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Die falschen Weichen in der Entwicklungspolitik

Unfairer Handel untergäbt neben internen Faktoren wie Bürgerkriegen und Korruption die Wirksamkeit der Entwicklungshilfe, die darüber hinaus mit zu wenig Mitteln ausgestattet ist

Von Gerhard Grote *

Die Diskussion über abhängig machende statt entwickelnde Entwicklungshilfe ist annähernd so alt wie die Entwicklungshilfe selbst. Die Vierfachkrise von Finanz-, Klima-, Ernährungs- und Energiekrise bringt die Frage nach einer Neuausrichtung der Entwicklungspolitik und der Entwicklungshilfe neu aufs Tapet.

Die derzeitige Weltwirtschaftskrise sowie schlimme Naturkatastrophen wie in Haiti haben die Menschen in vielen Ländern der Dritten Welt besonders hart getroffen. Die Zahl der Hungernden ist 2009 auf mehr als eine Milliarde angestiegen. Auf dem Welternährungsgipfel in Rom, dem Klimagipfel in Kopenhagen sowie der Afghanistankonferenz in London wurden deshalb die Industriestaaten zu einer wesentlichen Verstärkung der Entwicklungshilfe aufgefordert. Gleichzeitig erklären jedoch einige prominente afrikanische Ökonomen wie die aus Sambia stammende Dambisa Moyo oder der Kenianer James Shikwati, dass ständige Unterstützung von außen die notwendigen eigenen Anstrengungen der Empfängerländer untergrabe. Paul Kagame, Präsident von Ruanda, sowie Ellen Johnson Sirleaf, Präsidentin von Liberia, stimmen ihnen prinzipiell zu. Die Argumentation: Die Entwicklungshilfe habe bisher mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht und sollte in einigen Jahren total gestrichen werden. Wie konnte es zu solcher radikalen Kritik überhaupt kommen und wie hat sich die Lage dieser Länder mit Hilfe oder trotz der Entwicklungshilfe verändert?

Unabhängig in die Unterentwicklung

Als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Zerfall des weltweiten Kolonialsystems begann, entstanden in Asien, Afrika und Lateinamerika innerhalb kurzer Zeit mehr als hundert neue souveräne Staaten. Trotz wesentlicher Unterschiede im Hinblick auf Bevölkerungszahl, ökonomisches Niveau, Traditionen usw. wiesen sie bestimmte gemeinsame Merkmale auf wie keine oder nur schwach entwickelte Industrie, rückständige Methoden in der Landwirtschaft, niedriger Lebensstandard der Masse der Bevölkerung, hohe Analphabetenrate, unzulängliches Niveau des Sozial- und Gesundheitswesen usw. In der UNO wurde deshalb der Begriff »Entwicklungsländer« geprägt, wobei zu dieser Gruppe auch solche Länder gezählt werden, die niemals den Status einer Kolonie hatten und auf eine jahrtausendealte Kultur und Geschichte zurückblicken können wie China, Ägypten und Iran. Das betrifft auch einige lateinamerikanische Länder, die sich schon vor 200 Jahren von der spanischen beziehungsweise portugiesischen Kolonialherrschaft befreiten, wobei jedoch die Masse der Bevölkerung weiterhin in ökonomischer Abhängigkeit von einer kleinen Elite weißer Großgrund- und Bergwerkseigentümer blieb. Heute werden von den 192 Mitgliedsländern der UNO 130 zur Gruppe der Entwicklungsländer gerechnet, die in Abgrenzung zu den kapitalistischen Industrieländern und der ehemaligen »sozialistischen Staatengemeinschaft« auch als »Dritte Welt« bezeichnet werden.

