Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Architektur für eine europäische Verfassung" vorgelegt

Fischer: Entwurf verdient "vorurteilsfreie Prüfung" - Kaufmann (PDS): "Glücklicherweise nur ein Vor-Entwurf"

Zur Vorlage eines Vorentwurfs zu einer europäische Verfassung dokumentieren wir im Folgenden:
(1) Eine offizielle Stellungnahme aus dem deutschen Außenministerium,
(2)und eine Stellungnahme der Europaabgeordneten Sylvia-Yvonne Kaufmann (PDS), die auch Mitglied im Konvent ist.



(1)Vorentwurf für Europäische Verfassung vorgelegt

Di, 29.10.2002

Der Präsident des Europäischen Konvents Giscard d'Estaing hat am 28. Oktober erstmals den Vorentwurf für eine künftige europäische Verfassung vorgelegt. Dieser Vorentwurf wurde von Bundesaußenminister Fischer in der Bundestagsdebatte am 29. Oktober als Rahmenvorschlag bezeichnet, der eine vorurteilsfreie Prüfung verdiene.

Der Präsident des Europäischen Konvents, Valery Giscard d'Estaing hat am 28. Oktober 2002 in einer Sitzung des EU-Konvents den Vorentwurf einer Europäischen Verfassung vorgelegt. Damit solle die Architektur der Verfassung vorgegeben werden, die der Ausfüllung bedürfe, sagte er. Dieser Vorentwurf wird in den kommenden Monaten vom Europäischen Konvent beraten werden.

An der Sitzung des EU-Konvents nahm erstmals Bundesaußenminister Joschka Fischer als deutscher Vertreter teil. Er löste damit Peter Glotz ab, der bisher der persönliche Beauftragte des Bundeskanzlers im Konvent war. In der Sitzung des Bundestages am 29. Oktober bezeichnete Fischer den Vorentwurf der Verfassung als einen Rahmenvorschlag, der eine vorurteilsfreie Prüfung verdiene.

Bei dem vorgelegten Vorentwurf handelt es sich um ein Gerüst, das die Struktur eines Verfassungsvertrages veranschaulichen soll. Über die genaueren Inhalte der einzelnen Artikel muss der Konvent noch entscheiden.

Der als "Vertrag über eine Verfassung für Europa" bezeichnete Entwurf sieht vor, die bisherigen Verträge über die Europäische Gemeinschaft und die Europäsche Union in einem einzigen Vertrag zusammen zu legen. Damit wird dem Ziel eines gestrafften und leichter verständlichen Vertragswerks Rechnung getragen.

Der erste Teil des Vorentwurfs skizziert die Struktur einer Verfassung. Das erste Kapitel nennt die Definition, Werte und Ziele der Union sowie ihre Rechtspersönlichkeit. Es wird auch zu entscheiden sein, wie die Union in Zukunft heißen soll. Neben den bisherigen Namen "Europäische Union" und "Europäische Gemeinschaft" werden auch die Bezeichnungen "Vereintes Europa und "Vereinigte Staaten von Europa" als Möglichkeiten genannt.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Unionsbürgerschaft und der "Charta der Grundrechte", wobei noch offen ist, in welcher Form die Charta in einer Europäischen Verfassung Eingang finden wird.

Ein drittes Kapitel soll die "Zuständigkeiten und Tätigkeitsbereiche" der Union regeln. Dabei ist eine möglichst klare Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips angestrebt. Die im Vorentwurf vorgesehene Nennung von ausschließlichen und geteilten Zuständigkeiten würde dem Modell des deutschen Grundgesetzes entsprechen.

Die folgenden Kapitel des ersten Teils beschreiben die Rolle und Aufgaben der EU-Institutionen, die Verfahren von Gesetzgebung , die Durchführung von Maßnahmen im Rahmen der Zuständigkeiten der Union sowie der Finanzmittel und den Haushalt der Gemeinschaft.

Das Kapitel "Das demokratische Leben der Union" zielt mit seinen einzelnen Artikel auf eine möglichst große Bürgernähe der Union. Es werden aber auch die Rolle der Union in der Welt, das heißt ihre Vertretung nach Außen sowie die Beziehungen zu den Nachbarn berücksichtigt.

Das abschließende Kapitel des ersten Teils soll den Beitritt zur Union regeln, sieht aber auch - erstmalig - Regelungen für einen Austritt vor.

