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"Ein vernachlässigtes Ziel"

Welttag der Alphabetisierung: Lesen und Schreiben bedeutet ein selbstbestimmtes Leben / Ulrike Hanemann: Die Alphabetisierung geht nur sehr langsam voran

Ulrike Hanemann ist Koordinatorin für die Alphabetisierungsarbeit des UNESCO-Instituts für Lebenslanges Lernen (UIL). Das 1951 gegründete Institut ist ein internationales Zentrum für Forschung, Training, Information, Dokumentation und Publikation. Als eines von sechs UNESCO- Bildungsinstituten konzentriert es sich auf Alphabetisierung, Erwachsenenbildung und außerschulische Bildungsarbeit. Sein Ziel ist es, lebenslanges Lernen für alle zu ermöglichen. Mit der Erziehungswissenschaftlerin sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Antje Stiebitz.

ND: Eines der im Jahr 2000 auf dem Weltbildungsforum in Dakar beschlossenen Ziele ist es, die Alphabetisierungsrate bei Erwachsenen bis 2015 zu halbieren. Ist man diesem Ziel näher gekommen?

Hanemann: Wir stellen jedes Jahr wieder fest, dass die Alphabetisierung eines der am stärksten vernachlässigten Ziele von allen Bildungszielen ist. Für die meisten der Mitgliedstaaten hat sie keine Priorität. Es hat gewisse Fortschritte gegeben, doch die sind sehr langsam. In den letzten 25 Jahren zum Beispiel ist die Alphabetisierungsrate unter den Erwachsenen nur um zehn Prozent gestiegen, auf den jetzigen Stand von ungefähr 84 Prozent im weltweiten Durchschnitt. Zwischen 2007 und 2008 konnte die Analphabetenrate um 0,5 Prozent gesenkt werden. Das ist gemessen an den »Neuzugängen« durch das Bevölkerungswachstum zu wenig.

Wieso wird die Alphabetisierung so stiefmütterlich behandelt?

Die meisten Länder, in denen der Großteil der erwachsenen Analphabeten lebt, sind arm und bevölkerungsreich. Die Bildungshaushalte sind niedrig und es wird eher in das formale Schulsystem investiert als in die Alphabetisierung der Erwachsenen. Leider hat die Weltbank lange das Märchen verbreitet, dass sich Investitionen in diesem Bereich nicht auszahlen, und einen einseitigen Fokus auf die Grundbildung für Kinder gelenkt. Doch viele Forschungsergebnisse belegen, wie wichtig es ist, dass auch Erwachsene lesen und schreiben können. Eltern, die nicht alphabetisiert sind, können ihren Kindern nicht helfen, wenn sie in die Schule kommen, oder erkennen den Wert von Bildung nicht.

Oft ist es für sie wichtiger, dass ihre Kinder zu Hause mithelfen. Oder es ist ihnen ökonomisch nicht möglich, die Kinder zur Schule zu schicken. Meist sind sie weniger bereit, Opfer auf sich zu nehmen und in die Bildung der Kinder zu investieren. Forschungsergebnisse zeigen, dass Mütter, die selber alphabetisiert sind, eher daran interessiert sind, ihre Töchter zur Schule zu schicken. Auch die Ernährungs- und Gesundheitssituation in Familien mit alphabetisierten Frauen ist besser.

Aber viele der Analphabeten sind Frauen.

64 Prozent, also gut zwei Drittel der weltweiten Analphabeten, sind Frauen. Das ist der Weltdurchschnitt. Allerdings gibt es einige Regionen, in denen der Unterschied zwischen Männern und Frauen höher ist. In Südasien beispielsweise sind es 73 Prozent der Männer, aber nur 51 Prozent der Frauen, die lesen und schreiben können. Da gibt es soziokulturelle Faktoren, dass Frauen einen niedrigeren gesellschaftlichen Status haben und dass männliche Familienmitglieder die Teilhabe von Frauen nicht unterstützen.

Doch der Hauptgrund für die Analphabetenmisere ist die Armut. Die Armut betrifft Frauen am stärksten, das wissen wir von vergleichenden Statistiken. Deswegen sind sie auch am meisten von Analphabetismus betroffen. Dazu kommen strukturelle Barrieren, beispielsweise dass die Alphabetisierungskurse zu ungünstigen Zeiten stattfinden, dass die Frauen keine Kinderbetreuung haben, dass sie nicht mobil sind, um zu den Kursen zu kommen, dass die Lehrenden keine Frauen sind, sondern Männer. Das sind nur einige Gründe.

Welche Maßnahmen werden für die Alphabetisierung ergriffen?