Diese Ländergruppe bietet gegenwärtig ein sehr differenziertes Bild. Einige Länder Ostasiens – Südkorea, Taiwan und Singapur – haben seit langem einen relativ hohen Stand der Industrialisierung und der Infrastruktur erreicht. In Saudi-Arabien, Kuwait, Brunei und anderen Erdölstaaten ist das Bruttosozialprodukt (BSP) pro Kopf höher als in den meisten westlichen Industriestaaten. China, Indien, Brasilien und Südafrika werden aufgrund des erreichten Industrialisierungsgrades als »Schwellenländer« bezeichnet, obwohl auch in einigen dieser Länder große Teile der Bevölkerung in den Dörfern und in den Slums der Großstädte wie in Kolkata (Kalkutta) oder Rio de Janeiro unter für uns unvorstellbaren sozialen und hygienischen Verhältnissen dahinvegetieren. 49 der am wenigsten entwickelten Länder werden als »least developed countries (LDC)« bezeichnet und sind in erster Linie auf Hilfe angewiesen. Dazu gehören die meisten Länder des afrikanischen Kontinents, wo die Leidenszeit vor mehr als 300 Jahren durch Sklavenhandel und koloniale Ausbeutung begann, und wo die Masse der dort lebenden Menschen in besonderem Maße von Armut und Hunger betroffen ist. Hilfe seit mehr als 50 Jahren

Seit mehr als 50 Jahren werden von den Vereinten Nationen die Überwindung der Kluft zwischen dem »reichen Norden« und dem »armen Süden« und die Beseitigung von Armut und Hunger in den ökonomisch unterentwickelten Ländern zu einer Hauptaufgabe erklärt, und in der Folgezeit entstanden zahlreiche Organisationen zur Verwirklichung dieser Aufgabe.

In den vergangenen 50 Jahren wurden auf diese Weise große Leistungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung in ökonomisch unterentwickelten Ländern erbracht, die in diesem Zeitraum aufgewandten staatlichen Mittel werden mit 2 Billionen Dollar angegeben. Schulen und Krankenhäuser wurden gebaut, Lehrer und Ärzte arbeiteten dort und bildeten einheimisches Personal für diese Einrichtungen aus, Brunnen wurden gebohrt und Wasserleitungen errichtet, nach Naturkatastrophen und Kriegszerstörungen wurden Wohnstätten und andere Gebäude wiedererrichtet, für Millionen Flüchtlinge wurden Lebensmittel, Trinkwasser, Medikamente, Decken und Zelte zum Überleben bereitgestellt usw.. Die Aufzählung von solchen positiven Beispielen ließe sich fortsetzen.

Doch trotz dieser zweifellos erreichten Erfolge wurden die von der UNO vorgegebenen Ziele hinsichtlich der Reduzierung der Zahl der Armen und Hungernden, der Verbesserung der Trinkwasserversorgung sowie der hygienischen Bedingungen und der Senkung der Analphabetenrate nicht erreicht. Einer der Gründe hierfür ist mit Sicherheit die fehlende Koordinierung zwischen den vielen auf diesem Gebiet tätigen Organisationen, sowohl in den Geber- als auch in den Empfängerländern. So wurde Vietnam im Jahr 2007 von 752 Geber-Delegationen aus diversen Ländern heimgesucht, aus Kabul und anderen Orten gibt es ähnliche Berichte. Auch in der BRD wirkt sich die fehlende Abstimmung zwischen den auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe engagierten Institutionen und Hilfswerken sowie die nicht ausreichende Überprüfung über die Wirksamkeit der aufgewandten Mittel negativ aus. Das müsste eine Aufgabe des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sein, welches jedoch jetzt von einem FDP-Politiker, Dirk Niebel, geleitet wird, der noch vor einigen Monaten dieses Ministerium als überflüssig bezeichnet hatte.

Aber was sind die Hauptursachen für den unzureichenden Stand bei der Überwindung der Kluft zwischen dem »reichen Norden« und dem »armen Süden«, und wie konnte es bei einigen Ökonomen und Politikern zu einer generellen Ablehnung der Entwicklungshilfe kommen?

