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Geschäfte mit Not und Tod

Soziologe Asit Datta über Hunger und Armut in der Welt und profitgierige Entwicklungshilfe *


ASIT DATTA teilt die in dieser Woche in Berlin von Hilfsorganisationen geübte Kritik am Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter Dirk Niebel (FDP) und geht darüber hinaus. Geboren 1937 in Indien, studierte er in München und lehrte später an der Leibniz Universität Hannover. Er ist Gründungsmitglied von German Watch und Kuratoriumsmitglied der Stiftung Zukunftsfähigkeit. Anklage und Analyse vereint sein neues Buch »Armutszeugnis. Warum heute mehr Menschen hungern als vor 20 Jahren« (dtv, 218 S., 14,90 €). Mit dem emeritierten Professor sprach KARLEN VESPER.

Es gelingt offenbar trotz vielfacher Bemühungen engagierter Menschen und Organisationen nicht, das Übel Hunger aus der Welt zu schaffen. Woran liegt das?

Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass das UN-Millenniumsziel, die Zahl der Armen und Hungernden bis zum Jahr 2015 zu halbieren, nicht erreicht wird. Prozentual mag die Zahl gesunken sein, doch absolut ist sie gestiegen. Über eine Milliarde Menschen hungern; täglich sterben 25 000, darunter 11 000 Kinder, an Armut und Unterernährung und den daraus folgenden Krankheiten.

Wie wird Armut bemessen?

Als Maßstab sind 1,25 Dollar pro Tag angesetzt, ungeachtet Inflation und Kursschwankungen. Aber lässt sich Armut so leicht definieren? Ich denke nicht.

Wie definieren Sie Armut?

Armut bedeutet, kein menschenwürdiges Leben führen zu können, dass man sich und seine Kinder nicht ausreichend ernähren kann, kein Dach über dem Kopf und keine Arbeit hat, nicht Bildung genießt und nicht an politischen Entscheidungsprozessen teilnehmen kann. Kurz, arm ist, wer von der Gesellschaft ausgeschlossen ist.

Was sind die gravierendsten Ursachen für Armut und Hunger?

Jedenfalls nicht das Wachstum der Weltbevölkerung, wie immer wieder seit Malthus behauptet wird. Die Menschheit hat im Laufe ihrer Geschichte durch neue Technologien die landwirtschaftliche Produktion stetig gesteigert. Es gibt es keinen Mangel an Lebensmitteln oder Agrarrohstoffen. Menschen hungern, weil sie keinen Zugang zu Nahrungsmitteln haben. Verantwortlich dafür sind vor allem der unfaire Handel zwischen Nord und Süd sowie die Börsenspekulationen mit Getreide und anderen Nahrungsmitteln.

Hunger und Armut in der Welt sind also vor allem ein von den Wohlstandsgesellschaften verantwortetes Übel?

Natürlich zeitigen auch Naturkatastrophen und Klimawandel fatale Folgen, die aber mit vereinten Anstrengungen zu beheben sind. Hauptschuld an Armut und Hunger trägt die sogenannte Liberalisierung, die Politik des freien Marktes und freien Handels, wie sie in den 1980er Jahren von Margaret Thatcher und Ronald Reagan eingeleitet und im Washington Consensus festgeschrieben wurde.

Die Liberalen und Neoliberalen behaupten jedoch, nur der freie Markt bringt Wohlstand für alle?

Dass dies nicht stimmt, zeigt die immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich mittlerweile selbst in westlichen Staaten. Indien ist ein Beispiel, wie katastrophal es sich für Länder des Südens auswirkt, wenn sie die neoliberale Doktrin übernehmen. In absoluten Zahlen hungern in Indien heute die meisten Menschen, prozentual ist Afrika schlimmer dran. 13 Millionen Menschen sind in Afrika – vor allem in Äthiopien, Somalia, Südsudan und im Norden Kenias – vom Hungertod bedroht. Vor allem wegen der Bürgerkriege und Machtkämpfe zwischen den Clans. Die bewaffneten Konflikte hindern die Menschen nicht nur an der landwirtschaftlichen Arbeit, sondern verwüsten auch fruchtbares Agrarland langfristig und stiften großen ökologischen Schaden.

Zurück zu Indien, eine Demokratie, ein rohstoffreiches Land. Warum grassiert dort der Hunger?

Indien ist Weltmeister im Reisexport, über zehn Millionen Tonnen verlassen jährlich das Land. Das Hauptnahrungsmittel wird den eigenen Armen entzogen. Seit der Liberalisierung des indischen Marktes Anfang der 1990er Jahre unter dem damaligen Finanzminister und jetzigen Premier Sing boomt zwar die Wirtschaft. Es gibt in Indien 55 Dollar-Billionäre. Doch von der enormen Wachstumsrate, der zweithöchsten nach China, profitiert die Bevölkerungsmehrheit nicht. Die Regierung kümmert sich weder um deren Ernährung, noch um Grundbildung, Gesundheitsvorsorge und soziale Sicherheit. Sie investiert nicht in Landwirtschaft und die Entwicklung auf dem Lande.

Sie kritisieren aber vor allem transnationale Institutionen...

Dem Diktat der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds IWF und der Welthandelsorganisation WTO haben die Entwicklungsländer wenig entgegenzusetzen. Die drei Riesen scheren sich kaum um die Not in den Entwicklungsländern. Deren sogenannte Strukturanpassungsprogramme haben viel Unheil angerichtet, Hunger und Not reproduziert und potenziert. Man kann ohne Übertreibung sagen, sie gehen über Leichen.

