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Traum und Albtraum Amerika

Europa und die USA müssen ihr transatlantisches Verhältnis ohne ideologische Scheuklappen neu ordnen / Die "Duisburger Erklärung"

Am 16. Februar 2004 veröffentlichte die Frankfurter Rundschau auf ihrer Dokumentationsseite eine Erklärung von 38 Wissenschaftlern, Hochschullehrern, Menschenrechtlern, Gewerkschaftern und Politikern, die ein Plädoyer für eine "Neubestimmung" der transatlantischen Beziehungen enthält. Nach dem Entstehungsort Duisburg - hier soll die Erklärung am 12. Mai im Rahmen des Kulturfestivals "Duisburger Akzente"* auf einer Podiumsdiskussion vorgestellt und debattiert werden - wird das Papier "Duisburger Erklärung" genannt.
Die seit dem Ende des Kalten Kriegs übrig gebliebene Supermacht USA sei zum "wichtigsten weltpolitischen Problem" geworden", heißt es in der Erklärung. Das "alte Vorbild, der Traum und der Freund USA" würden heute von "einer Mehrheit der Europäer" vor allem als "Gefahr für den Weltfrieden" wahrgenommen. Der Irak-Krieg, aber auch andere Alleingänge Washingtons haben offenbart, dass die US-Regierung sich weder an internationale Regeln noch an die Prinzipien des Völkerrechts hält, wenn es ihren Interessen zuwiderläuft.
Wir dokumentieren die "Duisburger Erklärung", weil sie auf eine sehr differenzierte Art argumentiert und geeignet sein mag, auch jene zur Diskussion zu veranlassen, die sonst vorschnell jede Kritik an der US-Politik mit dem Verdacht des Antiamerikanismus belegen. Den Unterzeichnern geht es nicht um die Beendigung der transatlantischen Beziehungen, sondern um deren Erneuerung auf der Basis der Gleichberechtigung.

* Duisburger Akzente: Das seit 1977 stattfindende Kulturfestival "Duisburger Akzente" trägt dieses Mal (24. April bis 16. Mai 2004) den Titel "Endstation Amerika?". Es setzt sich mit den Risiken einer Kulturhegemonie US-amerikanischer Ideen, Produkte und Haltungen auseinander. Hauptveranstaltungsort ist das ehemalige Thyssen-Hüttenwerk im Landschaftspark Duisburg-Nord. (www.stadt-duisburg.de)


Duisburger Erklärung

Amerika ist für Europa seit langem der mit Abstand wichtigste Partner. Doch inzwischen ist Amerika auch zu einem unserer vielleicht wichtigsten weltpolitischen Probleme geworden. Das alte Vorbild, der Traum und der Freund Amerika werden von einer Mehrheit der Europäer heute als eine Gefahr für den Weltfrieden wahrgenommen. Die Regierung George W. Bush hat die Welt vor dem Irak-Krieg an der Nase herumgeführt, sie hat die UNO und das Völkerrecht missachtet. Ist damit eine "Wertegemeinschaft" Europas mit den USA noch möglich? Wir brauchen eine breite Diskussion des Standes und der Perspektiven der transatlantischen Beziehungen, wir brauchen eine Neubestimmung. Wir müssen darüber diskutieren, wie Europa sich trotz vieler Probleme weiter auf Amerika beziehen will.

I.

Der amerikanische Traum verblasst. Die Vereinigten Staaten von Amerika, lange ein Magnet europäischer Auswanderer, der Entrinnen aus dem Elend und der Unterdrückung des Alten Kontinents im 18., 19. und 20. Jahrhundert verhieß, versprachen nicht allein ein besseres Leben, Wohlstand und Fortschritt, sondern auch Freiheit und Demokratie. Die USA waren ein Symbol, das diese Werte verkörperte. Im 20. Jahrhundert boten sie den europäischen Flüchtlingen Zuflucht vor dem deutschen Faschismus, sie waren das Land der Befreiung von der Nazi-Diktatur; sie wurden im Westen zum Land des Marshall-Plans und der Care-Pakete. Im Kalten Krieg boten sie Schutz gegen den Stalinismus. Auch wenn all diese historischen Leistungen und Verdienste nicht selbstlos, sondern durchaus auch im Eigeninteresse erfolgten, waren sie doch real und verstärkten für die Europäer das Bild von den USA als Hort der Freiheit. Das war unser, der europäische Traum von Amerika. Dieser Traum war gerade in der Bundesrepublik Deutschland besonders ausgeprägt, weil im Land des Faschismus und des Holocaust das starke Bedürfnis bestand, seine demokratische Läuterung zu belegen. Die Erben der Nazis fanden es bequem, die demokratischen Werte des Siegers zu bewundern. Richtig zwar, aber oft auch mit einem Anflug von Opportunismus behaftet.

