"Ohne weitere Steigerungen wird die Bundesregierung die Verpflichtungen der EU-Länder bis 2010 aber nicht erreichen"
Welthungerhilfe und terre des hommes legen ihren 15. Bericht zur "Wirklichkeit der Entwicklungshilfe" vor. Pressemitteilungen der Entwicklungsministerin und der Kritiker - Auszüge aus dem Bericht
Am 8. November 2007 stellten die Welthungerhilfe und terre des hommes ihren kritischen Bericht zur Wirklichkeit der Enwicklungspolitik (2006/2007) der Öffentlichkeit vor. Hierzu dokumentieren wir -
die Pressemitteilung von terre des hommes und Welthungerhilfe
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eine Replik (Pressemitteilung) der Entwicklungsministerin und
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Auszüge aus dem 15. Bericht
Pressemitteilung
15. Bericht zur Wirklichkeit der Entwicklungshilfe
Bundesregierung muss Entwicklungshilfe-Ausgaben langfristig auf solide Basis stellen
Deutsche Welthungerhilfe und terre des hommes fordern nationalen Stufenplan zur Steigerung der Entwicklungshilfeleistungen bis 2010
Berlin, 08.11.2007 - Die Deutsche Welthungerhilfe und terre des hommes fordern von der Bundesregierung einen nationalen Stufenplan zur Steigerung der Entwicklungshilfeleistungen bis in das Jahr 2010. Dieser Stufenplan sollte spätestens zur zweiten internationalen UN-Konferenz über Entwicklungsfinanzierung im Dezember 2008 in Doha vorliegen. Damit solle die Bundesregierung deutlich machen, dass sie entschlossen sei, den in der Europäischen Union vereinbarten Plan zur Erhöhung der Ausgaben für Entwicklungshilfe ernst zu nehmen und umzusetzen.
»Die von der Bundeskanzlerin auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm angekündigten zusätzlichen Entwicklungshilfe-Gelder in Höhe von 750 Millionen Euro finden sich in den Haushaltsplanungen für 2008 wieder, doch die weitere Finanzplanung des Bundes geht von einer Fortschreibung dieser Summe aus. Ohne weitere Steigerungen wird die Bundesregierung die Verpflichtungen der EU-Länder bis 2010 aber nicht erreichen«, erklärte Peter Mucke, Geschäftsführender Vorstand von terre des hommes.
Deutschland hat im Jahr 2006 rund 8,2 Milliarden Euro für Entwicklungshilfeleistungen ausgegeben. Der Anteil am Bruttonationaleinkommen lag damit unverändert bei 0,36 Prozent. Damit befindet sich Deutschland im internationalen Vergleich der westlichen OECD-Mitgliedstaaten im Mittelfeld.
terre des hommes und Welthungerhilfe kritisieren jedoch, dass die Statistiken aufgebläht werden. Bei rund einem Viertel der Ausgaben handelt es sich nicht um tatsächlich zur Verfügung gestelltes Geld, sondern um die Anrechnung von Schuldenerlassen. Ein knappes Zehntel machen die rechnerischen Studienplatzkosten für Studenten aus Entwicklungsländern aus. Die wirkliche Entwicklungshilfe liegt um 35 Prozent unter den offiziellen Zahlen.
»Auch beim G8-Gipfel in Heiligendamm wurde mit großen Summen hantiert, die mehr Schein als Sein darstellten“, sagte Hans-Joachim Preuß, Generalsekretär der Welthungerhilfe. „Insgesamt zeichnete sich die deutsche EU- und G8-Präsidentschaft in der Entwicklungspolitik durch mehr Symbolik als Substanz aus.« Um Armut und Hunger entschlossen zu bekämpfen, müsse die Bundesregierung die Mittel für Ernährungssicherung, ländliche Entwicklung, Bildung und Gesundheit substantiell erhöhen und sich verstärkt dafür einsetzen, dass Entwicklungsländer eine faire Chance im Welthandel bekommen.
Quelle: Pressemitteilung von terre des hommes und Welthungerhilfe, 8. November 2007; www.tdh.de
Wieczorek-Zeul: Entwicklungspolitische Erfolge gemeinsam mit der Zivilgesellschaft ausbauen
"Der 15. Bericht zur ‚Wirklichkeit der Entwicklungshilfe’ hat unsere Politik kritisch beleuchtet und gestärkt", sagte Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul nach Vorstellung der Studie durch die Deutsche Welthungerhilfe und Terre des Hommes. "Auch wenn wir nicht in allen Punkten mit der Zivilgesellschaft übereinstimmen: Der Bericht zeigt, dass die Gemeinsamkeiten in der Bewertung überwiegen und wir wichtige Themen gemeinsam weiter voranbringen.
Wieczorek-Zeul wies jedoch Kritik zurück, die Zahlen der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit seien statistisch aufgebläht: "Gezählt wird, was der Entwicklung nutzt. Dafür gibt es in der OECD feste Regeln, an die wir uns halten. Diese schließen Entschuldung und Studienplatzkosten für Studierende aus Entwicklungsländern mit ein", sagte die Ministerin. Mit Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit von 0,36 Prozent des Bruttonationaleinkommens habe Deutschland das Ziel des Europäischen ODA-Stufenplans für 2006 gemeistert.
Unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft ist im Mai darüber hinaus beschlossen worden, dass alle EU-Mitgliedstaaten nationale Umsetzungspläne zur Erreichung des 0,51-Prozent-Ziels bis 2010 vorlegen.
Auch Afrika bleibe im Zentrum der deutschen Entwicklungspolitik - als Kontinent der Zukunft, nicht als Almosenempfänger.
Wieczorek-Zeul: "Heiligendamm war ein Gipfel mit ganz konkreten Ergebnissen. Gemeinsam arbeiteten wir in Afrika an Investitionen und an der Stärkung der Finanzmärkte ebenso wie an guter Regierungsführung im öffentlichen Finanzbereich. Daher unterstützen wir beispielsweise die Transparentinitiative EITI.
