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Merkel knickte ein

EU-Gipfel einigte sich auf Wachstumspaket und Nothilfen

Von Kay Wagner, Brüssel *

Auf Druck Italiens und Spaniens wurden beim EU-Gipfel Nothilfen zur Stützung von hoch verschuldeten Eurostaaten beschlossen.

Den großen Befreiungsschlag aus der Krise hat der EU-Gipfel nicht gebracht. Die EU bleibt zwar bestehen, der Euro ebenfalls, die unsichere Zukunft aber auch. Daran ändern vorläufig auch die Maßnahmen nichts, auf die sich die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedstaaten bei ihrem Treffen am Donnerstag und Freitag in Brüssel geeinigt haben.

Für Überraschung sorgte jedoch das Vorgehen der Ministerpräsidenten Italiens, Mario Monti, und Spaniens, Mariano Rajoy. Sie verweigerten zunächst ihre Zustimmung zu einem 120 Milliarden Euro schweren Wachstumspakt. Obwohl sie ihn mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatspräsidenten, François Hollande, vor einer Woche selbst vorbereitet hatten. Erst wenn es Zugeständnisse bei der Bekämpfung der aktuellen Krisen in ihren Ländern geben würde, wollten sie zustimmen. Diese Zugeständnisse stehen jetzt: Staaten sollen zwar weiter das Geld für ihre angeschlagenen Banken aus den Rettungsschirmen beantragen. Haften sollen sie dafür aber nicht mehr. Dadurch können sie weiter als vertrauenswürdiger Partner an den Finanzmärkten auftreten. Krisenländer müssten zudem keine Sondersparprogramme mehr fürchten, wie sie für Griechenland oder Irland von der EU diktiert wurden. Sie müssen lediglich die Länderempfehlungen der EU-Kommission strikt einhalten, die die EU-Behörde seit diesem Jahr regelmäßig aufstellt.

Die Banken sollen bald von einer neuen »Superaufsichtsbehörde« kontrolliert werden, die bei der Europäischen Zentralbank angesiedelt sein wird. Monti soll diese Neuerung als einen ersten Schritt zu einer gemeinsamen Schuldenhaftung in der EU bewertet haben. Merkel wollte das so nicht sehen. Bei der Frage danach, wer für das Geld letztlich haftet, das die Banken aus den Rettungsschirmen erhalten, verwies sie auf die bisherigen Garantiezusagen der einzelnen Euroländer. »Es ist mir wichtig darauf hinzuweisen, dass die Maßnahmen zur Krisenbekämpfung weiter in dem bereits geltenden Rahmen stattfinden«, sagte Merkel, bevor sie zurück nach Berlin reiste. Damit trat sie Einschätzungen entgegen, die sie die Verliererin des Gipfels nannten.

Eine direkte gemeinsame Schuldenhaftung etwa in Form von Eurobonds gibt es vorläufig nicht, weitere Schritte zur vertieften Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsstaaten wurden vertagt.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 30. Juni 2012


Die Bank gewinnt

Von Klaus Fischer **

Bankenretten leicht gemacht: Auf dem EU-Gipfel wurden die Weichen für den Weg in eine europäische Schuldenunion gestellt. Künftig sollen wankende Finanzkonzerne direkten Zugang zu Hilfsgeldern erhalten, ohne daß die jeweiligen Staaten dafür zusätzliche Kürzungsauflagen erfüllen müssen. Die deutsche Forderung, Gelder nur dann fließen zu lassen, wenn direkter Einfluß auf die Nehmenden gesichert ist, zerschellte in der Nacht zum Freitag in Brüssel krachend am Widerstand insbesondere Italiens und Spaniens.

Kanzlerin Angela Merkel lebt noch. Bisher druckt oder verkauft auch niemand Euro-Bonds. Aber wenn sich bald Großbanken im Notfall aus den Hilfsfonds EFSF und ESM selbst bedienen können, öffnet das die Schleusen weiter. Ziel ist die Sozialisierung der Verbindlichkeiten.

Lächerlich sind die von den Staats- und Regierungschefs vorgebrachten Entschuldigungs- und Begründungsklauseln dieses Systemumbaus. Es werde ein zentrale Aufsicht unter Leitung der Europäischen Zentralbank (EZB) geben, hieß es. Auflagen müßten von den Nehmerländern auch weiterhin erfüllt werden. Auch werde wohl bald eine Finanztransaktionssteuer eingeführt. Das kollidiert mit den bisherigen Erfahrungen. Bankenkontrolle und Regulierung der Marktakteure war seit Krisenausbruch 2007/2008 stets nur eine Floskel, um diverse »Rettungsaktionen« auf Rechnung der Steuerzahler anzuschieben.