Der westeuropäische und westdeutsche Atlantizismus der Nachkriegszeit verband die ideologische Exkulpierung über die Identifizierung mit dem Sieger mit den politischen und militärischen Notwendigkeiten: zu lieben, von wem man abhängig war, war klug. Angesichts des verlorenen Weltkrieges bestand im Kalten Krieg nur die Wahl zwischen den beiden Mächten USA und Sowjetunion. Sie fiel leicht, und die Identifizierung mit den Werten gab der politischen Gefolgschaft eine überzeugende moralische Basis, die in der Formel "Freiheit oder Sozialismus" noch beschworen wurde, als sie schon längst brüchig geworden war. Von Amerika lernen, hieß Demokratie und Siegen lernen.

Gerade im Vergleich zur eigenen, europäischen Geschichte waren die USA ein berechtigtes und verständliches Vorbild. Die opportunistischen Aspekte des Atlantizismus änderten daran nichts. Sozialpolitisch zwar etwas unterbelichtet hatten die wirtschaftlich und politisch so dynamischen USA die inneren Freiheitsrechte tatsächlich zu einer Höhe entwickelt, von der viele europäische Länder kaum zu träumen wagten.

Inzwischen, und nicht erst seit George Bush dem Jüngeren, ist die Leuchtkraft des Vorbildes USA verblasst. Der amerikanische Traum ist ramponiert, ist für viele schon zu einem Albtraum der Arroganz, der moralischen Heuchelei und der nackten Machtpolitik geworden.

II.

Die USA wurden nach dem Ende des Kalten Krieges zu einem wichtigen Problem der internationalen Politik. Ohne Washington geht kaum etwas, wenn globale Fragen gelöst werden sollen. Die wirtschaftliche, politische, technologische und militärische Dominanz der einzigen Supermacht ist so gewaltig, dass an ihr kein Weg vorbeiführt. Globale Umweltpolitik, Friedenssicherung in Konfliktregionen, die Stimulierung der Weltwirtschaft - es gibt kaum bedeutsame globale Fragen, bei denen die Welt nicht auf die Zusammenarbeit oder wenigstens eine wohlwollende Toleranz seitens der Vereinigten Staaten angewiesen wäre. Noch dramatischer zeigt sich diese Abhängigkeit, wenn Washington den Weg eines rabiaten Unilateralismus beschreitet: Der Irakkrieg war bei weitem nicht der erste Fall, bei dem die USA mit geringer Rücksichtnahme auf andere Akteure ihre Eigeninteressen mit Nachdruck durchsetzten. Er war aber zugleich ein gefährliches Lehrstück, dass solches Verhalten zu einer schweren Schädigung der Vereinten Nationen und des Völkerrechtes führen kann. Noch immer ist die Weltgemeinschaft damit beschäftigt, die Trümmer dieser Vorgehensweise zusammenzutragen und notdürftig zu kitten.

Durch die beispiellose Machtfülle der USA und ihre zunehmend rücksichtslose Anwendung hat sich auch unser Verhältnis zu Amerika zu einem Schlüsselproblem entwickelt. Die Weltpolitik dreht sich seit dem Ende des Kalten Krieges vor allem um die Frage, ob die USA ihre globale Vorherrschaft eher hemdsärmelig und gewaltsam oder im Rahmen multilateraler Zusammenarbeit auf der Grundlage verbindlicher Regeln, unter Respektierung ihrer Verbündeten, der Vereinten Nationen und des Völkerrechts wahrzunehmen gedenken. Aber auch die europäische Identität bildet sich in der Auseinandersetzung mit US-amerikanischer Politik und US-amerikanischer Kultur. Soll Europa zum dauerhaften Juniorpartner der USA werden? Soll es einen politisch-kulturellen Gegenentwurf vorlegen? Auch die deutsche Politik und die deutschen Intellektuellen tun sich mit Amerika schwer: bekennerhafter Atlantizismus wie schablonenhafter Antiamerikanismus bilden ernste Denk- und Handlungsblockaden. Diese Tendenz ist seit der Wiedervereinigung, die eine Stärkung "nationalen" Denkens mit sich brachte, noch gewachsen. Eine nüchterne Betrachtung unseres Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten ist so noch dringender, aber auch schwieriger geworden.