Unsere Beschlüsse helfen den Menschen rasch und konkret. Für den Kampf gegen HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria haben wir unsere jährlichen Mittel um 100 Millionen Euro auf 500 Millionen Euro erhöht. Gleichzeitig war die Berliner Wiederauffüllungskonferenz des Globalen Fonds ein großer Erfolg, der mit Zusagen in Höhe von insgesamt 9,7 Milliarden US-Dollar alle Erwartungen übertroffen hat. Erste Programme zur Produktion von Generika laufen an. Die Debt2Health-Initiative, die Deutschland als erstes Geberland realisiert, verwandelt Schulden in Gesundheit", betonte die Ministerin.
Auch andere Entschuldungsinitiativen nahm Bundesentwicklungsministerin Wieczorek-Zeul in Schutz: "Die Entschuldung der ärmsten Länder hat nachweislich dazu geführt, dass diese mehr Geld für Bildung, Gesundheit und Soziales ausgegeben haben."
Auch der Dialog mit den großen Schwellenländern habe an Qualität gewonnen. Dies sei besonders wichtig für die anstehenden Klimaverhandlungen, so die Ministerin. "Denn Entwicklungspolitik ist auch Klimapolitik. Mit neuen Finanzierungsinstrumenten wie dem Emissionshandel werden wir unsere Partnerländer bei der Bewältigung des Klimawandels unterstützen," sagte Wieczorek-Zeul.
Quelle: Website des Entwicklungsministeriums; www.bmz.de
Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe
Fünfzehnter Bericht 2006 / 2007
Eine kritische Bestandsaufnahme der deutschen Entwicklungspolitik
Wir dokumentieren im Folgenden das kurze Vorwort zur Studie, die Einleitung und die abschließenden Empfehlungen. Wir verzichten dabei auf die im Originaltext enthaltenen Fußnoten.
Die ganze Broschüre ist hier zu erhalten: www.tdh.de
Vorwort
In diesem Jahr veröffentlichen die Deutsche Welthungerhilfe und
terre des hommes Deutschland den fünfzehnten Bericht „Die Wirklichkeit
der Entwicklungshilfe“. Dieser jährliche Bericht erscheint seit
1993 und hat sich als Instrument kritischer Analyse der Entwicklungspolitik
der Bundesregierung etabliert und bewährt.
Der Bericht ist auch in diesem Jahr als OECD-DAC-Schattenbericht
zur offiziell deklarierten deutschen Entwicklungspolitik konzipiert. Er
skizziert quantitative und qualitative Aspekte deutscher öffentlicher
Leistungen vor dem Hintergrund der entwicklungspolitischen Ansprüche
und Zielsetzungen der Bundesregierung und bezieht dabei
auch den internationalen Rahmen deutscher Entwicklungspolitik
ein. Ein Schwerpunkt bleibt daher die Frage nach der Umsetzung der
UN-Millenniumsentwicklungsziele: Politischen Absichtserklärungen
werden tatsächliche Zahlen und Fakten gegenübergestellt.
Erstmals setzt sich der Bericht mit kritischen Stimmen zur Entwicklungspolitik aus den Ländern des Südens und aus entwicklungspolitischen
Institutionen auseinander.
Besonderes Augenmerk legt der Bericht auf die Ergebnisse des G8-
Gipfels im Juni in Heiligendamm und die entwicklungspolitische
Bilanz der deutschen G8-Präsidentschaft. Er benennt die sich aus
den Beschlüssen ergebenden Konsequenzen und bewertet die
politischen Schlussfolgerungen der Bundesregierung im Hinblick
darauf, ob sie den Beschlüssen entsprechen und den Anforderungen
genügen.
Auf Basis dieser Bewertung formulieren Deutsche Welthungerhilfe
und terre des hommes Empfehlungen an die Bundesregierung für
eine bessere deutsche Entwicklungspolitik.
Autor ist Jens Martens, entwicklungspolitischer Gutachter, Bonn.
Der Bericht erscheint in diesem Jahr erstmals in einem anderen Format,
das die Aufbereitung und die Präsentation der Daten unterstützen
und den schnellen Zugang zu den Informationen erleichtern soll.
Bonn/Osnabrück, im September 2007
Einleitung (Seite 9-10)
Das Jahr 2007 brachte für die deutsche Entwicklungspolitik
einen bislang einmaligen Boom an
öffentlicher Aufmerksamkeit und Medienpräsenz.
Vor allem im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel
in Heiligendamm standen die Themen Armutsbekämpfung
und Afrika weit oben auf der politischen
Agenda der Bundesregierung. Selten zuvor hat
sich ein Bundeskanzler bzw. eine Bundeskanzlerin
innerhalb weniger Monate so häufig zu entwicklungspolitischen
Themen geäußert.
Dies geschah auch in Folge des öffentlichen
Drucks zivilgesellschaftlicher Gruppen, insbesondere
der weltweiten Kampagne Global Call to Action
Against Poverty (GCAP) mit seinem deutschen
Ableger Deine Stimme gegen Armut. Sie wurde von
zahlreichen Prominenten unterstützt, allen voran
den Musikern Herbert Grönemeyer, Bono und
Bob Geldof. Und selbst die Bild-Zeitung und das
Lifestyle-Magazin Vanity Fair widmeten den Themen
Armut und Afrika aus Anlass des G8-Gipfels
Sonderausgaben.
Dass Politik und Medien in Deutschland sich
2007 verstärkt mit diesen Themen befassten, ist
zweifellos erfreulich. Der Grund dafür ist es nicht:
Das Ausmaß von Armut und Hunger weltweit ist
weiterhin dramatisch, die Ausbreitung von HIV
und AIDS konnte bislang nicht gestoppt werden,
das soziale Gefälle zwischen Arm und Reich hat
sich sowohl innerhalb vieler Länder, also auch zwischen
den Gesellschaften, weiter vergrößert. Vom
dynamischen Wirtschaftswachstum profitieren in
Ländern wie China die armen Bevölkerungsgruppen
kaum. Und auch der Ressourcenreichtum vieler
afrikanischer Länder kommt dort häufig nur
einer privilegierten Minderheit zugute. Vor diesem
Hintergrund gewinnen Verteilungsfragen in den
entwicklungspolitischen Debatten wieder mehr
und mehr an Bedeutung.