Um das Brüssel-Prozedere auf einen Nenner zu bringen: Die Regierenden werden die systemisch wichtigen Finanzkonzerne erhalten. Um jeden Preis. Den direkten Griff in die Tasche der Bürger scheuen sie ohnehin nicht. Fast nebenbei kippen sie das bislang existierende System politisch, ökonomisch und kulturell kooperierender Nationalstaaten. Etwas Neues wird etabliert, das Europas Bürger mit Schrecken erfüllen muß: eine Art Doppelherrschaft aus nationalen Regierungen unterschiedlichster Provenienz und einer demokratisch nicht legitimierten Eurokratie. Letztere wird, wie bereits jetzt, für die sozialen Grausamkeiten zuständig sein.

Das klingt wenig erfreulich. Doch große Alternativen haben die Staatslenker nicht. Der Finanzsektor ist klinisch tot – weil er über die Jahre aufgehäufte private Gewinne und Einkünfte nicht ausreichend kapitalisieren konnte und statt dessen absurdeste »Produkte« zur Geldvermehrung ersann. Die jahrelangen Spekulationsexzesse haben nach Krisenausbruch weltweit Billionen vermeintlich realer Euro, Dollar oder auch Yen verbrannt. Eigenkapital und Kundeneinlagen der Banken wurden zumindest stark entwertet – ohne dies ehrlich zu buchen. Was aber würde geschehen, wenn die Guthaben plötzlich nur noch die Hälfte, oder gar nichts wert wären? Wieviel Milliarden Kontrakte aus Finanzwetten wären obsolet, welchen Rentenanspruch könnten Pensionäre noch geltend machen, deren Beiträge durch taffe Finanzakrobaten erst investiert, dann gehebelt und schließlich verloren wurden? Alle Schiebungen, Verabredungen und Gelddruckaktionen, all die Rettungsbemühungen und -vereinbarungen haben letztlich den Zweck, diesen Offenbarungseid zu verhindern.

** Aus: junge Welt, Samstag, 30. Juni 2012


Italienische Doublette

Sieg im Fußball, Teilerfolg gegen von BRD favorisierte Kürzungsauflagen: EU-Gipfel läßt auf Druck Roms künftig direkte Bankenstützung zu

Von Rainer Rupp ***


Der EU-Gipfel übertrifft die Erwartungen: Er produziert mehr als die übliche heiße Luft, die Skeptiker erwartet hatten. Dennoch, »der große Durchbruch« ist es nicht, auch wenn viel Eurokraten die Ergebnisse als solchen feiern. Zudem hat das Ganze eine hämische Komponente: Insbesondere die britischen Medien freuten sich über die deutsche Niederlage – und das nicht nur im Fußballspiel gegen Italien. Auch in Brüssel sei die BRD unter dem vereinten Ansturm der Italiener und Spanier, unterstützt von den Franzosen, »eingebrochen«. Spanische und italienische Pleitebanken dürfen nun ohne Umweg über den Staat direkt von diversen Euro-Rettungsschirmen refinanziert werden.

Geld ohne Auflage

Damit ist Rom und Madrid ein Coup gelungen, der die prekäre Lage ihrer Staatsfinanzen entspannen und den Zinssatz für neue Staatsanleihen auf ein erträgliches Maß drücken könnte. Allerdings wird das noch Zeit brauchen, denn Berlin hat als Bedingung auf der Einführung einer zentralen Bankenaufsichtsbehörde bestanden. Die soll z. B. den großen spanischen Kreditinstituten Auflagen zur Umstrukturierung erteilen und deren Umsetzung gemäß Zeitplan überwachen. Das ist ein gefährliches, aber wohl unausweichliches Vorgehen – als Nebenprodukt dieser »Prüfungen« dürften etliche Kreditskelette in den Kellern der Geldhäuser gefunden werden. Erst wenn die neue Aufsicht etabliert ist und ihre Arbeit aufnehmen kann, soll es für die spanischen Banken Geld aus den EU-Töpfen geben. Bis dahin (Schätzungen gehen vom Jahresende aus), so behaupten britische Zyniker, sei der Euro ohnehin bereits kaputt.