Die USA sind nicht erst in den letzten Jahren zu einem zentralen Problem geworden, aber der Streit um den Irakkrieg hat unser Verhältnis zu Amerika ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, hat verborgene Konflikte zugespitzt. Sind die USA, wie manche Beobachter überspitzt meinen, selbst zu einem "Schurkenstaat" geworden, der sich um den Rest der Welt und das internationale Recht nicht schert? Oder stellt sich Washington nur den neuen globalen Herausforderungen des Extremismus und Terrorismus, während die europäischen Intellektuellen - und manche Regierungen - davor die Augen verschließen? Liegen also die transatlantischen Probleme vor allem an der unilateralen Politik der Bush-Administration oder an der "Naivität der Europäer", die von amerikanischen Politikern, Wissenschaftlern und Publizisten gern beklagt wird?

III.

Die Machtstellung der USA im internationalen System kann man ihnen nicht vorwerfen. Wenn die USA wirtschaftlich, technologisch, politisch und kulturell ein so hohes Gewicht besitzen, dann liegt das einerseits an ihrer internen Entwicklungsdynamik der beiden letzten Jahrhunderte und an ihrer schieren Größe, andererseits an der Schwäche der anderen Akteure: die Stagnation und das Auseinanderbrechen der Sowjetunion oder die außen- und sicherheitspolitische Handlungsunfähigkeit der Europäischen Union, die in den Balkankriegen und beim Irakkrieg so deutlich wurde, darf man kaum Washington vorwerfen. Die Stärke der USA liegt also in ihrer eigenen Kraft und an der Schwäche möglicher Gegengewichte.

Anders sieht es aus, wenn man die Art betrachtet, wie Washington mit der eigenen Dominanz umgeht. Zwar hat es in der amerikanischen Politik schon immer die beiden Grundströmungen des Uni- und des Multilateralismus gegeben. Aber seit Mitte der 1990er Jahre - bereits unter der Clinton-Administration - setzten sich immer stärker einseitige Handlungsmuster durch, bei denen sich Washington nicht selten der Weltgemeinschaft entgegenstellte: die notorische Weigerung der USA, ihre Mitgliedsbeiträge bei der UNO zu bezahlen (im Sommer 2001 mehr als 2,3 Milliarden US-Dollar Zahlungsrückstände, inzwischen vermindert), die häufige Verhängung einseitiger Wirtschaftssanktionen gegen zahlreiche Länder (am bekanntesten: gegen Kuba, den Iran und Libyen), eine Verweigerung der Ratifizierung des Atomteststoppabkommens, die Kündigung des ABM-Vertrages und die Verfolgung eines Nationalen Raketenabwehrsystems, die Verweigerung des Verifikationsregimes zur Biowaffenkonvention, die Weigerung die Ottawa-Konvention über das Verbot von Anti-Personen-Minen zu unterzeichnen, die Ablehnung des Kyoto-Protokolls zum Schutz des Weltklimas, die offene Sabotage des Internationalen Strafgerichtshofes und eine massive Politik der Täuschung, der Drohung, Bespitzelung und schließlich Ignorierung des UNO-Sicherheitsrates vor dem Irakkrieg sind deutliche Warnzeichen.

