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2007 fällt die Entscheidung

Tritt die EU-Verfassung in Kraft, kommt das einer Neugründung der Europäischen Union gleich

Von Sylvia-Yvonne Kaufmann*

Nun ist es da, das erste europäische "Grundgesetz". Seine Geburtswehen drängen allerdings so manchen Vergleich mit der EM 2004 auf, zu der die Fußball-Fans nach Portugal pilgerten, um Nationalfahnen zu schwenken und ihre europäischen Nachbarn auszubuhen. Gewiss hatte auch die miserable Beteiligung an den Europawahlen den Brüsseler Verfassungsgipfel ein wenig zum Erfolg verdammt.

Die EU-Verfassung ist nicht mehr und nicht weniger als ein Kompromiss zwischen jenen, die sehr viel mehr Integration wollen, und den anderen, die sich genau davor fürchten. Den Nachweis, ob ein tragfähiger oder ein fauler Kompromiss zustande kam, wird das Leben bringen - zumal Europa damit noch lange keine in Kraft gesetzte Verfassung hat. Im Herbst wird ihre feierliche Unterzeichnung voraussichtlich in Rom erfolgen, wo 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet wurde. Dann beginnt der Ratifizierungsprozess durch Parlamentsentscheide oder Referenden, der etwa 24 Monate dauern kann und in einigen EU-Mitgliedstaaten auf mehr als nur Stolpersteine stoßen wird.

Geltendes Recht wird die Verfassung nur dann, wenn alle zustimmen. Was mit ihr passiert, wenn sie beispielsweise von den EU-skeptischen Briten oder Tschechen abgelehnt wird, ist derzeit völlig offen. Eine ausreichende Antwort darauf gibt das vorliegende Dokument nicht. Für viele Briten und Skandinavier wird die Union zu zentralistisch, während immer mehr Osteuropäer mutmaßen, dass die Kapital- und Konzern-beherrschte EU ihre sozialen Verhältnisse weiter belastet. Hinzu kommt die im Osten stark verbreitete Sorge, zuviel an Souveränität an die Kommission in Brüssel abgeben zu müssen. Davon profitieren bekanntlich Rechtspopulismus und Nationalismus, die am 13. Juni europaweit Aufwind erhielten.

Auf jeden Fall wird die Verfassung eine erweiterte Union regierbarer machen. Dafür könnte vor allem die neue Formel der "doppelten Mehrheit" sorgen, die sich aus 55 Prozent der Regierungen und 65 Prozent der EU-Bevölkerung zusammensetzen muss, wem es um Entscheidungen im EU-Ministerrat geht. Überdies vereinfacht die Verfassung die teilweise labyrinthartigen EU-Strukturen, stärkt die gesetzgeberischen Befugnisse des EU-Parlaments und verändert die Institutionen, wozu ein neuer hauptamtlicher Präsident des Europäischen Rates und der EU-Außenminister gehören. Der Zwang zur Einstimmigkeit wird die Ausnahme sein und nur noch bei Entschlüssen zur Steuerpolitik, der EU-Finanzplanung und partiell der Innen- und Justizpolitik in Betracht kommen.

Grundsätzlich gilt: Wer "vertiefter" zusammenarbeiten will, kann das tun. Das "Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten" dürfte dabei an Fahrt gewinnen, allerdings, und das ist entscheidend, innerhalb des gemeinsamen Verfassungsrahmens. Ob das mehr spaltet, als dass es vereint, ist offen.

In gewisser Weise wird die Verfassung, sollte sie 2007 tatsächlich in Kraft treten, eine Neugründung der EU bewirken und nicht die bloße Fortschreibung bisher geltender Verträge. Die EU des Binnenmarktes und der gemeinsamen Währung wird erstmalig nicht nur als "Union der Staaten", sondern nunmehr auch als "Union der Bürger" definiert. Darauf zielt nicht zuletzt die Charta der Grundrechte, die - fußend auf der Unantastbarkeit der Menschenwürde - mit klar definierten individuellen Rechten das Herzstück der Verfassung bildet. Die Charta ist das erste europäische Dokument, in dem ausgehend von der Unteilbarkeit der Grund- und Menschenrechte neben klassischen Freiheitsrechten gleichberechtigt auch soziale Rechte verankert sind, und - mit dem Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen - auch neueste wissenschaftliche Trends berücksichtigt wurden.

"Verfassung gleich Neugründung der Union" - diese Formel scheint auch deshalb angebracht, weil ein gemeinsamer Werte- und Zielkanon fixiert wurde, in dem man Begriffe wie "Demokratie", "Rechtsstaatlichkeit", "Gerechtigkeit", "Solidarität", "Nichtdiskriminierung" und "Frieden" findet. Doch klar ist auch: All die in der Verfassung genannten edlen Werte können erst dann ihre Wirkung entfalten, wenn ihnen die Politik gerecht wird. Und dies hängt bekanntlich von Kräfteverhältnissen ab, die deutlich nach links verschoben werden müssten, um ein demokratisches, soziales und friedliches Europa zu schaffen. Die Verfassung kann - dank ihrer inneren Widersprüchlichkeit - beides ermöglichen: Auf der einen Seite Manchester-Kapitalismus mit einer eindeutig neoliberal angelegten Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik sowie militärischer Machtprojektion nach außen, auf der anderen Seite Erhalt und Ausbau des europäischen Sozialmodells sowie eine Strategie der zivilen Konfliktbeilegung und die Stärkung des Völkerrechts.

Die geringe Beteiligung jüngst bei den Europawahlen sollte allen politischen Akteuren eine Warnung sein, denn die größte Gefahr für die EU und das Zusammenwachsen Europas besteht darin, dass die Union weiter an Akzeptanz bei ihren Bürgerinnen und Bürgern verliert. Eben deshalb muss endlich der Kampf um ein soziales Europa geführt, müssen die Menschen mit ihren sozialen Sorgen durch die Union respektiert werden. Eine EU als Mündel selbstgewisser politischer und Wirtschaftseliten wird scheitern, verhindert dies doch ein geeintes Europa der Bürger. Gerade deshalb ist eine Volksabstimmung über die Verfassung auch in Deutschland nötig.

* Abgeordnete der PDS im Europäischen Parlament.
Der vorliegende Beitrag wurde veröffentlicht im Freitag 27, 25.06.2004 sowie auf der Homepage der PDS-Fraktion: www.pds-europa.de



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