Auch der von den reichen Industrieländern ausgelöste
Klimawandel wird zunehmend zum Thema
der Entwicklungspolitik. Denn er gefährdet in besonderem
Maße ausgerechnet die ärmsten Länder
des Südens: Wüsten werden sich ausbreiten, Wälder
werden zerstört und Küstenregionen überflutet,
wenn die Regierungen nicht rasch und entschieden
gegensteuern. Die zu erwartenden Anpassungskosten
der Klimaveränderungen werden die Entwicklungszusammenarbeit
in den kommenden Jahren vor zusätzliche Herausforderungen stellen.
Gemessen am Ausmaß dieser Probleme reicht
die politische Antwort der Bundesregierung bisher
bei weitem nicht aus. Zwar hat sie im Zusammenhang
mit dem G8-Gipfel einige wichtige Signale
gesetzt: Sie hat angekündigt, die öffentliche Entwicklungshilfe
(Official Development Assistance,
ODA) im Bundeshaushalt 2008 um 750 Millionen
Euro aufzustocken; sie will die jährlichen Ausgaben
zur internationalen Bekämpfung von HIV und
AIDS ab dem kommenden Jahr auf 500 Millionen
Euro erhöhen; sie hat zugesagt, etwa 30 Prozent der
Erlöse aus der Versteigerung von CO2-Verschmutzungszertifikaten
für den internationalen Klimaschutz
zu verwenden; und sie unterstützt aktiv die
Initiative zur Offenlegung der Zahlungsflüsse zwischen
Rohstoffunternehmen und den Regierungen
der Abbauländer (Extractive Industries Transparency
Initiative, EITI), um Ausbeutung und Korruption
entgegenzuwirken.
Aber wie der Vergleich zwischen Anspruch und
Wirklichkeit deutscher Entwicklungspolitik zeigt,
muss die Bundesregierung weit mehr tun, um ihre
internationalen Verpflichtungen, etwa aus dem
Stufenplan der Europäischen Union (EU) zur Erhöhung
der Entwicklungshilfe, zu erfüllen. Und
sie muss die gravierenden Inkohärenzen in ihrer
Politik beseitigen, um positive Resultate ihrer Entwicklungszusammenarbeit nicht wieder zunichte zu machen. Dazu nur zwei Beispiele: Nach wie vor gefährden die auch von der Bundesregierung mitzuverantwortenden Agrarsubventionen der EU die
Existenzgrundlage unzähliger Kleinbauern in den
Ländern des Südens. Und die von der Bundesregierung
im Rahmen der G8 geforderte Verschärfung
des internationalen Patentschutzes wird die
überlebenswichtige Versorgung von AIDS-Kranken
mit bezahlbaren Nachahmermedikamenten (Generika)
erschweren. Die wirtschaftlichen Interessen
der deutschen Pharmaunternehmen hatten für die
Bundesregierung beim G8-Gipfel offensichtlich
Vorrang vor dem international vereinbarten Entwicklungsziel, allen AIDS-Kranken bis zum Jahr
2010 den Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten
zu bezahlbaren Kosten zu ermöglichen.
Trotz dieser Widersprüche und der insgesamt unzureichenden
Resultate hat das Jahr 2007 gezeigt,
dass die Dynamik internationaler Gipfeltreffen
durchaus zu punktuellen entwicklungspolitischen
Fortschritten führen kann. Das Jahr 2008 bietet
für die Bundesregierung dazu weitere wichtige Gelegenheiten,
insbesondere die zweite Internationale
Konferenz über Entwicklungsfinanzierung (Financing
for Development, FfD), die die Vereinten Nationen
voraussichtlich im Dezember 2008 in Doha,
der Hauptstadt Katars, durchführen werden. Dort
kann die Bundesregierung unter Beweis stellen,
dass es ihr ernst ist mit dem verstärkten entwicklungspolitischen
Engagement, das sie im Jahr 2007
gezeigt hat.
Schlussfolgerungen und Reformempfehlungen für eine bessere deutsche Entwicklungspolitik 2008 (Seite 34-38)
Die Bilanz deutscher Entwicklungspolitik am Ende
des Jahres 2007, das von der Doppelpräsidentschaft
Deutschlands in EU und G8 geprägt war,
ist zwiespältig. Auf der einen Seite haben entwicklungspolitische
Themen in Medien und Öffentlichkeit,
vor allem im Umfeld des G8-Gipfels, eine
nie dagewesene Aufmerksamkeit erlangt. Dies hat
den Handlungsdruck auf die Bundesregierung erhöht
und damit sicherlich die Entscheidung der
Bundeskanzlerin befördert, die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit
2008 substantiell aufzustocken
und die Ausgaben für die Bekämpfung von
HIV und AIDS zu steigern.
Auf der anderen Seite zeigen alle Berichte zur
Halbzeitbilanz der MDGs 2007, dass sowohl von
den Entwicklungsländern selbst als auch von den
reichen Ländern – und damit auch von Deutschland
– weit mehr getan werden muss, um die Millenniumsziele
bis zum Jahr 2015 zu verwirklichen.
Wie die vorausgegangenen Kapitel dieses Berichts
zeigen, betrifft dies einerseits die Quantität und
Qualität deutscher Entwicklungshilfe, andererseits
aber auch die Überwindung der Widersprüche
und Inkohärenzen in der deutschen Politik gegenüber
dem Süden. Solange die Bundesregierung
eine europäische Handels- und Subventionspolitik
mitträgt, die gegen die Interessen der Entwicklungsländer
gerichtet ist, solange sie dem Patentschutz
für deutsche Unternehmen Vorrang vor der
lebensnotwendigen Versorgung AIDS-Kranker
mit bezahlbaren Medikamenten einräumt, solange
sie eine grundlegende Reform der internationalen
Entschuldungsverfahren ablehnt, solange werden
die positiven Resultate ihrer Entwicklungszusammenarbeit
allzu oft von den negativen Folgen
ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik zunichte gemacht.