Der Irakkrieg brachte die Tendenz US-amerikanischer Verweigerung und eines rabiaten Unilateralismus verstärkt ans Licht. Während die US-Regierung immer wieder die Missachtung des UNO-Sicherheitsrates und seiner Resolutionen durch den Irak als Grund seiner Konfrontations- und Kriegspolitik betonte, erklärte sie diesen selbst als "irrelevant" (Bush), wenn er den US-Vorgaben nicht folge. Während Bagdad zur allgemeinen Überraschung der Sicherheitsratsresolution 1441 zu folgen bereit war, führte Washington trotzdem Krieg gegen den Irak - ohne bedroht oder angegriffen zu sein, ohne einen Beschluss und gegen den Willen des UN-Sicherheitsrates, also völkerrechtswidrig. Und während Saddam Hussein die UNO-Waffeninspekteure ins Land und endlich ungehindert arbeiten ließ, erklärte George Bush genau deswegen ihre Arbeit zur "Wiederholung eines schlechten Films", den er sich nicht ansehen wolle. Der Krieg wurde schließlich mit der doppelten Begründung geführt, die irakischen Massenvernichtungswaffen vernichten und die irakische Unterstützung der Terrororganisation Al-Qaida beenden zu wollen. Bald wurde offensichtlich, dass der Irak schon seit längerem über keine Massenvernichtungswaffen mehr verfügte und von einer Zusammenarbeit mit Usama bin Ladin ebenfalls keine Rede sein konnte. Der Krieg war nicht nur völkerrechtswidrig, sondern auch der Weltöffentlichkeit und den Verbündeten gegenüber durch Lügen und Täuschungen gerechtfertigt worden.

IV.

Die Beschädigung des Völkerrechts und der Vereinten Nationen durch Washington sind keine Petitessen. Völkerrecht und Vereinte Nationen sind in einer konfliktträchtigen und komplexer werdenden Welt Schlüsselmechanismen zur Einhegung von Konflikten, zu ihrer kooperativen und gewaltlosen Beilegung. Die Fortschritte des Völkerrechts im letzten Jahrhundert und die Gründung der - wenn auch weiterhin viel zu schwachen und unbefriedigend verfassten - Vereinten Nationen haben historische Bedeutung. Sie bilden erste, wenn auch noch unsichere und unzureichende Schritte zu einer Ordnung der internationalen Beziehungen, die das Gesetz des Dschungels überwinden. Der einzige Weg dazu besteht in der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, in deren Rahmen nicht mehr die Macht und Skrupellosigkeit den egoistischen Akteuren zum Erfolg verhelfen, sondern für alle die gleichen Regeln gelten, an die sich alle zu halten haben, unabhängig von Rasse, Religion, Größe oder Kultur. Die historisch-kulturellen Fortschritte auf diesem Weg sind noch begrenzt, aber vorhanden, wertvoll und ausbaufähig. Gerade im Land des Holocaust sollten wir diesen Weg zur Zivilisierung und Verrechtlichung der Internationalen Beziehungen und der Gleichheit aller internationalen Rechtssubjekte besonders ernst nehmen. Internationaler Sozialdarwinismus und das Recht des Stärkeren sind eine Bedrohung zuerst der Schwachen, letztlich aber der ganzen internationalen Gemeinschaft.

Die USA haben über Jahrzehnte - wenn auch nicht immer mit gleich großem Engagement - am Ausbau völkerrechtlicher Mechanismen mitgearbeitet, sie haben, wenn auch manchmal zögerlich und mit Einschränkungen, die Vereinten Nationen als Handlungsrahmen akzeptiert. Jetzt allerdings scheinen diejenigen Kräfte in Washington die Oberhand gewonnen zu haben, die das Völkerrecht für eine Nebensache oder ein bloßes Spielzeug und die UNO für Teufelswerk zu halten belieben.

V.

Die US-Außenpolitik im Nahen und Mittleren Osten und darüber hinaus verbirgt sich hinter moralischen Begriffen und Kategorien, zielt aber zunehmend auf Dominanz und Kontrolle. Während die Bush-Administration von einer Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens, von der Befreiung des Irak von der Diktatur, von der Beseitigung der Massenvernichtungswaffen - der anderer Staaten, nicht der eigenen - spricht, setzt sie vor allem auf militärische und andere Zwangsmittel, um die Region zwischen dem Nahen Osten und Zentralasien im Sinne eigener Machtinteressen neu zu ordnen. Dabei geht es nicht allein um die Ressourcen und Ölvorkommen des Persischen Golfes und Zentralasiens, sondern vor allem um die Kontrolle dieser geostrategisch wichtigen Region. Häufig wird die Zusammenarbeit mit auch blutigen Diktatoren nicht als Problem betrachtet, solange es nur der Förderung eigener Interessen dient. Auch der an sich notwendige Kampf gegen den internationalen Terrorismus wird diesen Machtinteressen untergeordnet. Dieses Schicksal teilt er mit der "Demokratisierung", den Menschenrechten und dem Völkerrecht, die ebenfalls politisch instrumentalisiert werden, um den egoistischen Eigeninteressen zu dienen: wenn nützlich, werden beide ins Zentrum der Argumentation gestellt, sonst ignoriert oder offen missachtet. Wer diese Werte aber zu einem Knüppel gegen politische Gegner macht, untergräbt ihre Glaubwürdigkeit und fügt ihnen schweren Schaden zu. Deshalb darf auch die Terrorismusbekämpfung einer notwendigen Politik der nachhaltigen und friedlichen Entwicklung nicht entgegenlaufen.