Unzureichende finanzielle Mittel

In den vergangenen Jahren wurde die Forderung der UNO, dass die Industriestaaten des Nordens 0,7 Prozent des BSP für Entwicklungshilfe bereitstellen sollten, von keinem der großen Staaten erfüllt. Im Jahr 2008 waren es bei den USA 0,18 Prozent, bei der BRD 0,38 Prozent, bei Großbritannien 0,43 Prozent und bei Frankreich 0,39 Prozent. Schweden stellt dagegen seit Jahren mehr als 1 Prozent des BSP hierfür zur Verfügung. Auf dem Welternährungsgipfel in Rom konnte sich der Generalsekretär der FAO, Jacques Diouf, mit seinen Forderungen, zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion in Entwicklungsländern 44 Milliarden Dollar pro Jahr zu investieren und 17 Prozent der Entwicklungshilfe diesem Zweck zu widmen, nicht durchsetzen. Und das Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen ist nicht zuletzt auch auf die fehlende Bereitschaft der Industriestaaten für eine wesentliche Erhöhung der von den Entwicklungsländern geforderten finanziellen Zuwendungen zurückzuführen. Dieses Problem wird besonders deutlich bei einem Vergleich mit den Militärausgaben. So gaben die USA im Jahr 2008 für Rüstung und Streitkräfte 607 Milliarden Dollar aus, dagegen für Entwicklungshilfe nur 26 Milliarden. Diese falschen Prioritäten werden auch in Afghanistan sichtbar, wo bisher von den Geberländern pro Tag etwa 7 Millionen Dollar für den Wiederaufbau ausgegeben wurden, während alleine der Einsatz des US-Militärs täglich 100 Millionen Dollar verschlingt.

Auch wenn weder auf dem Welternährungsgipfel noch auf dem Klimagipfel bindende Beschlüsse gefasst wurden, so wurde doch klar, welche riesigen Beträge die Entwicklungsländer bereits in den nächsten Jahren als Soforthilfe und danach langfristig von den Industriestaaten des Nordens für die Überwindung des Hungers und für die Bewältigung der Auswirkungen des Klimawandels erhalten müssen.

Neben den Verlusten an Menschenleben wird durch kriegerische Handlungen der Aufbau leistungsfähiger Volkswirtschaften verhindert und bewirkt, dass ein großer Teil der dort geleisteten Entwicklungshilfe nur dafür eingesetzt wird, die zuvor angerichteten Zerstörungen zu beseitigen. In Irak und in Afghanistan werden erhebliche Mittel neben der Beseitigung von Kriegszerstörungen aufgewandt, um Millionen Flüchtlinge, die überwiegend in Lagern in armen Nachbarländern wie Syrien und Pakistan untergebracht sind, mit Lebensmitteln, Medikamenten, Decken usw. zu versorgen. Im Januar 2009 wurden im Gazastreifen in großem Maße Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser, Wasserwerke und andere Einrichtungen durch israelisches Militär zerstört, und unmittelbar danach erklärten mehrere Geberländer Zusagen in Milliardenhöhe für den Wiederaufbau.

Kriege, Bürgerkriege und Korruption

In Afrika müssen infolge der seit Jahrzehnten andauernden Bürgerkriege (Kongo, Sudan, Somalia, Sierra Leone u.a.) ebenfalls große Beträge ausschließlich für die Versorgung der Masse an Flüchtlingen, wie in Darfur, aufgewandt werden. Sieben Jahre nach Beendigung des Bürgerkrieges in Angola sind große Teile des Bodens noch immer mit Landminen verseucht, verhindern die wirtschaftliche Nutzung und fordern Opfer unter der Bevölkerung. Wenn dann in einer deutschen Klinik ein Kind, dem ein Bein abgerissen wurde, mit einer modernen Prothese versorgt wird, wird das in der Presse als ein positives Beispiel von Entwicklungshilfe gewürdigt. Nicht erwähnt wird jedoch, dass solche Minen auch in deutschen Fabriken hergestellt und in Krisengebiete geliefert wurden.

Korruption gibt es auch bei uns. Aber in vielen Entwicklungsländern mit kaum vorhandenen demokratischen Traditionen und einem übermäßigen Einfluss einer kleinen Führungselite auf die Wirtschaft des Landes sind ihre Auswirkungen besonders verheerend. Das führt dazu, dass große Teile der Entwicklungshilfe in den Taschen von Politikern, Militärs und Verwaltungsbeamten verschwinden. So galt der langjährige indonesische Präsident Suharto, der seinem Familienclan auf diese Weise zu einem Milliardenvermögen verhalf, als Musterbeispiel eines korrupten Politikers. In Afrika kommen die Riesengewinne aus dem Erdölgeschäft in Nigeria, das einen der vorderen Plätze im Korruptionsindex des Kontinents einnimmt, der Masse der Bevölkerung nicht zugute.