Daraus allerdings den Umkehrschluss zu ziehen,
Entwicklungszusammenarbeit brächte in ihrer bisherigen
Form ohnehin nichts, ist grundverkehrt.
Aber eben dieser, teilweise bewusst provokant formulierten,
Kritik ist die Entwicklungspolitik seit
einiger Zeit verstärkt ausgesetzt. Als „Kronzeuge“
forderte etwa der kenianische Ökonom James
Shikwati im Vorfeld des G8-Gipfels: „Wer Afrika
helfen will, darf kein Geld geben“. Er stellte fest,
die bisherige Entwicklungshilfe hätte die Abhängigkeitssituation
der Länder des Südens gegenüber
den Geberländern zementiert, Unternehmergeist
und Handelsbeziehungen zwischen Nachbarstaaten
unterdrückt, instabile Regime stabilisiert und
lokale Eliten bereichert.
Auch eine Reihe ehemaliger Weltbankexperten
und -berater, wie zum Beispiel William Easterly,
Robert Calderisi und Thomas W. Dichter, üben
grundsätzliche Kritik an den bisherigen Formen
und Konzepten der Entwicklungszusammenarbeit. In ihren Büchern und Artikeln erklären sie
ausführlich, warum die Entwicklungsstrategien,
die sie selbst als Weltbankvertreter den Ländern des
Südens über Jahrzehnte verordnet haben, gescheitert
sind. Allerdings plädieren sie als Konsequenz
nicht für die Abschaffung der Entwicklungszusammenarbeit,
sondern für ihre grundsätzliche Neuorientierung.
Easterly sieht den Hauptgrund für die mangelnden
Erfolge der Entwicklungszusammenarbeit
im „Top-down“-Ansatz westlicher Entwicklungsplaner,
die die konkreten Probleme der Entwicklungsländer
vor Ort zuwenig berücksichtigt hätten.
Besonders scharf grenzt er sich vom modernisierungstheoretischen
Ansatz des US-Ökonomen Jeffrey
Sachs ab. Dieser setzt als Leiter des UN-Millenniumprojekts
zur Verwirklichung der MDGs
vor allem auf den massiven Zufluss („big push“)
ausländischen Kapitals, um in den Entwicklungsländern
einen dauerhaften Wachstumsschub („take
off“) in Gang zu setzen. Für Easterly spiegelt sich
darin eine neokoloniale Mentalität wider, die in
erster Linie die Entwicklungsbürokratien stärke.
Andererseits lehnt er im Gegensatz zu Shikwati
aber auch die „Schocktherapie“ der übergangslosen
Einführung der freien Marktwirtschaft ab, da sie
zuwenig Rücksicht auf die bestehenden Strukturen
in den Entwicklungsländern nähme und den
Ärmsten nicht zugute käme. Schließlich kritisiert
Easterly auch die Konzepte der neokonservativen
Denkschule in den USA, den ärmsten Ländern
durch Treuhandverhältnisse („trusteeships“), geteilte
Souveränität („shared sovereingty“) und gezielte
militärische Interventionen Demokratie und
Wohlstand zu bringen.
Entwicklungszusammenarbeit könne nur dann
erfolgreich sein, wenn Interventionen von außen
auf ein Minimum reduziert würden. Stattdessen
sollten heimische Strukturen weiterentwickelt, die
lokale Wirtschaft gefördert und Institutionen (zum
Beispiel ein funktionierendes Bankensystem) aufgebaut
werden. Im Gegensatz zu seiner fundamentalen
Kritik bleiben Easterlys praktische Reformvorschläge
allerdings konventionell und bieten
keine adäquaten Antworten auf seine Grundsatzkritik.
Sie konzentrieren sich hauptsächlich auf die
Projektebene. Easterly plädiert für eine bessere Evaluierung
der Projekte, er fordert, dass die Projektleiter
persönlich für den Erfolg ihrer Projekte verantwortlich
gemacht werden, und er spricht sich für
ein System von Anreizen (für erfolgreiche Projekte)
und Sanktionen (bei fehlgeschlagenen Projekten)
aus. Zwar hatte er durchaus zurecht kritisiert, dass
die Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung in
der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit oft
zu wenig berücksichtigt worden seien, aber auch
in seinen eigenen Reformvorschlägen stehen die
spezialisierten Entwicklungsexperten im Zentrum,
während die Betroffenen vor allem in ihrer Rolle
als Hilfeempfänger und „Kunden“ der Projekte erwähnt
werden.
Robert Calderisi hält anders als Easterly die projektbezogene
Hilfe nicht für ausschlaggebend, um
die Defizite der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit
zu überwinden. Wichtig wäre vielmehr
die Zusammenarbeit mit vertrauenswürdigen Regierungen,
die bewiesen haben, dass sie der Armutsbekämpfung
politische Priorität einräumen. Denn
ein Hauptgrund für die entwicklungspolitischen
Fehlschläge der Vergangenheit läge darin, dass Entwicklungshilfegelder
an korrupte Eliten geflossen
seien und nicht zum Wohle der heimischen Bevölkerung
verwendet wurden.