Diese Problematik gilt offensichtlich nicht allein in Bezug auf den Nahen Osten. In anderen Regionen - etwa in Mittel- und Südamerika - kann solche Politik des "dicken Knüppels" (Präsident Theodore Roosevelt) auf eine lange Tradition zurückblicken, die bis heute zwar gemildert, aber nicht beendet ist, wenn man etwa an die Politik der Reagan-Administration der 1980er Jahre oder den aktuellen "Plan Columbia" in Kolumbien denkt.

VI.

Kritik an der Politik Washingtons wird oft mit dem Vorwurf des "Anti-Amerikanismus" belegt. Nun ist es offensichtlich, dass es in Europa tatsächlich verschiedene Formen des Antiamerikanismus gibt, die sich manchmal aus kultureller Überheblichkeit, mal aus enttäuschter Liebe, mal aus Eurozentrismus oder aus anderen Quellen speisen. Häufig scheint seine Ursache auch in der Entzauberung eines früher leuchtenden Vorbildes zu liegen: eine übertriebene und kritiklose moralische Überhöhung der USA kann leicht zu Enttäuschung führen, wenn sie immer wieder mit einer realen politischen und militärischen Praxis konfrontiert wird, die diesen Werten grundlegend widerspricht. Hier besteht die Gefahr einer Emotionalisierung oder besserwisserischen Moralisierung des eigenen Verhältnisses zu den USA, die den Blick für klare Analysen und fundierte Kritik trüben. Antiamerikanische Denkweisen vergessen nur zu oft, dass es innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft viele potentielle Partner gibt, die selbst einer falschen, imperialen und unilateralen Politik des eigenen Landes widersprechen. Mit solchen Kräften verstärkt zusammenzuarbeiten ist eine wichtige Aufgabe europäischer Politik, gerade auch der Zivilgesellschaft.

Kritik an den Politiken Washingtons und Antiamerikanismus sind zwei unterschiedliche Dinge: ist letzterer ein gefühlsmäßiger Abwehrimpuls, der die USA insgesamt als etwas kulturell Minderwertiges betrachtet und in den Bereich der Feindbilder, nationalen Klischees und Vorurteile gehört, so sollte Kritik an den Politiken, Ideologien und Praktiken eines mächtigen Landes eine Selbstverständlichkeit sein. So wie es möglich ist, die eigene Regierung, die französische oder andere zu kritisieren, ohne dadurch "anti-deutsch" oder "anti-französisch" zu sein, so ist auch Kritik an der Politik Washingtons nicht nur möglich und legitim, sondern oft sinnvoll oder notwendig. Dass eine Weltmacht, gar die einzige Supermacht, wegen ihrer herausragenden Bedeutung für die Weltpolitik besonders im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und stehen muss, ist selbstverständlich - und dass gerade die Politik der aktuellen US-Regierung aufgrund ihres oft rücksichtslosen Unilateralismus in besonderem Maße Kritik auf sich zieht, darf nicht überraschen. Fundierte Kritik als "Anti-Amerikanismus" zu verunglimpfen, ist bloße politische Demagogie.

VII.

Europa muss auf die beispiellose Machtstellung eines einzigen Landes, es muss auf dessen destruktive Politikanteile entschlossen und besonnen reagieren. Weder ein gefühlsmäßiges Aufbegehren, eine anti-amerikanische Konfrontationspolitik, noch eine Unterordnung unter oder gar Vasallentreue gegenüber Amerika wird den Zukunftsaufgaben gerecht. Der Versuch, sich im Stile Tony Blairs in Washington anzubiedern und jede Politik der amerikanischen Regierung fast bedingungslos zu unterstützen, widerspräche den europäischen Interessen. Eine solche Politik wäre nicht nur nutzlos, sondern auch falsch.

