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Kleineuropa – ja, bitte!

Einen Plan B für den Fall des Scheiterns der Verfassung gibt es nicht

Von Jürgen Elsässer*

Ob energisches Pfeifen im Wald die Angst verscheucht? Günter Verheugen, einer der Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, möchte der Entscheidung der Franzosen über die EU-Verfassung nicht zu viel Gewicht beimessen. »Ich warne davor, jetzt Untergangsszenarien zu entwerfen«, sagte Verheugen Ende April. Er fügte hinzu, es sei »nicht das Ende der Welt, wenn ein Projekt nicht im ersten Anlauf bewältigt werden kann«. Die europäische Integration sei nie ein geradliniger Prozeß gewesen. Es habe immer Höhen und Tiefen gegeben, auch Stillstand. Indirekt wurde er kurz darauf von Anthony Blair dementiert. Wenn die Franzosen die Verfassung ablehnten, bräuchte das britische Referendum gar nicht mehr stattzufinden, weil es dann nichts mehr zu entscheiden gebe, äußerte der Premier.

Das Zähneklappern bei anderen ist lauter. So wäre ein Nein in Frankreich für den CDU-Europaabgeordneten Elmar Brok »nicht nur das Ende der Verfassung, sondern das Ende des politischen Projekts der europäischen Integration«. »Eine völlig unkalkulierbare Lage« für vielleicht ein Jahrzehnt sah ein Brüsseler Spitzenbeamter Ende April auf Befragen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) heraufziehen, es drohe »der größte anzunehmende Unfall«.

Fakt ist jedenfalls: Schon seit Monaten weisen die Meinungsumfragen jenseits des Rheins stabile Mehrheiten für die Nein-Sager aus, zuletzt hatte das Barometer 52 zu 48 Prozent gezeigt. Jetzt soll es deutsche Schützenhilfe retten: In einem gemeinsamen Auftritt warnten Kanzler Gerhard Schröder und der französische Staatspräsident Jacques Chirac, eine Ablehnung der EU-Verfassung würden die Tore für ein »ultraliberales Europa« öffnen. Ob Schröder, der diese Tore mit »Hartz IV« schon weiter aufgerissen hat als jeder andere Regierungschef zumindest in den Gründungsstaaten der EU/EG, ein glaubwürdiger Kronzeuge für diese Warnung ist?

Der weitere Fahrplan sieht die Ratifizierung der EU-Verfassung durch den Bundestag am 12. Mai und durch den Bundesrat am 26. Mai vor, kurz bevor in Frankreich am 29. Mai die Volksabstimmung stattfindet. Nur um die 20 CSU-Querdenker wie Peter Gauweiler dürften im Bundestag aus der Allparteien-Allianz Pro-Verfassung ausscheren, selbst bei den beiden PDS-Bundestagsdamen ist eine Ablehnung des Vertragswerks eher unwahrscheinlich. Ob das Marianne imponiert oder ihr eher als Beweis für die kollektive Trotteligkeit der Parlaments-Michel gilt? Jedenfalls ist das deutsche Votum schon dadurch wenig wert, daß der eigentliche Souverän, das Stimmvolk, außen vor bleibt, und weil die Bundesrepublik mit dem dramatischen wirtschaftlichen Niedergang ganz generell ihre Vorbildfunktion in Europa eingebüßt hat. Mit »Die spinnen eh, die Goten«, dürfte Asterix reagieren, wenn weiterhin bigotte Missionare frohe Botschaften über den Rhein bringen.

Kein Plan B

Verheugen beteuert, es gebe »keinen Plan B« für die Weiterentwicklung der EU nach einem Scheitern des französischen Referendums, weil das ohnedies – siehe oben – gar nicht so schlimm sei. Offensichtlich hat das Fehlen einer Exit-Option aber vor allem den Grund, daß zumindest zwei Varianten ausscheiden, mit denen sich bisher die EU-Granden über plebiszitäre Schlappen hinweggemogelt haben:

– Die Variante »Nachsitzen«: Als die Iren 2001 den Nizza-Vertrag zunächst ablehnten, mußten sie wenig später noch einmal antreten. »Bestehen in einem Land tiefreichende Vorbehalte, die – wie in Frankreich – noch dazu durch innerparteiliche Machtkämpfe angeheizt werden, dann werden wohlklingende Deklarationen aus Brüssel vermutlich nicht ausreichen, um einem zweiten Referendum zum Erfolg zu verhelfen«, analysierte Nikolas Busse in der FAZ.