Für zivilgesellschaftliche Gruppen in den Ländern
des Südens sind die Erkenntnisse dieser Kritiker
nicht neu. Sie prangern seit vielen Jahren sowohl
verfehlte politische Konditionalitäten und die
unbotmäßige Einflussnahme der Geberregierungen
als auch die Alimentierung willfähriger Eliten in
den Entwicklungsländern an. Gleichermaßen kritisieren
sie aber auch die Korruption, Vetternwirtschaft
und Repression in ihren Ländern. Deshalb
beschränken zivilgesellschaftliche Organisationen
sich in ihren Kampagnen nie allein auf die Forderung
nach mehr Entwicklungshilfegeldern. Um die
weltweite Armut zu überwinden und soziale Gerechtigkeit
zu fördern, setzt sich beispielsweise die
weltweite Kampagne gegen Armut (GCAP) für die
parallele Verwirklichung folgender fünf Kernziele
ein:
-
Rechenschaftspflicht staatlicher Stellen, gerechte
Regierungsführung und Einhaltung der
Menschenrechte;
- Faire Welthandelsbeziehungen;
- Schuldenstreichungen;
- Geschlechtergerechtigkeit; sowie
- die substantielle Erhöhung der Quantität und
Qualität der Entwicklungsfinanzierung.
Easterly und andere Kritiker weisen durchaus
zurecht auf Defizite und Schwächen der herkömmlichen
Entwicklungszusammenarbeit hin.
Ihre Erfahrungen und Argumente verdienen es,
sowohl von Entwicklungspolitikern als auch unter
Wissenschaftlern und NRO ausführlicher diskutiert
zu werden. Durch ihren starken Fokus auf die
Entwicklungszusammenarbeit im engeren Sinne
lenken sie jedoch von anderen Einflussfaktoren für
den Erfolg oder Misserfolg von Entwicklungsprozessen
ab, insbesondere den Mechanismen des internationalen
Handels- und Finanzsystems.
In ihrer bewussten Überzeichnung vermitteln
Kritiker wie Shikwati zudem das irreführende Bild,
in den Süden würden enorme Finanzströme fließen.
Sie ignorieren dabei, dass die Finanzflüsse aus
den Ländern des Südens in den reichen Norden
inzwischen weit größer sind. Dieser umgekehrte
Kapitaltransfer entzieht den Entwicklungsländern
dringend benötigte Ressourcen und ist ein gravierendes
Entwicklungshemmnis – eine Tatsache, die
die Kritiker in ihren Analysen über das „Scheitern“
der Entwicklungszusammenarbeit meist unberücksichtigt
lassen. Der UN-Generalsekretär stellt
in einem Report im Juni 2007 fest, dass sich der
Nettofinanztransfer aus den Entwicklungsländern
seit dem Jahr 2000 mehr als verdreifacht hat. Er
hat 2006 einen Umfang von 650 Milliarden USDollar
erreicht und damit mehr als das Sechsfache
der weltweiten ODA (103,9 Milliarden US-Dollar).
Grund für die enormen Abflüsse sind zum
einen Schuldendienstzahlungen und Abflüsse von
Gewinnen und Dividenden aus Auslandsinvestitionen,
zum anderen der massive Anstieg der Währungsreserven
vor allem in Ostasien und in den
erdölexportierenden Entwicklungsländern. Aber
selbst Afrika südlich der Sahara musste im vergangenen
Jahr erstmals offi ziell einen Nettoabfluss fi-
nanzieller Ressourcen verbuchen. Die Streichung
der Entwicklungshilfeleistungen würde den negativen
Nettofinanztransfer aus dieser Region weiter
erhöhen und damit die ökonomischen und sozialen
Probleme dort verschärfen.
Die politische Konsequenz sollte stattdessen darin
bestehen, den gegenwärtigen Trend umzukehren,
die inländischen und internationalen Ursachen für
die Kapitalabflüsse aus den Entwicklungsländern
so weit es geht zu beseitigen und die Entwicklungszusammenarbeit
mit diesen Ländern sowohl quantitativ
wie qualitativ zu steigern. Hierbei ist auch
die deutsche Politik gegenüber den Ländern des
Südens gefordert. Der Bundesregierung bieten sich
2008 eine Reihe internationaler Anlässe, um einerseits
zu demonstrieren, dass sie den eingeschlagenen
Kurs des verstärkten entwicklungspolitischen
Engagements fortsetzt, und andererseits Kurskorrekturen
in den Bereichen ihrer Wirtschafts- und
Finanzpolitik vorzunehmen, die Fortschritte bei
der Armutsbekämpfung und der Verwirklichung
der MDGs behindern. Von besonderer Bedeutung
ist dabei die zweite Internationale Konferenz über
Entwicklungsfinanzierung, die die Vereinten Nationen
voraussichtlich im Dezember 2008 in Doha
veranstalten werden. Auf der Agenda dieser Ereignisse
werden vor allem folgende Themen stehen,
zu denen die Bundesregierung Position beziehen
muss:
1. Mobilisierung heimischer Ressourcen fördern
Um langfristig die Abhängigkeit von ausländischen
Gebern und internationalen Finanzinstitutionen
zu überwinden, müssen die Länder des Südens in
der Lage sein, mehr Staatseinnahmen im eigenen
Land zu mobilisieren, um öffentliche Güter und
15 Weitere wichtige Anlässe sind die zwölfte Konferenz der UN-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD XII) in Accra,
Ghana, im April 2008, das erste hochrangige Forum für Entwicklungszusammenarbeit
(Development Cooperation Forum) der UN
im Juli 2008, sowie die internationale Folgekonferenz zur Pariser
Erklärung über die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit,
die im September 2008 wiederum in Accra stattfindet.
Dienstleistungen in ausreichendem Umfang bereitzustellen.
Grundvoraussetzungen dafür sind unter
anderem ein effektives Steuersystem, transparente
Zahlungsflüsse, demokratisch kontrollierte Haushalte
sowie die Bekämpfung der Kapitalflucht und
die Rückführung veruntreuter öffentlicher Gelder.
Notwendig sind dazu sowohl der Aufbau eines flächendeckenden
Steuersystems und einer leistungsfähigen
Finanzverwaltung, als auch die Verbesserung
der internationalen Rahmenbedingungen, die
bisher Steuervermeidung, Kapitalflucht und Veruntreuung
begünstigten. Solange die Grundbedingungen
demokratischer Teilhabe und Transparenz
in einem Land nicht gegeben sind, sollten verstärkt
NRO in ihrer Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen
Organisationen in den betreffenden
Ländern unterstützt werden, um auf diese Weise
Demokratisierungsprozesse zu fördern und sicherzustellen,
dass die Entwicklungshilfegelder der betroffenen
Bevölkerung zugute kommen.