Eine kritische und konstruktive Politik Europas gegenüber den USA wird dadurch erschwert, dass es hier selbst politische Kräfte gibt, die daran kein Interesse haben. Ministerpräsidenten wie Berlusconi und bis vor kurzem Aznar erschweren eine gemeinsame Politik Europas, die auf die Selbstzivilisierung des eigenen Kontinents zielt. Es kommt deshalb als Voraussetzung einer positiven Politik Europas gegenüber Amerika auch darauf an, die Diskussion innerhalb Europas über eine konstruktive eigene Rolle zu verstärken. Wir müssen hartnäckig an einer kooperativen, handlungsfähigen, nachhaltigen und friedensfördernden Identität Europas arbeiten.

Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege und mehrerer Jahrhunderte des Blutvergießens in Europa durch skrupellose Machtpolitik einzelner Staaten oder Staatengruppen sollte der alte Kontinent gelernt haben, wie wichtig Mechanismen friedlicher Konfliktbeilegung im internationalen Rahmen sind. Die Bedeutung dieser historischen Erfahrung erkennen amerikanische Europakritiker wie Robert Kagan nicht.

Und das heißt: das Völkerrecht und die Vereinten Nationen müssen nach allen Seiten gegen Versuche verteidigt werden, sie zu untergraben, zu ignorieren, zu beschädigen oder zum Machtinstrument einzelner Mächte herabzuwürdigen. Wenn die Vereinigten Staaten weiter diesen Weg beschreiten, müssen die europäischen Staaten gemeinsam die zivilisatorischen Fortschritte von UNO und Völkerrecht verteidigen - nicht weil die USA der Übeltäter sind, sondern weil irgendeine Großmacht die Einrichtungen friedlicher Konfliktbeilegung bedroht. In diesem Sinne ist es die Aufgabe Europas, mit anderen zusammen an der multilateralen Einhegung aller größeren Mächte zu arbeiten: seiner selbst, Russlands, Chinas, aber auch der USA.

Europa sollte sich allerdings vor der Versuchung hüten, die USA dadurch eindämmen zu wollen, dass es sie imitiert, dass es ihnen kulturell und politisch immer ähnlicher wird oder gar selbst den Weg zu einer militärischen Supermacht beschreitet. Zwar wird Europa zur Vermeidung zu großer Machtungleichgewichte ein gemeinsames militärisches Potenzial benötigen, aber eine Politik der Militarisierung der internationalen Beziehungen kann nicht dadurch bekämpft werden, dass man sich an ihr beteiligt oder sie selbst betreibt. Europa muss zu einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik und finden, sonst bleibt die Gefahr der Spaltung, Lähmung und der Unfähigkeit bestehen, die sich auf dem Balkan und anlässlich des Irakkriegs gezeigt hat. Aber die Gewinnung der eigenen Handlungsfähigkeit muss mit der Bereitschaft der Selbsteinhegung der eigenen Macht verbunden werden, wenn diese nicht außer Kontrolle geraten soll.

Europa muss zu einem nicht-militaristischen Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten werden, das dem Frieden und der nachhaltigen und menschenwürdigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft verpflichtet ist. Es muss verstärkt mit anderen relevanten Akteuren in Nord und Süd kooperieren, die zwar oft unterschiedliche Auffassungen haben, aber fast alle eine unilaterale Dominanz der USA für bedrohlich halten. In diesem Sinne wird es höchste Zeit, dass Europa aus seiner regionalen Beschränktheit heraustritt und eine aktive globale Rolle übernimmt - ohne dabei der Hybris zu erliegen, selber "Weltpolizist" werden zu wollen oder für die Lösung aller globalen Fragen verantwortlich zu sein. Europa kann und sollte eine Schlüsselrolle bei der Organisation multilateraler Lösungen für globale Fragen übernehmen. Die weitere Konzentration auf die eigene Region und ihre unmittelbare Nachbarschaft behutsam durch Kooperationsangebote globaler Art zu ergänzen, wäre der richtige Weg. Fragen des globalen Schutzes von Klima und Biodiversität, der Friedensbewahrung, der Stärkung der Vereinten Nationen und der Verrechtlichung der Internationalen Beziehungen sind offensichtliche Beispiele. Dabei kann die Maxime gelten: wenn immer möglich mit den USA, sonst aber auch ohne sie. Europa verfügt nicht über genug Gewicht, die Welt nach seinem Bilde zu gestalten, aber doch über genug Einfluss und Ansehen, einen ständigen Druck zur Kooperation auf andere Länder - einschließlich den USA - aufrecht zu erhalten.