– Die Variante »großzügige Ausnahme«: Den Dänen wurde ein Opting-Out bei der Übernahme des ungeliebten Euro ermöglicht, ohne daß sie aus dem EU-Zug aussteigen mußten. Das geht zumindest in den institutionellen Kernreformen der EU nicht: Die in der Verfassung neu dekretierte Stimmenverteilung im Ministerrat oder im Strasbourger Parlament kann ein Staat nur mittragen oder ablehnen. Ein simples Draußenbleiben aus den Institutionen ändert an deren Zusammensetzung und Funktionsweise gar nichts – außer daß der Draußenbleiber dann gar nichts mehr zu sagen hat.

Vor diesem Hintergrund empfiehlt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung – neben der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik der wichtigste Think Tank der Bundesregierung – andere »Optionen für einen Plan B im Falle des Scheiterns der Ratifikation des Verfassungsvertrages«.

Zum einen das Neuverhandeln der Verfassung. Wenn man dafür nicht erneut den Konvent einberuft, sondern eine relativ kleine Runde von Spitzenbeamten, wäre die zeitliche Verzögerung nicht allzu groß. Das unlösbare Problem ist allerdings: Kein Mensch weiß, was neu verhandelt werden soll, denn die Skepsis der Franzosen gilt nicht einzelnen Artikeln und noch nicht einmal der Verfassung an sich, sondern der ganzen Richtung des Europäisierungsprozesses.

Zum anderen das Weiterwursteln wie bisher auf der Grundlage der in Nizza im Jahre 2000 beschlossenen Verfahrensweisen in den Institutionen. »Die Konsequenz des Nein heißt Nizza«, hatte auch Bundesaußenminister Joseph Fischer EU-kritischen Zuhörern auf einer großen Veranstaltung in Rennes Mitte April entgegengehalten. Doch damit schreckt er seinesgleichen vermutlich mehr als die Bürger. Denn die Nizza-Prozeduren sind zwar genauso undurchschaubar und damit abzulehnen wie die neue Verfassung, darüber hinaus sind sie aber anfälliger für Veto-Blockaden aller Art. Das Nizza-Abstimmungsverfahren angesichts von bald 27 Mitgliedsländern beizubehalten, macht aus der Union einen kaum manövrierbaren Elefanten. Schnelle internationale (Militär-) Einsätze und damit der Durchbruch zur Weltmacht können so nicht gelingen – genau deswegen sollte es ein neues Regelwerk geben.

Das Projekt Kerneuropa

Vor diesem Hintergrund ist am wahrscheinlichsten, daß sich die Staaten, die die Verfassung ratifizieren, auch ohne Nein-Sager wie Frankreich zusammenschließen und dann in kleiner Runde etwa über Interventionen beschließen. Auch bisher gibt es schließlich innerhalb der EU gesonderte Zusammenschlüsse, denen nicht alle EU-Staaten beigetreten sind, etwa der Schengen-Kreis oder die Euro-Zone. Doch da die Verfassung nicht nur Teilbereiche wie das Asylrecht oder das Geldwesen betrifft, wäre eine Verfassungs-Union mehr als ein Koordinationsgremium auf politischen Einzelfeldern, sondern ein politischer Organismus mit umfassendem Gestaltungsanspruch, vulgo ein Staat oder zumindest eine Föderation. Diese Verfassungs-Union würde also die bisherige Europäische Union ersetzen und ihren Namen usurpieren, oder sie würde daneben aufgebaut werden, und die EU würde dann zu einer leeren Hülle verkommen wie die GUS. Im ersten Fall müßten die Nein-Staaten die EU verlassen (wofür es bisher übrigens kein völkerrechtliches Verfahren gibt), im zweiten (und deswegen wahrscheinlicheren) Fall würden die Ja-Staaten eine neue Union gründen. In beiden Fällen wäre die Rechtsgrundlage für den Anschluß der osteuropäischen Staaten (EU-Osterweiterung) entfallen. »Wenn die Verfassung scheitert, dann scheitert auch die Erweiterung«, fürchtet auch Martin Schulz, SPD-Frontmann im Europaparlament.