Überprüfungen ergaben, dass im Jahr 2006 von 80 Millionen Euro deutscher Entwicklungshilfe weniger als 25 Millionen tatsächlich bei konkreten Projekten ankamen, der Rest versickerte »irgendwo«, zwei Drittel der dortigen Ministerien gelten als hoffnungslos korrupt. An diesen Missständen sind auch Vertreter aus Geberländern, vor allem aus der Bauwirtschaft sowie einer großen Gruppe von »Beratern«, aktiv beteiligt. So hat in Kabul eine westliche Firma für die Errichtung eines Bauprojekts 10 Millionen Dollar in Rechnung gestellt, obwohl der tatsächliche Aufwand nur 70 000 Dollar betrug. Aus Irak und anderen Ländern sind ähnliche Fälle bekannt.

Unfairer Handel nimmt Entwicklungschancen

Auf Druck der USA, der Weltbank und der EU wurden viele auf Entwicklungshilfe dringend angewiesene Länder gezwungen, gemäß dem Prinzip der freien Marktwirtschaft vorhandene Zollschranken abzubauen und ihre Märkte für einen »freien Handel« zu öffnen, während gleichzeitig in den USA und der EU der Anbau und Export von Erzeugnissen der Landwirtschaft mit hohen Subventionen gefördert wird. 20 Millionen Menschen sind in Subsahara-Afrika, insbesondere Benin, Burkina Faso, Mali und Tschad vom Baumwollanbau abhängig, die meisten von ihnen leben in Kleinbauernfamilien. Sinkende Weltmarktpreise und massive Subventionen in Europa und den USA an die eigenen Baumwollerzeuger haben dazu geführt, dass die afrikanischen Produzenten vom Baumwollanbau allein nicht mehr leben können. Ebenso werden von EU-Ländern in großem Maße Lebensmittel zu Preisen nach Afrika exportiert, mit denen die einheimische Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie nicht konkurrieren können. Mit der einen Hand stellen diese Industriestaaten also Finanzmittel als Entwicklungshilfe zur Verfügung, und mit der anderen ruinieren sie die Landwirtschaft der Empfängerländer. Aus verarmten Bauern wurden »Bootsflüchtlinge«, im vergangenen Jahr waren es 67 000, die dann an den Küsten von Italien, Spanien oder Griechenland ankommen, soweit sie nicht im Atlantik oder dem Mittelmeer ertrunken sind.

Eine ebenso verheerende Wirkung haben die Abkommen, welche die EU auf Drängen einiger ihrer Mitglieder mit korrupten Regierungen mehrerer afrikanischer Länder zum Abfischen von deren Hoheitsgewässern geschlossen hat. Nach Dezimierung der dortigen reichen Fischbestände durch den rücksichtslosen Einsatz modernster Fangmethoden ist die traditionelle lokale Küstenfischerei zum großen Teil zusammengebrochen, und aus ehemaligen Fischern wurden entweder Bootsflüchtlinge oder – wie in Somalia – Piraten. Diese Aktivitäten stellen »Entwicklungshilfe in umgekehrter Richtung« dar und können auch als »Fortsetzung der kolonialen Ausbeutung Afrikas mit anderen Mitteln« bezeichnet werden. Den verantwortlichen Politikern in den USA und der EU ist das alles natürlich bekannt. Aber sie haben nichts unternommen, um diesen Wahnsinn zu stoppen, sondern ihn sogar gefördert.

Unter diesen Umständen kann man verstehen, dass einige Ökonomen und Politiker aus afrikanischen Ländern so radikale Kritik an der bisher praktizierten Entwicklungspolitik üben.

Der Ausweg darf aber entgegen ihren Forderungen nicht darin bestehen, diese Hilfe zu reduzieren oder gar völlig einzustellen. Im Gegenteil! Es geht darum, die vorstehend genannten Missstände abzustellen, das Prinzip »Hilfe zur Selbsthilfe« in die Tat umzusetzen und Umfang und Wirksamkeit der Hilfsleistungen noch zu erhöhen. Auf keinen Fall sind die Vorschläge von Dambisa Moyo zu akzeptieren, als Alternative zur Entwicklungshilfe alleine auf die Kräfte eines angeblich »freien Marktes« zu vertrauen.

* Der Autor lehrte bis 1988 Außenwirtschaft an der Berliner Hochschule für Ökonomie

Aus: Neues Deutschland, 20. Februar 2010



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