Zu den Aufgaben gehört es auch, weiterhin und in Zukunft noch verstärkt die eigenen wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Interessen gegenüber Washington offen und selbstbewusst zu vertreten. Dies bedeutet keinen Euronationalismus, sondern das Bestehen darauf, dass auch in den transatlantischen Beziehungen Gleichberechtigung und Ausgewogenheit herrschen sollten: eine Politik Washingtons, die Europäische Union (und andere) unter großem ideologischen Aufwand beispielsweise zu einer völligen Öffnung der Märkte zu zwingen, selbst aber wichtige Wirtschaftssektoren hinter Schutzmauern zu verstecken, bleibt inakzeptabel.

VIII.

Die transatlantischen Beziehungen sind und bleiben für Europa zentral. Die USA sind wirtschaftlich, politisch und militärisch zu wichtig, als dass Europa sich auf absehbare Zeit "abkoppeln" oder eine Politik der Konfrontation einschlagen könnte oder sollte. Eine Alternative zwischen Unterwerfung und antiamerikanischem Aktivismus dürfen wir nicht akzeptieren. Die Gestaltungsaufgabe besteht darin, die europäisch-amerikanischen Beziehungen neu zu ordnen. Sie sollten dabei eng und kooperativ gehalten werden, aber entweder eine neue, gemeinsame Grundlage bekommen, die auch die europäischen und globalen Interessen gleichberechtigt berücksichtigt, oder aber eine "Normalisierung" der Kooperation organisieren, die aus einer früheren "Wertegemeinschaft" eine Zweckgemeinschaft werden lässt. In den letzten Jahren scheint insbesondere die Bush-Administration die Wertegemeinschaft durch ihren hemdsärmeligen Unilateralismus aufzukündigen, der Völkerrecht und andere zivilisatorische Kernbestände untergräbt. Wir brauchen einen politischen und gesellschaftlichen Dialog zwischen Europa und den USA, um festzustellen, ob dieser Ausstieg aus der Wertegemeinschaft noch rückholbar ist. Dazu gibt es sicher Chancen, die genutzt werden sollten - die angesprochene, verstärkte Zusammenarbeit mit den aufgeschlossenen Sektoren der US-Zivilgesellschaft und Politik wären dazu dringlich. Wenn es gelingt, Menschenrechte, Demokratie, Umweltschutz, Völkerrecht und Friedensbewahrung zum gemeinsamen Wertekanon zwischen den USA und Europa zu machen - dann könnte den transatlantischen Beziehungen eine neue Blütezeit bevorstehen. Sollten die politischen Führungskreise in den USA auf absehbare Zeit nicht bereit sein, sich auf diese gemeinsamen Grundlagen ernsthaft einzulassen, dann steht kein Abbruch der transatlantischen Zusammenarbeit zu erwarten, aber deren Umgestaltung zu einer entideologisierten Interessengemeinschaft zweier Machtblöcke.

IX.

Die Zeit der transatlantischen Romantik und der Schwärmerei ist endgültig vorbei. Die europäisch-amerikanischen Beziehungen müssen neu geordnet werden. An die Stelle bekennerhaften Pro- oder Anti-Amerikanismus muss eine Neubestimmung unserer Beziehungen treten, die von zwei Kernfragen geleitet wird: von unseren Interessen, den eigenen, gemeinsamen und globalen, sowie von den politischen und moralischen Werten, deren Substanz vor ihrem rhetorischen Missbrauch geschützt werden muss. Akzeptieren sich beide Seiten noch als prinzipiell gleich, oder soll bloße Gefolgschaft durchgesetzt werden? Akzeptieren auch die USA weiterhin den Primat der Friedensbewahrung und des Schutzes der Umwelt? Akzeptieren sie das Völkerrecht und die Werte und Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen als Handlungsmaxime? Von diesen Fragen wird die Zukunft der transatlantischen Beziehungen abhängen. Die Europäer sollten für eine zivilisierte und kooperative Organisierung der Weltpolitik eintreten, entweder mit, sonst aber auch ohne Washington - gemeinsam mit den Kräften in Amerika, die ebenfalls die Werte der Toleranz, Demokratie und globaler Rechtsstaatlichkeit hochhalten.