Im übrigen: Ich lobe einige nationale Regierungen. Südkorea, Malaysia und Indonesien überstanden die asiatische Finanzkrise von 1997/98 recht gut, weil sie nicht den IWF-Anweisungen folgten. Ebenso konnten sich Argentinien und Mexiko vor dem Bankrott retten, weil sie »ungehorsam« waren, die Konditionen des IWF außer Kraft setzten. Also, Widerstand ist möglich und nützlich.

Selbsthilfe ist die beste Option?

Das ist immer besser, als sich auf Entwicklungshilfe, Subventionen und Almosen zu verlassen. Brasilien hat unter der Regierung Lula beschlossen, sein Armuts- und Hungerproblem selbst in den Griff zu bekommen und startete 2003 das Projekt »Fome Zero«, also »Null Hunger«. In einer konzertierten Aktion wurden sechs Prozent des Bruttosozialprodukts in Bildungswesen, Gesundheitsvorsorge und ein Beschäftigungsprogramm gesteckt. Es gab Hilfe für Kleinproduzenten etc. Noch ist der Kampf gegen Armut in Brasilien nicht gewonnen, wie die Proteste derzeit beweisen, aber es sind Fortschritte erzielt.

Die UNO hat nicht zufällig ihre Millenniumsziele der Halbierung von Hunger und Armut mit der Forderung nach Grundschulbildung und Gesundheitsfürsorge für alle, mit Zugang zu sauberem Trinkwasser und Sanitäranlagen verknüpft. Das hängt alles zusammen. Hunger und Armut sind ein komplexes Problem.

Und kann nicht durch staatliche Entwicklungshilfe gelöst werden?

Ein Tropfen auf den heißen Stein. Doch es fließt nicht nur zu wenig Entwicklungshilfe, sie ist vielfach pure Heuchelei. 1992 hat die Weltbank beispielsweise »Good Governance« als eines der wichtigsten Kriterien für die Vergabe von Hilfe definiert. Doch den Staaten, die von ihr die meisten Gelder erhalten – Afghanistan, Äthiopien, Kongo, Haiti und Pakistan – kann kaum eine »gute Regierung« bescheinigt werden; sie garantieren keine Rechtsstaatlichkeit, Stabilität, Sicherheit und schon gar nicht, dass das Geld den Bedürftigen zukommt. Diese fünf Empfängerländer gehören nach Transparency International zu den korruptesten Staaten der Welt.

Wie schätzen Sie die deutsche Entwicklungshilfe unter Bundesentwicklungsminister Niebel ein?

Ich muss ihn in Schutz nehmen: Er ist wenigstens ehrlich. Niebel rühmt sich, durch Entwicklungshilfe die Exporte der deutschen Wirtschaft gesteigert zu haben. Für jeden Euro Hilfe fließen statt vormals 1,34 Euro nun 1,80 Euro an die deutsche Wirtschaft zurück. Man müsste das Ministerium umbenennen in Ministerium zur Förderung der deutschen Wirtschaft.

Das ist ja Wucher.

So ist es. Die deutsche Entwicklungshilfe ist eine deutsche Exporthilfe. Das betrifft aber auch andere westliche Länder: Großbritannien gewährte Tansania 65 Millionen Pfund Hilfe für die Armutsbekämpfung, im Gegenzug musste das Land ein für afrikanische Verhältnisse untaugliches und überdies verteuertes militärisches Verteidigungssystem für 28 Millionen Pfund der britischen Rüstungsindustrie abkaufen.

In der Amtszeit des Sozialdemokraten Erhard Eppler wurde eine andere Entwicklungshilfe praktiziert als unter Niebel.

Unter Eppler wurde zum ersten Mal die Gebundenheit der Hilfe abgeschafft, also die Empfängerländer waren nicht genötigt, für die erhaltene Summe bestimmte Waren aus dem Geberland zu kaufen. Unter der liberal-konservativen Regierung von Helmut Kohl ab 1982 wurde verstärkt zu einer Mischfinanzierung übergegangen, d. h. Geschäfte der Privatfirmen wurden aus dem Budget der staatlichen Entwicklungshilfe finanziert. Und da wurde kurzerhand ein bereits unter der sozial-liberalen Regierung geplantes Trinkwasserversorgungsprojekt in Indonesien in ein Telefonversorgungsprojekt zugunsten von Siemens umgewandelt. Nach der Übernahme des Entwicklungsministerium durch Niebel wird Hilfe noch mehr als bisher für private Geschäfte genutzt – und zwar so unverschämt, dass sich die OECD zu Kritik veranlasst sah. Auch, weil deutsche Entwicklungshilfe inzwischen hauptsächlich an Länder mit mittleren Einkommen geht statt an die ärmsten Länder in Afrika südlich der Sahara.

Was können Bürger im Westen tun, um bei der Bekämpfung von Hunger und Armut zu helfen?

Den fairen Handel unterstützen, um den Kleinproduzenten in der Dritten Welt die Existenz zu sichern. Wir können unseren Fleischkonsum reduzieren, was auch unserer Gesundheit gut täte. Ein Verbot der Spekulation mit Nahrungsgütern ist zu fordern. Futtermittelimporte aus den Entwicklungsländern sollten verringert werden, damit dort mehr Nahrungsmittel für die einheimische Bevölkerung produziert werden können. Nicht zu begreifen ist, warum Landwirte in den USA und der EU täglich eine Milliarde Dollar Ausgleichszahlungen und Exportsubventionen erhalten, die bis zu 60 Prozent ihrer Einnahmen ausmachen, während die Bauern im Süden leer ausgehen. Im Norden beträgt der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen nur ein bis drei Prozent der Bevölkerung, im Süden sind es 50 bis 70 Prozent. Die USA und EU verkaufen ihr hoch subventioniertes Getreide zu Dumpingpreisen in arme Länder und ruinieren dort die Bauern. Eine Oxford Studie konstatierte: »Die EU exportiert – die Welt hungert.«




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