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Schwung holen mit ESM

Das "vereinte Europa" wandelt sich – vom bürgerlichen Parlamentarismus zur Kapitaldiktatur. Kommentar

Von Hannes Hofbauer *

EU-Europa steht vor dem Aus, der Euro macht den Anfang. Die Krise, deren platzende Blasen seit 2008 eine giftige Schleimspur durch Bankbilanzen und Staatshaushalte zieht, finalisiert sich ihrem Wesen gemäß brutal und schonungslos. Die neue Losung lautet: direkter Zugriff des Kapitals.

Die Nervosität in dem über Jahrzehnte gut eingespielten Dreieck von Kapitalmärkten, Regierungsämtern und Chefredaktionen wird immer greifbarer. »Das System muß gerettet werden«, tönt es unisono. Und mit dem System ist nicht mehr die »Europäische Union« oder gar die »Euro-Zone« gemeint, sondern schlicht der herrschende Gesellschaftsvertrag. Es geht um die sogenannten vier kapitalistischen Freiheiten, also der uneingeschränkte Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskraft. Das große Problem dabei: Die Krise delegitimiert diesen Vertrag in einem bisher nicht bekannten Ausmaß.

Die Instrumente der parlamentarischen Demokratie, die den bestehenden konstitutionellen Liberalismus zur Zufriedenheit der Akkumulateure mehrheitsfähig verwaltet haben, werden für selbige unbrauchbar. Zu langsam, zu kompliziert, zu abhängig von Urnengängen, zu national, zu sozial, zu politisch. Die große Krise bietet die Chance, diesen Ballast aus all den Bestandteilen des bürgerlichen Parlamentarismus abzuwerfen.

Der »Europäische Stabilitätsmechanismus« (ESM) eignet sich dafür hervorragend. Zur Verdeutlichung der Dimension: Am 2. Februar 2012 haben die 17 Euro-Staaten einen völkerrechtlichen Vertrag zur Gründung einer Finanzorganisation geschlossen, wonach sie mit einem Stammkapital von 700 Milliarden Euro für Haftungen von insgesamt 1500 Milliarden Euro geradestehen. Diese Summe kann zudem jederzeit – und nach oben unbegrenzt – erhöht werden.

Die Argumente für diesen euphemistisch Rettungsschirm genannten Umverteilmechanismus sind vielfach genannt und ausführlich diskutiert worden. Das frechste unter ihnen lautet, daß es sich um einen gigantisch angelegten finanzpolitischen Ausgleich zwischen Ländern mit hoher und niedriger Produktivität handeln würde; also eine Hilfsleistung für darbende Brüder und Schwestern im Süden – in Griechenland, Spanien, Portugal, Italien, Zypern – und im Westen – Irland – und demnächst in der Mitte – Slowenien – und wer weiß wo noch überall. Nach monatelanger medialer und politischer Indoktrinierung, diese »Hilfe« würde den entsprechenden in Not geratenen Ländern zuteil werden, damit diese die Austeritätsmaßnahmen der Maastricht-Kriterien meistern könnten, ist das auch den Gläubigsten unter den (EU-)Gläubigen nicht mehr vermittelbar. Längst ist klar geworden: Die »Rettungsschirme« bestehen aus subventionierten Krediten für marode Banken, aus Bürgschaften und/oder Ankäufen für bzw. von Staatsanleihen, die wiederum hauptsächlich an Banken emittiert worden sind und weiter emittiert werden.

Auch über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen mit ihren sozialen, regionalen und kulturellen Verwerfungen, die als Bedingung für Kreditvergaben gestellt werden, weiß der informierte Bürger Bescheid. Zu den diesbezüglichen Klassikern gehören die Erhöhung von Massensteuern, die Senkung von Löhnen, die Kündigung von Staatsdienern und so weiter. Über all das wurde viel geschrieben und machte sich laut Empörung breit.

Die politische Relevanz des ESM geht indes noch weit über die besprochenen Folgen hinaus. Seine Struktur deutet dies bereits an. Denn wieder einmal – und diesmal mit dem Zugriff auf grenzenlose finanzielle Mittel – ist es die Summe der nationalen Exekutiven, die an jeglicher gesetzgeberischen Körperschaft vorbei den ESM besetzt. Und zwar im Wortsinn. Sein höchstes Gremium, der Gouverneursrat, wird von den Finanzministern der Euro-Zone bestimmt, nationale Parlamente sind ebenso wie das EU-Parlament von dem Vorgang ausgeschlossen.

Gänzlich neu für EU-Europa ist jedoch die Struktur des »permanenten Rettungsschirms«. Eine Rechtsperson im bisherigen Verständnis ist er nicht. Der ESM hat die Form einer »Finanz­organisation« nach dem Vorbild des Internationalen Währungsfonds (IWF). Und hier offenbart sich auch der eigentliche Effekt, der über die Frage, wer nun wen mit wieviel Geld »retten« soll, hinausgeht. Denn im zukünftig finanzstärksten Organ der Europäischen Union, dem Gouverneursrat, sitzen sich die Finanzminister nicht mehr als Vertreter der Euro-Staaten gegenüber, sondern als Kapitalvertreter. Ihre Stimmen repräsentieren die unterschiedliche Kapitalkraft der in den Topf eingezahlten Summen. Die deutsche Stimme wiegt schwerer als die Summe von 13 kapitalschwächeren Ländern. Als einzige kann Berlin wichtige Abstimmungen blockieren, die eine qualifizierte Mehrheit von 80 Prozent benötigen. Mit dem ESM hat sich die Euro-Zone der Europäischen Union dem Diktat endgültig der Kapitallogik unterworfen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 17. Juli 2012


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