Die Unterzeichner
Prof. Dr. Dr. hc. Günter Altner, Biologe und Theologe (Heidelberg) Dr. Hans Arnold, Botschafter a. D. (Riedering-Heft) René Böll, Maler & Graphiker (Bornheim/Köln) Prof. Dr. Jan C. Bongaerts, Umwelt- und Ressourcenmanagement (Freiburg) Dr. Claudia Derichs, Politikwissenschaftlerin (Duisburg) Annegret Falter, Geschäftsführerin Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW, Berlin) Michael Guggemos, Gewerkschaftssekretär (Berlin) Prof. Dr. Dr. hc. Bernd Hamm, Soziologe (Trier) Prof. Thomas Heberer, Politikwissenschaftler (Duisburg) Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ, Sozialethiker, Leiter Nell-Breuning-Institut (Frankfurt am Main) Dr. Reinhard Hermle, Politologe (Aachen) Dr. Jochen Hippler, Politikwissenschaftler (Duisburg) Prof. em. Dr. Klaus Hüfner, Wirtschaftswissenschaftler (Berlin) Dr. Hartmut Ihne, Politikwissenschaftler (Bonn) Dr. Burkhard Könitzer, Geschäftsführer Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF, Bonn) Steffi Lemke, Politische Bundesgeschäftsführerin Bündnis 90/Die Grünen (Berlin ) Joachim Lindau, Diplom-Sozialwirt (Stuttgart) Prof. Dr. Gerd Michelsen, Umweltwissenschaftler (Lüneburg) Prof. Dr. Clarita Müller-Plantenberg, Soziologin (Kassel) PD Dr. Urs Müller-Plantenberg, Soziologe (Berlin) Winfried Nachtwei, MdB (Münster) Prof. Dr. Jens Naumann, Politologe und Erziehungswissenschaftler (Münster) Prof. Dr. Franz Nuscheler, Politikwissenschaftler, Direktor Institut für Entwicklung und Frieden (INEF, Duisburg) Prof. Dr. Claus Offe, Politikwissenschaftler (Berlin) Siegfried Pater, Journalist und Filmemacher (Bonn) Eva Quistorp, MdEP a.D., Theologin, Autorin (Berlin) Prof. Dr. Uta Ruppert, Politikwissenschaftlerin (Frankfurt) Jeanette Schade, M. A., Politik- wissenschaftlerin (Duisburg) Prof. em. Dr. Dr. hc. Udo E. Simonis, Umweltwissenschaftler (Berlin) Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin a. D. (Berlin) Anja-Désiree Senz, M. A., Politikwissenschaftlerin (Duisburg) Prof. Dr. Rainer Tetzlaff, Politologe (Hamburg) Peter Wahl, Soziologe (Berlin) Dr. Ludwig Watzal, Redakteur (Bonn) Beate Weber (Heidelberg) Dr. Volker Weyel, Chefredakteur (Berlin) Dr. Angelika Zahrnt, Volkswirtin (Neckargemünd) Andreas Zumach, Journalist (Genf)

Die Initiative
Die "Duisburger Erklärung" ist eine private Initiative deutscher Intellektueller, die im Rahmen der "Duisburger Akzente" am 12. Mai 2004 auf einer Podiumsdiskussion debattiert werden soll. Die "Akzente" sind ein Kulturfestival der Stadt Duisburg, das aktuelle kultur- und gesellschaftspolitische Themen aufgreift. Das diesjährige Motto lautet: "Endstation Amerika?". www.vhs-duisburg.de Die komplette Fassung der hier gekürzt dokumentierten Erklärung ist im Internet zu finden unter: www.fr-aktuell.de/doku Die Erklärung kann außerdem bestellt werden bei: Anke Schaefen Volkshochschule Duisburg 47049 Duisburg


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