Die Bundesregierung hat im G8-Aktionsplan
für gute Regierungsführung im Finanzbereich
angekündigt, den Aufbau effektiver Steuersysteme
und Finanzverwaltungen sowie transparenter
Haushaltsverfahren in den Entwicklungsländern
zu unterstützen. Dies muss sich
in ihrer bilateralen EZ widerspiegeln. Das BMZ
sollte seine finanzielle Unterstützung für diesen
Bereich weiter ausbauen. Zugleich sollte die
Bundesregierung die Initiative zur Offenlegung
der Zahlungsflüsse zwischen Unternehmen des
Rohstoffsektors und den Regierungen der Abbauländer
(EITI) verstärkt unterstützen und sich
dafür einsetzen, dass diese Initiative rechtsverbindliche
Transparenzpflichten für Unternehmen
formuliert, die mittelfristig auf alle Wirtschaftssektoren
übertragen werden. Schließlich
sollte der Bundestag die rechtlichen Voraussetzungen
für die Rückführung veruntreuter Gelder
in die Heimatländer schaffen und endlich die
Konvention der Vereinten Nationen gegen Korruption
ratifizieren.
2. Verpflichtung zur Erhöhung der ODA in praktische Politik übersetzen
Die Bundeskanzlerin hat sich 2007 mehrfach dazu
bekannt, die Verpflichtungen Deutschlands aus
dem Stufenplan der EU zu erfüllen und die deutsche
ODA bis 2010 auf 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) zu erhöhen. Das
bedeutet in konkreten Zahlen, dass die deutschen
ODA-Leistungen zwischen 2006 und 2010 von
8,2 auf rund 13,0 Milliarden Euro steigen müssen.
Dies erfordert eine jährliche Erhöhung der deutschen
Entwicklungshilfe um 1,2 Milliarden Euro.
Die Erhöhung der deutschen ODA um 750 Millionen
Euro 2008 ist ein Schritt in die richtige Richtung,
reicht aber bei weitem nicht aus, insbesondere
wenn es bei dieser einmaligen Erhöhung bliebe
und dem Entwicklungsetat in den folgenden Jahren
Nullwachstum verordnet werden würde. Die
Situation verschärft sich ab 2009, wenn die Schuldenerlasse
für Nigeria, den Irak und die meisten
HIPC vollständig auf die ODA angerechnet sind
und dieser Strohfeuereffekt damit wegfällt. Wenn
die Bundesregierung bis dahin nicht entschieden
gegensteuert, wird sich die Schere zwischen dem
„Soll“ und dem „Ist“ deutscher Entwicklungsfinanzierung
immer weiter öffnen. Die Finanzierungslücke
könnte bereits 2010 eine Größenordnung von
fünf Milliarden Euro erreichen.
Die Bundesregierung muss ihre politische
Verpflichtung, die öffentliche Entwicklungshilfe
gemäß dem Stufenplan der EU bis 2010 auf 0,51
Prozent und bis 2015 auf 0,7 Prozent des BNE zu
erhöhen, in praktische Politik umsetzen. Sie sollte
zu diesem Zweck spätestens bis zur zweiten
Konferenz der Vereinten Nationen über Entwicklungsfinanzierung
einen nationalen Stufenplan
vorlegen, in dem sie festlegt, in welchem Jahr
sie welche zusätzlichen Mittel für welche Zwecke
bereitstellen will, um ihre Verpflichtungen
aus dem EU-Stufenplan zu erfüllen. Ein solcher
Stufenplan wäre auch für die größere Berechenbarkeit
der deutschen Entwicklungspolitik und
die bessere Geberkoordination notwendig.
3. Qualität und Armutsorientierung der Entwicklungszusammenarbeit steigern
Die Bundesregierung hat sich im Rahmen der Pariser
Erklärung verpflichtet, die Wirksamkeit ihrer
Entwicklungszusammenarbeit u.a. durch bessere
Geberkoordination, die Stärkung der Rolle der
Partnerregierungen und den Abbau von Lieferbindungen
zu erhöhen. Mit dem EU-Verhaltenskodex
über die Komplementarität und Arbeitsteilung in
der Entwicklungspolitik hat sie eine politische Absichtserklärung
für die bessere Koordination der
EU-Geber verabschiedet, deren praktische Umsetzung
nun ansteht.
Die Verbesserung der Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit
kann aber nicht getrennt
von ihrer thematischen Ausrichtung erfolgen. Eine
bessere Geberkoordination, die weniger der Armutsbekämpfung
als vielmehr der Durchsetzung
ausländischer Investoreninteressen diente, wäre entwicklungspolitisch
kontraproduktiv. Zur Verbesserung
der Qualität der EZ ist daher die stärkere finanzielle Förderung von Programmen zur gezielten
Unterstützung von Frauen und Kindern, landwirtschaftlicher
Produktivitätssteigerung und ländlicher
Entwicklung, Ernährungssicherung und Bereitstellung
essentieller öffentlicher Dienstleistungen (insbesondere
Bildung, Gesundheitsversorgung, Wasser-
und Sanitärversorgung) dringend erforderlich.
In der Rahmenplanung des BMZ für die bilaterale
EZ spiegelt sich eine solche Prioritätensetzung
aber nur teilweise wider. Ausdrücklich positiv zu
bewerten sind die geplante Steigerung der Mittelzusagen
für die ärmsten Länder (LDCs) sowie die
Ankündigung der Bundesregierung, die Mittel zur
Bekämpfung von HIV und AIDS ab 2008 auf 500
Millionen Euro zu erhöhen. Gemessen an der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit Deutschlands und
dem globalen Finanzierungsbedarf, den UNAIDS
für 2007 mit 18,1 Milliarden US-Dollar bezifferte,
müsste die Bundesregierung aber jährlich mindestens
800 Millionen Euro für die weltweite AIDSBekämpfung
zur Verfügung stellen.
