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Der Präsident drückt die Daumen

Von Wolfgang Hübner *


Wolfgang Hübner ist stellvertretender Chefredakteur von »neues deutschland«.

Am Ende war er sichtlich von sich selbst gerührt. Joachim Gauck hat am Freitag - fast ein Jahr nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten - eine Rede gehalten, die im Vorhinein als seine erste große Rede bezeichnet, ja zur Grundsatzrede hochgejubelt worden war. Das geladene Publikum applaudierte am Schluss, erhob sich sogar, der Redner zeigte sich bewegt. Wie schön.

Aber worüber hatte er gesprochen? Über »Perspektiven der europäischen Idee«, wie der Titel verhieß. Das ist ein schöner Trick, denn wer sich über die Perspektiven einer Idee verbreiten will, muss sich nicht all zu lange bei der schnöden Realität aufhalten. In einer Umfrage nach dem Begriff, der den Menschen beim Thema Europa zuerst einfällt, käme Krise zweifellos auf einen der ersten Plätze. Krise - ja, davon hat auch Joachim Gauck schon mal gehört. Er erwähnt sie sogar, doch lange hält er sich nicht damit auf.

Gewiss, ein Präsident ist keine tagespolitische Feuerwehr. Aber in diesen Wochen gäbe es jede Menge Bezugspunkte zum Thema europäische Idee. Die EU-Institutionen streiten verbissen um einen drastischen Sparhaushalt. Gerade wurde bekannt, dass die Länder der Eurozone dieses Jahr mit wachsenden Staatsdefiziten, schrumpfender Wirtschaftsleistung und einer Arbeitslosenquote auf Rekordniveau rechnen müssen. Es geht um die Lebensgrundlagen der Menschen in Europa.

Von diesen brennenden Problemen hält sich Gauck auf merkwürdige Weise fern. Es sind nicht seine Probleme. Er gibt im geübt pastoralen Ton den teils besorgten Wohlfühl-Präsidenten, der schon viele nette Winke-Winke-Termine, respektable Auslandsreisen (u.a. Polen, Nahost, Tschechien), ein paar absonderliche Antrittsbesuche etwa bei der Bundeswehr und manche irritierende Geste gegenüber Flüchtlingen und Naziopfern hinter sich hat. Spätestens seit Gauck im Berliner Schloss Bellevue residiert, lebt er anscheinend in einer Art Paralleluniversum. Nur so ist es zu erklären, dass ein Mann, der Preise für seine rhetorischen Fähigkeiten erhalten hat, plötzlich Sätze bildet, die an schönstes Parteichinesisch erinnern.

Er spricht von »notwendigen Anpassungen im wirtschafts- und finanzpolitischen Bereich im Euroraum« und meint offenbar die brachiale Krisenpolitik. Er erwähnt mit Bezug auf Deutschland »Maßnahmen, die uns damals« - vor zehn Jahren - »aus der Wirtschaftskrise herausführten« und meint die fatalen Hartz-Gesetze, die bis heute und in die weite Zukunft nachwirkende soziale Verwerfungen auslösten. Er redet über »Europa als Raum des Wohlstands, der Selbstverwirklichung und in vielen Fällen auch als Schutzraum« und sagt nicht, wie schwer, ja unmöglich es Menschen aus anderen Teilen der Welt gemacht wird, diesen Schutzraum zu erreichen.

Und dann natürlich noch das: die Phrase von der »großen identitätsstiftenden Erzählung«, die Europa leider fehle. Mit dieser Nummer könnte er gerne in den von ihm knapp erwähnten Krisenländern auftreten. Dort könnte er erfahren, wie sich europäische Identität stiften ließe: mit einer Krisenpolitik, die den Menschen das tägliche Brot, den Arbeitsplatz, die Wohnung, die medizinische Versorgung lässt.

Gaucks Botschaft indessen lautet vor allem: Seid guten Mutes und helft euch selbst! Der Präsident drückt uns dabei die Daumen. Dafür schon mal herzlichen Dank!

* Aus: neues deutschland, Samstag, 23. Februar 2013 (Kommentar)


Europa-Mystiker

Sonntagsrede mit üblen Zwischentönen

Von Werner Pirker **


Kaum etwas ist phrasenbeladener als die Europa-Rhetorik. So gesehen gibt es kaum einen deutschen Politiker, der geeigneter für eine Europa-Ansprache wäre als Bundespräsident Joachim Gauck. Und so gestaltete sich seine erste europapolitische Rede, wie man sie erwartet hatte: formvollendet, weitgehend inhaltsleer und mit gefährlichen Zwischentönen. Die Zeiten sind indessen nicht so, um unbekümmert in lyrischen Europa-Elogen zu schwelgen. Die Euro-Krise, die ja nicht nur eine Währungskrise ist, sondern eine Krise des ganzen EU-Vereinigungsprojektes, läßt sich auch von einem Schönredner wie Gauck nicht schönreden. »Wir ringen nicht nur um unsere Währung, wir ringen auch um uns selbst«, entrückte der Bundespräsident, wie es seine Art ist, konkrete Probleme ins Reich der Beliebigkeiten.

Daß sich die gegenwärtige Krise auch als eine Krise des Vertrauens darstellt, ist so offenkundig, daß es der Mann aus Rostock immer wieder anspricht, nicht zuletzt, um seine Rolle als Moderator zwischen Eliten und »einfachen Bürgern« hervorzuheben. Viele Bürger würden mit einem Gefühl der Macht- und Einflußlosigkeit zurückgelassen, sagte er. Das ist freilich nicht nur so ein Gefühl, sondern gelebte Erfahrung. Die zunehmende Reglementierung aller Lebensbereiche durch die Eurokratie, die Minimierung von Mitbestimmungsmöglichkeiten infolge der Entmachtung der örtlichen Selbstverwaltung, die kaltschnäuzige Durchsetzung des ökonomischen Paradigmas, die Privatisierungsexzesse und schließlich die verordnete Alternativlosigkeit, kennzeichnen die von oben erzwungene Entfremdung der Menschen von der Politik.

Weit davon entfernt, die realen Ursachen der Krise zu benennen, beklagte Gauck den Mangel an europäischer Identität, den er sich aus dem Fehlen einer gemeinsamen Erzählung, eines Gründungsmythos »nach Art einer Entscheidungsschlacht, in der Europa einem Feind gegenübertreten, siegen oder verlieren konnte.« Was diese wüsten Imaginationen mit dem »Friedensprojekt Europa« zu tun haben sollen, verriet der Expfarrer nicht. Eine vernünftige Ordnung kann sich Gauck offenbar nur im Ergebnis von Entscheidungsschlachten, von Verdrängungswettkämpfen vorstellen, in der Durchsetzung des sozialdarwinistischen Prinzips, aus dem er seine Vorstellung von Freiheit ableitet. Und damit wären wir auch schon beim gemeinsamen Wertekanon als Grundlage der europäischen Identität.

Pech nur für die Südeuropäer, daß sie auf der Basis gemeinsamer Werte zur Europäern zweiter Klasse geworden sind, daß ihnen Belastungsprogramme aufgezwungen werden, deren Werteorientierung auf den deutschen Sonderweg in Europa – die Begrenzung staatlicher Ausgaben auch und besonders in Krisenzeiten – zurückzuführen sind. Daß Gauck sich in seiner Rede zu einem europäischen Deutschland und nicht zu einem deutschen Europa bekannte, dürfte die Südeuropäer kaum beruhigt haben.

** Aus: junge Welt, Samstag, 23. Februar 2013 (Kommentar)


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