Die Geburt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor 50 Jahren
Nicht nur zivile, friedliche Ziele
Von Wilhelm Ersil *
Vor 50 Jahren fanden die abschließenden Verhandlungen zwischen der BRD, Frankreich, Italien und
den Benelux-Staaten über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der
Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) statt. Im Januar und Anfang Februar 1957 erörterten die
Außenminister die Vertragstexte. Am 19./20. Februar wurden die Verhandlungskompromisse von
den Regierungschefs bestätigt. Am 25. März erfolgte in Rom die Unterzeichnung der Verträge.
Damit waren grundlegende Weichen für den weiteren Weg der westeuropäischen Integration
gestellt.
Die EWG, aus der später die Europäische Union erwachsen sollte, eröffnete dem großen Kapital
günstige Expansionsbedingungen. Sie trug zweifellos aber auch zur Befriedung in Westeuropa bei,
förderte die Annäherung der Völker und bewirkte wichtige zivilisatorische Fortschritte. Das wird in
diesen Wochen zum Jubiläum immer wieder beschworen, während ander Gründungsmotive eher
verschämt verschwiegen werden: Die EWG war auch ein Kind des Kalten Krieges, der
Systemkonfrontation und des Kolonialismus.
In der Brüsseler Regierungskonferenz waren Ende 1956/Anfang 1957 nicht wenige
Interessenunterschiede aufeinandergeprallt. Das betraf u. a. die Modalitäten der Verwirklichung der
Zollunion und eines gemeinsamen Marktes für Industriegüter, den Agrarmarkt, die Zuständigkeiten
der EWG, das supranationale institutionelle Gefüge und damit verbundene politische Erwartungen.
Strittig waren Fragen der Organisation und einer Atomgemeinschaft. Damals dominierte die
Vorstellung, gemeinsame Nuklearpolitik sei ein wesentlicher Beitrag zur Integration, Euratom als
Vorhaben so wichtig wie der Gemeinsame Markt. Eine große Rolle in den Verhandlungen spielten
auch deutschlandpolitische Erwägungen, der Bundesrepublik war die Alleinvertretungsanmaßung
gegenüber der DDR wichtig. Umstritten war die Assoziierung überseeischer Kolonien und
Hoheitsgebiete mit der EWG, wollten sich doch die Verhandlungspartner nicht unmittelbar mit der
Verantwortung für die französische Kolonialpolitik belasten, vor allem nicht mit dem Krieg in
Algerien. Allerdings wurde die geostrategische Bedeutung der verbliebenen europäischen
Kolonialherrschaft durchaus in Rechnung gestellt. Eine sozial orientierte EWG war nur am Rande,
ein »Europa der Bürger« überhaupt nicht im Blick.
Der Verhandlungsdurchbruch wurde unter dem Eindruck des Fiaskos der militärischen, die Gefahr
eines dritten Weltkrieges heraufbeschwörenden Aggression Frankreichs und Großbritanniens gegen
Ägypten Ende Oktober/ Anfang November 1956 erreicht. Auch die Ereignisse in den sozialistischen
Staaten in jenem Jahr blieben nicht ohne Einfluss auf die Verhandlungen. Bundeskanzler Adenauer
bedauerte, dass »Europa« im Hinblick auf Ägypten nicht als geschlossener Staatenblock gehandelt
habe, um gegenüber den jungen Nationalstaaten ein Exempel zu statuieren: »Hätten wir schon eine
europäische politische Union gehabt, so wären wir Kraft unserer wirtschaftlichen Potenz und
unseres politischen Einflusses in der Lage gewesen, mit Nasser ein alle befriedigendes Abkommen
über den Suezkanal zu finden.« Die Integration müsse nunmehr »in erster Linie nicht mehr allein
unter innereuropäischen Gesichtspunkten, sondern unter weltweiten politischen und wirtschaftlichen
Gesichtspunkten« gesehen werden.
Die durch den Kolonialkrieg in Algerien gelähmte französische Republik suchte nach Rückhalt in
einer westeuropäischen Option, gestützt auf die Partnerschaft mit der Bundesrepublik und eine
Wirtschaftsgemeinschaft unter Einschluss Italiens und der Benelux-Staaten, die insgeheim auch als
Kern einer westeuropäischen, von Frankreich dominierten Atommacht fungieren sollte. Für die
französische Politik war eine Atomgemeinschaft ein vordringliches Anliegen. Euratom sollte das
französische Atomprogramm ergänzen, nicht behindern sowie die westdeutsche Nuklearindustrie
einer zusätzlichen Kontrolle unterwerfen. Für die christlich-sozialen Parteien in der Montanunion
sollte Euratom grundsätzlich das Recht zur Produktion von Atomwaffen eingeräumt werden. Die
Atomgemeinschaft war auch für Belgien vorteilhaft, das die Uran-Minen des Kongo einbringen und
ein Liefermonopol erreichen wollte.
Während in offiziellen Verlautbarungen der zivile Charakter von Euratom betont wurde, erörterte
man insgeheim eine etwaige militärische Verwendung der Atomenergie. Paris konnte mit Bonner
Entgegenkommen rechnen, suchten doch führende Kreise der Bundesrepublik ihrerseits, in der
angespannten internationalen Situation erneut das Projekt einer Europäischen
Verteidigungsgemeinschaft (EVG) auf die Tagesordnung zu setzen oder zumindest eine kontinentalwesteuropäische
militärische Kooperation voranzubringen. Sondierungen für eine »europäische
Rüstungsgemeinschaft« zeitigten Resultate. Ein Treffen zwischen Adenauer und dem französischen
Ministerpräsidenten Mollet stellte Weichen für eine die nukleare Komponente einschließende
Rüstungskooperation zwischen beiden Ländern. Ein Abkommen von 1957 zwischen den
Verteidigungsministern Chaban-Delmas und Strauß sah die Entwicklung nuklearer Waffen in
Algerien vor. Zwischen Deutschland, Frankreich und Italien im November 1957 offiziell aufgenomme
Verhandlungen zielten auf die gemeinsame Produktion von Atomsprengköpfen und Trägersystemen. Nach dem Amtsantritt de Gaulles 1958 wurde diese trilaterale Nuklearkooperation jedoch nicht
fortgesetzt. Das neue Vorhaben für eine »europäische Verteidigung« scheiterte wie schon 1954 das
EVG-Projekt. Ein Gemeinsamer Markt mit einer veränderten EVG kam nicht zustande, was für die
Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als einem zivilen Zusammenschluss von
Vorteil war. »Die Welt« schrieb indes jüngst bedauernd: »Nuklearwaffen hätten die Europäer in die
existenzielle Dimension gemeinsamer Strategie gebracht und ein anderes Europa in die Existenz
gezwungen.«
Die mit den Römischen Verträgen verbundenen Absichten waren zweifellos nicht nur ziviler und
pazifistischer Natur, sie hatten auch eine offensive, auf Veränderung des Status quo in Mitteleuropa
gerichtete Dimension. Und das in einer Zeit, in der Bonn noch die Revision europäischer
Nachkriegsgrenzen forderte.
* Aus: Neues Deutschland, 10. Februar 2007
Zum Autor:
Wilhelm Ersil, geb. 1928, Prof. Dr. habil., Potsdam; Fachgebiete: Europäische Integration, Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland
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