Die Bundesregierung sollte sich bei der
Nachfolgekonferenz zur Pariser Erklärung über
die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit
in Accra, Ghana, im September 2008 dafür
einsetzen, dass diese Erklärung substantiell weiterentwickelt
wird. Dazu gehören unter anderem
weitergehende Verpflichtungen zur Aufhebung
der Lieferbindungen, die sich nicht nur auf
die finanzielle Zusammenarbeit beschränken
sollten, sondern unter anderem auch die Nahrungsmittelhilfe
einschließen sollten.
Zur Erhöhung der Armutsorientierung ihrer Entwicklungspolitik
sollte die Bundesregierung die
Mittel zur Förderung der Ernährungssicherung,
landwirtschaftlicher und ländlicher Entwicklung
und zur Bereitstellung essentieller öffentlicher
Dienstleistungen, insbesondere in den Bereichen
Bildung und Gesundheit, substantiell erhöhen.
Denn gerade diese Bereiche sind, wie auch der
neue Weltentwicklungsbericht der Weltbank
ausführlich und überzeugend nachweist, für
die Armutsbekämpfung und die Verwirklichung
der MDGs von zentraler Bedeutung. Insgesamt
müsste die Bundesregierung ihre Ausgaben für
weltweite Gesundheit bis zum Jahr 2009 auf
rund 2,2 Milliarden Euro erhöhen, um den notwendigen
Beitrag zur Errichtung von Gesundheitssystemen
in den Entwicklungsländern zu
leisten. Derzeit liegt der Anteil der Gesundheitsausgaben
an der deutschen ODA bei fünf Prozent
und damit weit unter dem Geber-Durchschnitt
von elf Prozent. Auch müsste sie den Abwärtstrend
der Unterstützung des landwirtschaftlichen
und ländlichen Sektors umkehren und
diesen Bereichen eine höhere Priorität beimessen.
Nach Berechnungen des International Food
Policy Research Institute (IFPRI) sind weltweit allein
acht Milliarden US-Dollar pro Jahr zusätzlich
nötig, um den Anteil der unterernährten Kinder
bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Die zusätzlichen
Mittel müssen vor allem für Investitionen in den
Bereichen Wasserversorgung, Bewässerung,
Straßenbau in ländlichen Gebieten, Agrarforschung
und Bildung verwendet werden.
4. International koordinierte Solidaritätsabgaben zur Entwicklungsfinanzierung einführen
Die Bundesregierung hat wiederholt erklärt, die
Verpflichtungen aus dem EU-Stufenplan zur
ODA-Erhöhung nur erfüllen zu können, wenn
sie dazu auch innovative Finanzierungsinstrumente
einführte. Die Chance dazu hat sie im Vorfeld
des diesjährigen G8-Gipfels verpasst. Deutschland
ist zwar Mitglied der internationalen „Pilotgruppe
für Solidaritätsabgaben“, der inzwischen rund
45 Länder angehören. Im Gegensatz zur Mehrheit
dieser Länder, darunter Frankreich, Großbritannien,
Dänemark und die Niederlande, hat sie ihrer
Mitgliedschaft aber bisher keine Taten folgen
lassen. Dies gilt insbesondere für die Einführung
einer Solidaritätsabgabe auf Flugtickets. Die Nutzung
eines Teils der Erlöse aus der Versteigerung
von CO2-Emissionszertifikaten für Vorhaben des
internationalen Klimaschutzes ist sinnvoll, aber
kein Ersatz für die Einführung international koordinierter
Abgaben zur Finanzierung entwicklungspolitischer
Aufgaben.
Die Bundesregierung sollte ihre passive Mitgliedschaft
in der internationalen „Pilotgruppe
für Solidaritätsabgabe“ in eine proaktive Rolle
verwandeln. Sie sollte dem Beispiel Frankreichs
folgen und spätestens bis zur Doha-Konferenz
über Entwicklungsfinanzierung die Einführung
einer Solidaritätsabgabe auf Flugtickets beschließen.
Da die Einnahmen aus der Flugticketabgabe
allein nicht ausreichen, um die notwendigen
Zusatzmittel zur Finanzierung der MDGs
zu mobilisieren, sollte sich die Bundesregierung
im Vorbereitungsprozess zu Doha für die Einführung
weiterer zweckgebundener internationaler
Finanzierungsinstrumente, insbesondere einer
Solidaritätsabgabe auf Devisentransaktionen,
aktiv einsetzen.
5. Neue Verschuldungsspirale verhindern
Die bisherigen Entschuldungsinitiativen haben für
viele hochverschuldete Länder keine dauerhafte
Lösung ihrer Schuldenprobleme gebracht. Nach einer
Untersuchung der Weltbank hat sich in elf von
13 Ländern der HIPC-Gruppe die Schuldensituation
wieder verschlechtert, nachdem ihre Schulden
im Rahmen der HIPC-Initiative erlassen worden
waren. Acht dieser Länder haben die Schwelle der
Schuldentragfähigkeit, wie sie die Weltbank defi-
niert, schon wieder überschritten.
Die Bundesregierung sollte sich auf internationaler
Ebene für weitergehende Schritte zur
Überwindung der weltweiten Schuldenprobleme
einsetzen, um unter anderem zu verhindern,
dass gerade entschuldete Länder in eine
neue Verschuldungsspirale geraten. Dazu gehören
insbesondere:-
die Streichung illegitimer Schulden, das heißt
der Schulden, die von diktatorischen Regimen
gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung
bei verantwortungslosen Gläubigern in den Industrieländern
gemacht wurden;
- die seit langem geforderte Neudefinition von
Schuldentragfähigkeit unter Einbeziehung sozialer
und ökologischer Kriterien und unter Berücksichtigung
der inländischen Verschuldung;
und
- die Einführung eines fairen und unparteiischen
Insolvenzverfahrens zur Lösung von Überschuldungsproblemen.