Auf den ersten Blick ähnelt die Überlegung zu einem Sonderbund der Avantgardestaaten dem ursprünglich im Herbst 1994 von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers für die CDU/CSU skizzierten Projekt Kerneuropa. Doch bei genauerer Betrachtung gibt es heute gravierende Differenzen zur damaligen Situation, weil – kurz gesagt – Deutschland dieses Kerneuropa nicht mehr dominieren könnte.

Bis zum Jahre 2002 fußte die bundesdeutsche Hegemonial-Politik in Europa auf zwei Konstanten: Zum einen sollte das französische Gewicht durch die Aufnahme osteuropäischer Staaten geschmälert werden, die als Agrarländer direkt mit den französischen Produkten konkurriert hätten. Zum anderen sollte um das Zentrum Deutschland eine mitteleuropäische Kernzone entstehen. Diese sollte nicht unbedingt aus Staaten, sondern vor allem aus Wirtschaftszonen gebildet werden – also etwa ohne Gesamtitalien, aber inklusive der reichen Lombardei. Die Rede war von einem föderalen Europa, einem Europa der Regionen, im Unterschied zum französischen Ideal eines Europa der Vaterländer. Regionalistische Tendenzen hätten in dem Maße stärker werden können, wie die Zentralstaaten mittels des vom damaligen Finanzminister Theo Waigel durchgepeitschten Stabilitätspaktes zu einer restriktiven Haushaltspolitik – und damit zum Verzicht auf Strukturmaßnahmen zur Stabilisierung ihres nationalen Zusammenhalts – genötigt worden wären. Noch im Jahr 2001 hatte Schröder für eine Kürzung europäischer Kohäsionsfonds plädiert, was in allen romanischen Ländern als Kriegserklärung gesehen wurde, weil es die Agrarregionen von Brüsseler Zahlungen abgeschnitten und den Staatszerfall begünstigt hätte.

Doch im Jahr 2003 hat sich gezeigt, daß die deutschen Pläne nicht durchsetzbar sind. Zum einen war Berlin in der Irak-Krise auf den Schulterschluß mit Paris angewiesen, während die meisten deutschen Zöglinge in Osteuropa sich urplötzlich als treue Vasallen Washingtons entpuppten. Zum anderen war Deutschland aufgrund seiner schlechten Wirtschaftsdaten gezwungen, zusammen mit Frankreich den Stabilitätspakt auszusetzen, mit dem es ursprünglich den Rest des Kontinents nach seinem monetaristischen Bilde hatte formen und fragmentieren wollen. Selbst bei der Ausarbeitung des EU-Verfassungsentwurfs haben Schröders Unterhändler dem Wunsch der Franzosen nach einer Bewahrung nationalstaatlicher Kompetenzen mehr Rechnung getragen als in den Jahren zuvor.

Die bisher größte Chance zur Schaffung eines Kerneuropa ließ Berlin vor eineinhalb Jahren verstreichen. Als zu Jahresende 2003 eine schwere EU-Krise drohte, weil Polen und Spanien den damaligen Verfassungsentwurf auf einem Gipfeltreffen ablehnten, schlugen Politiker wie der ehemalige Mitterand-Berater Jacques Attali schon damals vor, daß sich die Ja-Staaten ohne die Nein-Sager zusammenschließen sollten. Chirac war offen dafür, Kanzler Schröder sprach immerhin von der »zweitbesten Idee«, die Bertelsmann-Stiftung von einer »realen Gestaltungsoption«. Die Argumente der Gegner skizzierte paradoxerweise Wolfgang Schäuble, einer der Väter des ursprünglichen Kerneuropa-Konzepts: »Unsere Idee von 1994 sollte ein dringend notwendiges Element der Dynamik schaffen. Wir brauchen die Führung derjenigen, die in der Bereitschaft zur Integration schon ein Stück weiter sind. Aber unser Kerneuropa war nicht gedacht als Instrument zur Spaltung, sondern als Element, um die Einigung voranzubringen. Deswegen galt eines absolut: Jeder, der bereit war mitzumachen, war eingeladen. Als Drohung darf es schon gar nicht verwandt werden. Deswegen war es (von Schröder, J.E.) falsch, mit einem Kerneuropa zu drohen.« Aus der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik war zu hören: »Wir repräsentieren traditionell eine Brücke nach Osteuropa und zu den Vereinigten Staaten. Aber die Dynamik, die uns die deutsch-französische Annäherung heute aufzwingt, erschwert uns diese Rolle, und das ist weder gut für uns noch für Europa. Die deutsch-französische Union, wie sie in Paris unterstützt wird, ist vielleicht ein positiver und anregender Mythos, aber niemand weiß, was das konkret bedeuten soll.«

Diese Position hatte sich im Frühjahr 2004 durchgesetzt. Deutlichstes Indiz war die Warnung Fischers vor einem separaten Zusammenschluß, den er nun abfällig nicht mehr als Kern-, sondern als »Kleineuropa« bezeichnete. Von da an wurde wieder an einer Verfassung für alle Mitgliedsländer gearbeitet.