Der zweite Teil des Vertragsentwurfs mit dem Titel "Die Politikbereiche und die Durchführung der Maßnahmen der Union" soll wesentliche Elemente des bisherigen EG-Vertrages enthalten. Für jeden Bereich müssen die Art der Zuständigkeit und der anwendbaren Rechtsakte und Verfahren entsprechend den Vorgaben des ersten Teiles des Vertrages angegeben werden .

Der dritte Teil wird allgemeine Bestimmungen zur Behandlung der bisherigen Verträge, Verfahrensvorschriften und weitere Schlussbestimmungen enthalten.

***

(2) 29.10.02: Vorentwurf des Verfassungvertrages ist glücklicherweise nur ein Vor-Entwurf

Zum Vorentwurf eines Europäischen Verfassungsvertrages, der am 28. Oktober 2002 vom Präsidenten des Europäischen Konvents, Valery Giscard d'Estaing, vorgestellt wurde, erklärt die PDS-Europaabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, Mitglied des Europäischen Konvents:

Vorentwurf des Verfassungsvertrages ist glücklicherweise nur ein Vor-Entwurf

Der gestern vorgelegte Strukturvorschlag für einen europäischen Verfassungsvertrag zielt insofern in die richtige Richtung, als aus dem komplizierten europäischen Vertragswerk ein klar gegliederter, besser verständlicher und einheitlicher Vertragstext entstehen soll. Unterstützenswert ist das Ziel, die EU-Charta der Grundrechte in den Verfassungsteil des Vertrages aufzunehmen. Zu begrüßen ist ebenso, dass die unübersichtliche Pfeilerstruktur der Europäischen Union aufgehoben und damit der EU eine eigene Rechtspersönlichkeit verliehen werden soll.

Der Text offenbart aber zugleich, wie viele offene und schwierige Fragen der Konvent bis zur Fertigstellung des Verfassungstextes noch zu klären hat. Glücklicherweise stellt das Dokument nicht mehr als einen Vor-Entwurf dar, der zweifellos in zentralen inhaltlichen Fragen noch stark verändert werden muss.

So wird Giscards Idee, einen "Kongress der Völker Europas" zu schaffen (Artikel 19), von der Mehrheit der Konventsmitglieder nicht unterstützt. Dies haben die bisherigen Debatten eindeutig gezeigt. Europa braucht keine neuen Institutionen - schon gar nicht einen "Volkskongress" nach chinesischem Vorbild. Die erforderliche Demokratisierung der EU bedarf vielmehr in erster Linie einer deutlichen Stärkung des Europäischen Parlaments als der einzigen demokratisch gewählten EU-Institution sowie eines ausgewogenen Gleichgewichts zwischen den bestehenden EU-Institutionen.

Keinerlei Verständnis kann ich dafür aufbringen, wie stiefväterlich der Präsident einmal mehr das von zahlreichen Konventsmitgliedern geforderte "Soziale Europa" behandelt: Bei der Aufzählung der gemeinsamen europäischen Werte (Teil 1, Kapitel 2) fällt etwa das Stichwort "Solidarität" völlig unter den Tisch. Offensichtlich ist dem Schöpfer des Vor-Entwurfs entgangen, dass die Solidarität zwischen den Staaten und Völkern ein Gründungsprinzip der Europäischen Union war und ist. Wenn man zudem noch feststellen muss, dass in Giscards Aufzählung der Ziele der Europäischen Union ausgerechnet die in Artikel 2 EG-Vertrag verankerten Ziele "Gleichstellung von Männern und Frauen", "Verbesserung der Umweltqualität", "Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität" sowie "nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens" überhaupt nicht genannt werden, dann fällt es schwer, hier noch an einen Zufall zu glauben.

Befremdlich ist schließlich auch Giscards Formulierung, dass "Unionsbürger entsprechend ihrer Staatsangehörigkeit nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen" (Erläuterungen zu Artikel 5). Ein Blick des Präsidenten in den EG-Vertrag, der in Artikel 12 unmissverständlich ein "Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit" für jedermann festschreibt, hätte verhindern können, dass der Vor-Entwurf den fatalen Eindruck erweckt, dass durch den Verfassungsvertrag längst erreichte Standards des Grundrechtsschutzes in Frage gestellt werden könnten.

Brüssel, den 29. Oktober 2002


Zu weiteren Beiträgen über Europa

Zurück zur Homepage