6. Kein Liberalisierungsdruck in den Handelsverhandlungen – Exportsubventionen beseitigen
Der Fahrplan der Europäischen Kommission für
die EPA-Verhandlungen, setzt diese Länder, die
zum Teil noch weit von einer regionalen Integration
entfernt sind, unter massiven Zeitdruck. Die
Verhandlungen müssten jedoch keineswegs bis
Ende 2007 abgeschlossen sein. Es gäbe durchaus
noch zeitlichen Spielraum, um auch 2008 über alternative
EPAs bzw. Alternativen zu den EPAs zu
verhandeln, die den Entwicklungsinteressen der
AKP-Länder eher gerecht würden, ohne sie einem
weiteren Liberalisierungsdruck auszusetzen.
Die Handelspolitik, die die Bundesregierung innerhalb
der EU mitträgt, ist unter entwicklungspolitischen
Gesichtspunkten inkohärent. Denn einerseits
fordert die EU Marktöffnung, andererseits
schottet sie ihre eigenen Märkte in den „sensiblen“
Bereichen, allen voran dem Agrarsektor, ab. Ausgerechnet
gegenüber den Ländern Südasiens und
Subsahara-Afrikas bestehen in den Industrieländern
weiterhin die höchsten Handelsrestriktionen.
Verschärft wird die Lage durch die fortgesetzten
Agrarsubventionen der EU, die die Bundesregierung
mitzuverantworten hat, auch wenn die
Bundesentwicklungsministerin sie heftig kritisiert.
Subventionierte Nahrungsmittel aus der EU wie
Rindfleisch oder Tomaten überschwemmen vor
allem Afrikas Märkte und zerstören dort die Existenzgrundlage
unzähliger Kleinbauern, die mit
den staatlich unterstützten Billiganbietern aus dem
Norden nicht konkurrieren können.
Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen,
den Zeitdruck aus den Verhandlungen
mit den AKP-Staaten zu nehmen, um Spielraum
für die Prüfung von alternativen EPAs bzw. Alternativen
zu den EPAs zu schaffen. Grundsätzlich
sollte die Bundesregierung sich dafür einsetzen,
gegenüber den Entwicklungsländern auf
Forderungen nach weiterem Zollabbau sowohl
in den Verhandlungen der WTO als auch in den
Verhandlungen über regionale Wirtschaftsabkommen
zu verzichten. Stattdessen sollten die
betroffenen Länder (im Sinne des Prinzips des
„Special and Differential Treatment“) das Tempo
und den Umfang weiterer Liberalisierungsschritte
eigenständig bestimmen können.
Die Bundesregierung sollte sich darüber hinaus
dafür einsetzen, dass die EU ihre Ankündigung
bei den WTO-Verhandlungen in die Tat umsetzt,
die verbliebenen Agrarexportsubventionen bis
2013 vollständig abzubauen – unabhängig vom
weiteren Verlauf der Verhandlungen in der WTO.
Als dringendsten Schritt sollte die EU ihre Subventionen
für Agrarexporte in Entwicklungsländer,
insbesondere nach Afrika, bereits bis 2009
vollständig streichen. Darüber hinaus sollte sie
sich für Maßnahmen einsetzen, die die Funktionsfähigkeit
lokaler Märkte stärken und sie vor
ausländischem Agrardumping schützen.
7. Repräsentative Governance-Strukturen in den Vereinten Nationen stärken
Die Ergebnisse des G8-Gipfels von Heiligendamm
haben die grundsätzliche Kritik vieler Nichtregierungsorganisationen
an der mangelnden Effektivität
und Legitimität dieses Gremiums bestätigt.
Auf die drängendsten globalen Probleme, seien es
die weltweite Armut, der Klimawandel oder die
Instabilität der Weltfinanzmärkte, gab die G8 keine
effektiven Antworten. Die G8 redete über die
Probleme Afrikas, aber die eigentlich betroffenen
Menschen waren bei den Verhandlungen der G8
nicht repräsentiert. Die Teilnahme von vier afrikanischen
Staatschefs an einem 90-minütigen Dialog
mit der G8 hatte ausschließlich symbolischen Charakter.
Einfluss auf die Afrika-Erklärung der G8
hatten die afrikanischen Vertreter nicht.
Statt Fragen internationaler Wirtschafts- und
Entwicklungspolitik weiter im exklusiven Club der
mächtigen Industrieländer zu diskutieren, sollten
die globalen Gremien gestärkt werden, in denen
Industrie- und Entwicklungsländer gleichberechtigt
mitwirken und die offen für zivilgesellschaftliche
Organisationen sind. Die Vereinten Nationen
sind dabei von zentraler Bedeutung.
Statt weiter auf die G8 und ihre möglichen
Erweiterungen zu setzen, sollte die Bundesregierung
die Vereinten Nationen als Ort des entwicklungspolitischen
Dialogs aller Länder stärken.
Eine wichtige Rolle könnte dabei das neue Forum
für Entwicklungszusammenarbeit spielen,
das im Juli 2008 in New York zu seinem ersten
diesem Forum eine Führungsrolle übernehmen.
Sie sollte sich dafür einsetzen, dass es seine Aufgabe
erfüllen kann, über künftige Strategien,
Politiken und die Finanzierung der internationalen
Entwicklungszusammenarbeit im Kreis
gleichberechtigter Vertreter aller Weltregionen
zu beraten. Um das politische Gewicht der Vereinten
Nationen in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit
weiter zu stärken, sollte
sich die Bundesregierung darüber hinaus dafür
einsetzen, dass die zweite UN-Konferenz über
Entwicklungsfinanzierung in Doha auf höchster
politischer Ebene, das heißt der Ebene von
Staats- und Regierungschefs, stattfinden wird.
Quelle: "Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe". Eine kritische Bestandsaufnahme der deutschen Entwicklungspolitik. Fünfzehnter Bericht 2006/2007. Vorgelegt von terre des hommes und Deutsche Welthungerhilfe, November 2007
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