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Sanktionen gegen Afghanistan verfehlen ihr Ziel

UNO-Report: Zivilbevölkerung Leidtragende

In UNO-Kreisen wird das Mittel der Sanktionen gegen bestimmte Regime immer kritischer gesehen. Im Fall des Irak hat sich schon lange die Erkennntis durchgesetzt, dass die Leidtragende von Wirtschaftsambargo-Maßnahmen allemal die Zivilbevölkerung ist. Jugoslawien bietet ebenfalls ein trauriges Beispiel für die Zweischneidigkeit von Wirtschaftssanktionen. Nun hat eine UNO-Kommission festgestellt, dass auch im Fall von Afghanistan das politische Ziel der Sanktionen, in diesem Fall Druck auf die Taliban-Regierung auszuüben, Bin Laden auszuliefern, verfehlt wird. Die Folgen der Sanktionen muss die Bevölkerung tragen. Ein Artikel aus der jungen welt:

Düstere Embargo-Bilanz
Zivilbevölkerung in Afghanistan laut UN-Bericht Opfer der Sanktionen

Nach zweimonatigen Untersuchungen über die Auswirkungen von UN-Sanktionen auf Afghanistan ist die Weltorganisation zu einem verheerenden Ergebnis gekommen: Die Isolation des Bürgerkriegslandes hat der eigentlichen Zielgruppe nicht geschadet, wohl aber die ohnehin leidgeprüfte Zivilbevölkerung. Bewirkt habe das Embargo, das die politischen Führer zur Auslieferung des saudischen Geschäftsmannes Osama bin Laden bewegen soll, bei den betroffenen Menschen ein Gefühl von Bitterkeit und Frustration, heißt es in einem Bericht des im pakistanischen Islamabad angesiedelten Büros des UN-Koordinators für Afghanistan. Der in Afghanistan untergetauchte bin Laden wird von Washington für die Bombenattentate auf die US- Botschaften in Kenia und Tansania im Jahre 1998 verantwortlich gemacht. Ohne konkrete Beweise wollen die Taliban aber den gesuchten Geschäftsmann nicht ausliefern.

»Die Bevölkerung Afghanistans ist zutiefst verletzbar und hat nur geringe Möglichkeiten, weitere wirtschaftliche Schockerlebnisse zu verkraften«, warnt der am Dienstag in New York veröffentlichte Report. Afghanistan leidet nicht allein unter den Folgen eines 21jährigen militärischen Konflikts und einer sich schnell ausbreitenden Dürre. Die Armut in dem 25,8 Millionen Einwohner zählenden Land ist groß, und die Bewegungsfreiheit der Menschen, insbesondere der Frauen, wurde unter der Herrschaft der islamischen Taliban stark eingeschränkt.

Die im November letzten Jahres vom UN-Sicherheitsrat verhängten Sanktionen verhindern, daß die Kabuler Fluggesellschaft »Ariana Airlines« auf internationalen Flughäfen landen darf. Außerdem sind die Konten der Taliban eingefroren. Während diese letzte Maßnahme keine nennenswerte Auswirkungen gehabt hat, führte die Abschottung der nationalen Fluglinie zu einem Importstopp bei Nahrungsmitteln und Medikamenten. Nach Angaben des Personals des Indira-Gandhi-Krankenhauses in Kabul hatte die nationale Fluggesellschaft vor dem Embargo die Hälfte der in den Kliniken in der Hauptstadt benötigten Arzneimittel und medizinischer Ausrüstungen eingeflogen. Die Trennung der Luftverbindung verhinderte den Import qualitativ guter und preiswerter Medikamente aus Indien. Ausweichen kann der Staat zwar auf den Landweg nach Pakistan und den Iran, doch fallen die Kosten weitaus höher aus.

Das Gefühl, von der Außenwelt isoliert zu sein, über das die Bevölkerung zunehmend klagt, führt das Büro des UN- Koordinators für Afghanistan auf die Unterbindung der Postdienste zurück. Eine Woche vor dem Embargo hatten die Afghanen 10 000 Briefe pro Tag an ihre im Ausland lebenden Verwandte und Freunde verschickt. Kurz nach Inkrafttreten der UN-Sanktionen hatten Tausende Afghanen in den größeren Städten des westasiatischen Landes gegen die maßgeblich von Washington vorangetriebene Maßnahme protestiert. Die Demonstrationen führten dazu, daß einige Hilfsagenturen ihre Büros über mehrere Tage schließen mußten. Einige Organisationen, darunter auch die der UN, riefen einen Teil ihres Personals zurück. Erst als die Taliban Sicherheitsgarantien zustimmten, kehrten die Mitarbeiter zurück.

Der am Dienstag veröffentlichte UN-Bericht ist einer von vielen Untersuchungen, die der Frage nachgegangen sind, ob die bisher praktizierte Embargo-Politik nicht mehr schadet als nutzt. In der letzten Woche wurde sie in einer Studie der UN- Menschenrechtsunterkommission als ineffizient und aus menschlicher Sicht inakzeptabel bezeichnet.

Selbst UN-Generalsekretär Kofi Annan macht keinen Hehl daraus, daß er die meisten von der Weltorganisation verhängten Sanktionen für unmenschlich hält. Auch er vertritt die Meinung, daß sie in der Regel unschuldige Menschen und nicht, wie vorgesehen, die politische Führung treffen. In ihrer 55jährigen Geschichte haben die Vereinten Nationen 13 Mitgliedsstaaten auf diese Weise zu maßregeln versucht: Afghanistan, Angola, die Republik Jugoslawien, Haiti, Irak, Liberia, Libyen, Ruanda, Sierra Leone, Somalia, Südafrika (zu Apartheid-Zeiten), Südrhodesien (seit 1980 Simbabwe), Sudan und ein zweites Mal das ehemalige Jugoslawien. Nur in den wenigsten Fällen wurden die Sanktionen vollständig aufgehoben.

Thalif Deen/Gustavo Capdevila


Aus: junge welt, 26. August 2000

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