Die UNESCO vertritt den Rechtsanspruch, den jeder Mensch auf Grundbildung hat. Wir betrachten die Regierungen als die Hauptverantwortlichen, die Bildungsindikatoren entsprechend zu verbessern. Die Regierungen müssen also dafür sorgen, dass jeder Staatsbürger ein Bildungsniveau hat, das mindestens dem Äquivalent der schulpflichtigen Grundbildung entspricht. Dafür müssen die Regierungen die Ressourcen und das Know-how beschaffen und zur Verfügung stellen. Es sind allerdings viele arme Länder, die sich den größten Alphabetisierungsproblemen ausgesetzt sehen. Da ist die internationale Gemeinschaft gefragt, diese Länder finanziell und fachlich zu unterstützen.

So bietet die UNESCO etwa an, die Kapazitäten der Mitgliedstaaten durch Vermittlung von Know-how zu verbessern, damit diese bei der Politik- und Strategieentwicklung, bei der Planung und Umsetzung von Alphabetisierungsprogrammen und der Mobilisierung der Menschen bessere Ergebnisse erzielen können. Wir helfen aber auch ganz konkret bei der Entwicklung von Lernmaterial oder bei der Fortbildung des Lehrpersonals. Außerdem stärken wir Partnerschaften sowie Netzwerke und dokumentieren und transferieren Know-how, beispielsweise aus Ländern, die erfolgreich alphabetisiert haben. Dieses Wissen soll für alle zugänglich sein.

Hintergrund

In Deutschland leben nach Schätzungen des Bundesverbandes Alphabetisierung rund vier Millionen »funktionale Analphabeten«. Das bedeutet, dass trotz Schulbesuchs erhebliche Lese- und Rechtschreibschwächen vorliegen. Sie befinden sich in etwa auf dem Stand eines Drittklässlers, so Andreas Brinkmann vom Bundesverband Alphabetisierung. »Primärer Analphabetismus« – das heißt, dass ein Mensch nie die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens gelernt hat – sei in Deutschland hingegen relativ selten.

Durch die jährlich rund 70 000 Jugendlichen, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen, wird die Zahl der »funktionalen Analphabeten« kontinuierlich genährt. Demgegenüber stehen ungefähr 20 000 Lernende, die sich entschieden haben an Lese- und Schreibkursen teilzunehmen. Das sind 0,5 Prozent aller Betroffenen. »Die Leute wissen meist gar nicht davon, dass es Alphabetisierungskurse gibt«, erklärt Brinkmann. Hinzu komme, dass es sich um ein riesiges Tabuthema handelt und es den Menschen sehr unangenehm sei, mit ihrem Nicht-Können konfrontiert zu sein. »Die meisten gehen erst in Kurse, wenn der Leidensdruck für sie nicht mehr tragbar ist.« Beispielsweise wenn der Arbeitgeber mit Kündigung drohe. Doch auch die nächsten Angehörigen oder Freunde seien oft Auslöser, sich zu einem der Kurse anzumelden. »Die Lernenden«, fügt Brinkmann hinzu, »berichten immer von einem enormen Gewinn an Selbstständigkeit.«

Krieg und Armut als Hauptgründe

Der Welttag der Alphabetisierung am 8. September ist jedes Jahr Anlass, bessere Bildungschancen rund um den Globus zu fordern. Weltweit können nach Angaben der UN-Kulturorganisation UNESCO rund 759 Millionen Menschen nicht lesen und schreiben. Das ist fast ein Fünftel der Erwachsenen, die auf der Erde leben.

Betroffen sind vor allem bevölkerungsreiche Länder. Mehr als die Hälfte der Analphabeten lebt in Indien, Bangladesch und Pakistan. Weitere 176 Millionen nicht alphabetisierter Menschen sind in Subsahara-Afrika zu Hause. In Mali, Burkina Faso, Niger, Tschad, Äthiopien und Guinea sind die niedrigsten Alphabetisierungsraten zu finden. Aber auch konfliktbetroffene Länder wie Afghanistan, Sudan oder Sierra Leone weisen sehr geringe Alphabetenraten auf. Insgesamt konzentrieren sich 74 Prozent aller Analphabeten auf diese beiden Regionen. Armut, Krieg und fehlendes politisches Interesse sind die Hauptgründe für hohe Analphabetenrate.

Weltweit gehen 72 Millionen Jungen und Mädchen nicht zur Schule. Die globalen Fortschritte bei der Alphabetisierung haben sich in den vergangenen Jahren verlangsamt. Durch das Bevölkerungswachstum stieg die absolute Zahl der Analphabeten in vielen Regionen weiter an.

Die Zahlen über Alphabetisierungsraten, so die UNESCO, müssten jedoch vorsichtig interpretiert werden. Denn sie beruhen auf unzuverlässigen Erhebungen. Zum Beispiel wurden Haushaltsvorstände gefragt: Wie viele der hier wohnenden Familienmitglieder können lesen und schreiben? Die auf Selbsteinschätzung beruhenden Informationen seien ungenau.

Setzt sich die aktuelle Entwicklung fort, errechnete die UNESCO, werden im Jahr 2015 noch immer 710 Millionen Menschen nicht lesen und schreiben können. edp/ND



* Aus: Neues Deutschland, 8. September 2010


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