dual-Use-Charakters sowohl für friedliche als auch für militärische Zwecke einsetzen. So können Ausgangsstoffe für Dünger oder Pflanzenschutzmittel zur Produktion von Kampfstoffen missbraucht werden. Neue wissenschaftliche und technische Entwicklungen wie die Nanotechnologie oder die biologische Produktion hochgiftiger Chemikalien schaffen zudem Grauzonen jenseits der Verbotsdefinitionen.

Und es wird wird international um die von der Konvention für die »Herstellung der öffentlichen Ordnung« gestatteten Chemikalien gestritten. Zu ihnen gehört etwa Tränengas. Vor allem die USA und Russland aber wollen diese Gruppe weiter fassen, verfügten sie doch offensichtlich über Stoffe, die das zentrale Nervensystem angreifen und so Opfer handlungsunfähig machen – was jedoch schon Todesfälle verursacht hat und deshalb auf der jüngsten Überprüfungskonferenz der Konvention in Den Haag scharf kritisiert wurde.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 27. August 2013


Beim Massaker von Halabdscha schaute die Welt weg

Im irakisch-iranischen Krieg setzte Bagdad Giftgas ein – auf dem Schlachtfeld und gegen Zivilisten

Von Roland Etzel **


Den Einsatz chemischer Waffen hat es in der Region bereits gegeben. Unabhängig davon, was die UN-Inspektoren jetzt bei Damaskus ermitteln werden – die damalige Freisetzung chemischer Kampfstoffe war mit Sicherheit massiver, opferreicher und blieb, im völligen Gegensatz zu heute, von der Weltöffentlichkeit so gut wie unbeachtet.

Es geschah im irakisch-iranischen Krieg 1980 bis 1988. Mehrfach wurde damals auf Schlachtfeldern Giftgas eingesetzt, und zwar ausschließlich von irakischer Seite. Laut UNO hatte die irakische Armee Sprengkörper, gefüllt mit Sarin, Senfgas, später auch Tabun, massenhaft auf die iranischen Linien verschossen. Wieviele Geschosse es waren und wieviele Opfer sie forderten, ist nicht bekannt. In der irakischen Kriegspropaganda wurde dieser schmutzige Teil des Krieges komplett verschwiegen. Teheran wiederum wollte wohl nicht durch Bekanntgabe hoher eigener Opferzahlen und die Existenz von Massenvernichtungswaffen auf der Seite des Feindes die Kampfmoral seiner Truppen schwächen. Es wird geschätzt, dass in jenen acht Jahren etwa 20 000 Fliegerbomben, 27 000 Raketensprengköpfe sowie Artilleriemunition mit völkerrechtlich geächteten Kampfstoffen bestückt waren, die beim Auftreffen freigesetzt wurden.

Iran veröffentlichte bereits am 18. November 1980, zwei Monate nach Beginn des Krieges, eine Protestnote, die aber weitgehend ignoriert wurde, im Osten wie im Westen. Die DDR-Führung zum Beispiel trieb ihre als Neutralität in dem Konflikt klassifizierte Politik so weit, dass sie den Einsatz chemischer Kampfstoffe gegen Iran in ihren Medien gar nicht vorkommen ließ.

Weitgehend beschwiegen wurde vom Rest der Welt zunächst auch das Massaker von Halabdscha, einer irakisch-kurdischen Stadt an der iranischen Grenze. Hier setzten irakische Kampfflugzeuge am 16. März Tabun frei. Zwischen 3000 und 5000 Menschen starben. Es wird vermutet, dass Iraks Präsident Saddam Hussein damit seinerzeit in einer Phase permanenter Niederlagen gegen die iranische Armee die Kurden von einer Parteinahme für diese abschrecken wollte.

Auch aus heutiger Sicht recht aufschlussreich war damals das Verhalten der westlichen Staaten. Obwohl Iran internationale Vertreter am 21. März an die iranische Grenze gegenüber von Halabdscha einlud, nahmen US-Vertreter daran nicht teil. Dennoch beschuldigte Washington am 23. März nicht Irak, sondern Iran des Gaseinsatzes. Da half es auch nicht, dass neutrale Experten vor Ort den Schuldigen eindeutig in Saddam sahen. Eine Verurteilung Bagdads im UN-Sicherheitsrat scheiterte dennoch am Widerstand der USA.

Und auch Frankreichs. Dessen Premierminister sagte 1985 mehrfach, niemand habe Beweise, dass Irak Giftgas einsetze. Eine Verurteilung wäre deshalb voreilig. Im aktuellen Fall in Syrien erklärte Frankreichs Außenminister am Montag, zwar sei die Beweislage unsicher, aber »es ist klar, dass dieses Massaker auf das Regime von Baschar al-Assad zurückgeht«. Der Premier von damals heißt wie der Außenminister von heute: Laurent Fabius.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 27. August 2013


Schrader, Ambros, Ritter, Linde

Sarin – ein Kampfgas aus Deutschland

Schon im Juni wurde Syrien vorgehalten, Sarin eingesetzt zu haben; auch bei den jüngsten Vorwürfen geht es um diesen furchtbaren Stoff, der in den späten 1930ern bei der IG Farben entstand. Sein Name bezieht sich auf die »Erfinder« Schrader, Ambros, Ritter und von der Linde. Eingesetzt hat Deutschland das grausige Gas allerdings nie – anders als wohl die chilenische Pinochet-Diktatur und der damals »westlich« unterstützte Saddam Hussein im Golfkrieg von 1980 bis 1988.

Syrien baute sein Chemieprogramm nach dem Yom-Kippur-Krieg aus, aus Angst vor Israels Atombombe. Später gründete man ein Institut namens SSRC, das unter zivilem Deckmantel Chemiewaffen produzierte. In den 1980er Jahren mit BRD-Technik: Firmen wie die Schott Glaswerke lieferten Apparate, die sich u.a. auch für die Produktion von Sarin eigneten. Einige dieser Geschäfte wurden durch staatliche Bürgschaften gesichert, erst seit 1992 warnt Deutschland vor dem SSRC.

Berüchtigt ist auch die libysche Verbindung. Eine Tochter der Imhausen-Chemie baute dort in den 1980er Jahren eine der größten Giftgasfabriken überhaupt, auch für Sarin. In Irak waren in den 1980ern deutsche Firmen ebenfalls beteiligt – etwa die Hamburger Firma W.E.T. Mit wenigen Ausnahmen endeten die folgenden Verfahren glimpflich. Die Verantwortlichen gaben sich ahnungslos.

Der mutmaßlich jüngste Schub der chemischen Rüstung Syriens setzte 2007 ein – nach Israels Angriff auf das syrische Atomprogramm. Für den LINKE-Rüstungsexperten Jan van Aken ist eine Verstrickung deutscher Firmen in jüngerer Zeit aber nicht zu belegen. Zumindest »halb seriöse« Hinweise bezögen sich eher auf Frankreich. vs




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