Dennoch haben der italienischer Regierungschef – der ehemalige Topmanager von Goldman Sachs und frühere EU-Kommissar Mario Monti – und dessen spanischer Amtskollege Mariano Rajoy – allen Grund zufrieden zu sein. Als EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy am Freitag morgen das Ergebnis der Presse vorstellte, betonte er, nun sei der »Teufelskreis« zwischen den Banken und nationalen Regierungen durchbrochen. Damit wollte der flämische Christdemokrat wohl sagen, daß in Zukunft sofort und direkt »gerettet« wird: Gelder aus den einschlägigen EU-Fonds werden also bald mehr oder weniger freihändig an spanische oder andere Banken verteilt, ohne daß dem jeweiligen Staat neue »Sparauflagen« aufgezwungen werden – wie das bisher in Griechenland, Irland und Portugal der Fall war.

Gipfel-Ergebnis ist auch, daß die Pleitebanken Geld direkt von der EU bekommen und damit wieder – wie bereits früher – Anleihen der eigenen Staaten kaufen können, eine Art Mehrfachsubventionierung. Mit den Milliarden, die sie zum Zinssatz von einem Prozent erhalten, können sich die Institute bei der Europäischen Zentralbank (EZB) refinanzieren, um damit weitere Staatsanleihen zu kaufen – die sich deutlich besser rentieren. Es entsteht so ein geldvermehrendes Perpetuum Mobile, denn mit diesen Anleihen refinanzieren sich die Banken je nach Bedarf wieder bei der EZB. Und das alles für lau und ohne Risiko.

Belastung der Etats

Damit dürfte der EU-Gipfel eine Entwicklung in Gang gesetzt haben, die womöglich das Potential hat, die Krisenländer von ihren »Sparzwängen« zu befreien und die Intentionen der deutschen Zuchtmeister zu unterlaufen. Denn wenn das »Rettungsgeld« aus EFSF (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität) und ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) direkt an die Banken geht, steht der spanische Staat mit einer Verschuldung von lediglich 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Vergleich zu den anderen Ländern der Euro-Zone glänzend da. Jedenfalls bei der Schuldenbilanz und den neuen Spielräumen, weitere Verbindlichkeiten zu machen.

Ein weiters positives Ergebnis des Gipfels ist die neue Ehrlichkeit in der Euro-Rettungsdebatte. Nie war so klar wie jetzt, daß nicht den Krisenstaaten oder deren Bevölkerung mit den unvorstellbar großen Summen der »Rettungspakete« geholfen wurde und wird, sondern immer nur dem amoklaufenden, sich jeder ernsthaften Kontrolle entziehenden Finanzsystem. Wenn die vermeintlichen Hilfen in Zukunft direkt an Zockerbanken überwiesen werden, dürften Appelle an die europäische Solidarität noch weniger fruchten als bisher. Dies wird sich spätestens zeigen, wenn die spanischen Banken die nächsten 50 oder 100 Milliarden Euro brauchen, um dem Tod, also der Pleite, von der Schippe zu springen. Solidarität mit ausländischen Bankstern dürfte sich selbst im folgsamen Bundestag nicht gut verkaufen lassen.

*** Aus: junge Welt, Samstag, 30. Juni 2012


Team Supermario

Von Katja Herzberg ****

Mit taktischem Geschick wurde Deutschland erst im Nationalstadion Warschau geschlagen, dann folgte die Vorführung beim EU-Gipfel in Brüssel. Der Alleingang von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der (Nicht-)Eurorettung wurden nach stundenlangen Verhandlungen gestoppt. Dabei ist es allen voran dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti zu verdanken, dass Italien, Spanien und andere kriselnde EU-Länder künftig zu weitaus günstigeren Bedingungen finanzielle Hilfen aus dem Rettungsfonds erhalten als noch Griechenland und Irland.

Konfliktpotenzial haben alle Beobachter dem Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten bescheinigt. Doch dass Monti die Machtfrage stellt, hatte wohl niemand erwartet. Der Wirtschaftswissenschaftler gilt trotz seiner zehnjährigen Tätigkeit als EU-Kommissar für den Binnenmarkt und Wettbewerb als Technokrat.

Was Monti nun so stark machte, war denn auch Teamgeist. Mit seinem spanischem Pendant, Mariano Rajoy, band er die Zustimmung zu dem noch vor einer Woche gemeinsam mit Merkel ausgehandelten Wachstumspaket - von dem gerade die Staaten mit hoher Verschuldung profitieren - plötzlich an den Beschluss schneller Hilfen für die Krisenländer der Eurozone. Und wusste dabei nicht nur den französischen Präsidenten François Hollande auf seiner Seite, der den Pakt zum ersten Meilenstein seiner Anti-Sparpolitik durchsetzen musste. Diesen vereinten Sturmlauf konnte das Abwehrbollwerk Merkel nicht aufhalten.

**** Aus: neues deutschland, Samstag, 30. Juni 2012 (Kommentar)


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