Keine Angst vor Paris–Berlin

Wenn die deutschen Eliten schon Ende 2003 mehrheitlich keinen Geschmack (mehr) an Kerneuropa finden konnten, dürften sie jetzt noch mehr Bauchschmerzen haben. Denn die aktuelle Konstellation ist für das deutsche Kapital in jedem Fall noch unvorteilhafter geworden, weil im Falle eines französischen Nein Berlin und Paris auseinandergerissen wären, der Kern von Kerneuropa hätte sich gespalten. Würden sich nach dem 29. Mai Ja- und Nein-Sager eigene Institutionen schaffen, wäre Deutschland in der Verfassungs-Union, Frankreich in der Rest-EU. Mehr noch: Da das französische Vorbild bei den neun weiteren Abstimmungen zumindest in Großbritannien, Tschechien und Dänemark Schule machen dürfte, würde Deutschland noch mehr Partner verlieren, die für einen eigenen Kern notwendig wären.

Diese Aussicht wäre so schmerzlich, daß Chirac und Schröder nach einem Sieg des Nein am 29. Mai tabula rasa machen und doch ein Kerneuropa nach ihrem Geschmack zurechtschneidern könnten, etwa aus den EG-Gründungsstaaten. Dann gäbe es vermutlich ein großes Geschrei, auch von links, über das undemokratische Vorgehen. Dabei wäre ein solches Vorpreschen des Männerduos nur die Ratifizierung der EU-Abdankungsurkunde, die zuvor urdemokratisch aufgesetzt worden ist.

In jedem Fall wäre eine EU-Spaltung höchst begrüßenswert, welche Form auch immer das dann entstehende Kern- oder Kleineuropa hätte. Die idiotische Aufblähung der früher vergleichsweise vernünftigen Europäischen Gemeinschaft zu einem Imperium mit unklaren Außengrenzen wäre gestoppt, und die für alle Beteiligten (außer die gefräßigen Westkonzerne) desaströse Osterweiterung der EU würde zusammenbrechen. Damit wäre die Union auch die trojanischen Pferde der US-Außenpolitik (Polen, Baltikum etc.) endlich wieder los. Und die Türkei bliebe – zu ihrem Vorteil und zu dem der meisten Europäer –, wo und was sie ist.

Die neue Union mit vielleicht sechs, acht oder zwölf Mitgliedsstaaten stünde unter verbesserter Kontrolle durch die Bevölkerung. Dieses Mehr an Demokratie ergäbe sich nicht notwendig aus den institutionellen Regelungen innerhalb des neuen Bundes, die man ja schlecht prognostizieren kann, sondern aus der Macht des Faktischen: Wenn die Bürger per Plebiszit einmal einen solchen Kurswechsel erzwungen haben, wird man sie nicht mehr so schnell entmündigen können. Das Ende des parlamentarischen Absolutismus, die Ergänzung der repräsentativen durch die direkte Demokratie wäre nicht mehr zu stoppen. Selbst die schwerblütigen Deutschen könnten sich in Bewegung setzen. Die Stunde der deutschen Emanzipation, schrieb schon Karl Marx im »Vorwort zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, werde dereinst »durch das Schmettern des gallischen Hahns« verkündet.

In diesem Sinne ist den französischen Jakobinern und Citoyen alles Gute für die heiße Phase ihrer Kampagne zu wünschen. Darf man schon singen: «Allons enfants de la patrie, le jour de gloire est arrivé«? Vielleicht belassen wir es einstweilen bei einem »Allez les bleus!«, dem Kampfruf der Fußballfans.

* Von Jürgen Elsässer ist im Frühjahr 2005 das Buch "Wie der Dschihad nach Europa kam. Gotteskrieger und Geheimdienste auf dem Balkan" (NP-Buchverlag) erschienen. (Hier geht es zu einer Leseprobe.)

Aus: junge Welt, 3. Mai 2005



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