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Die schleichende Machtübernahme

Brüssel fordert immer mehr Kompetenzen ein – auch durch die Hintertür

Von Kay Wagner, Brüssel *

Der Widerspruch war absehbar: Anfang der Woche (9. Aug.) forderte EU-Haushaltskommissar Janusz Lewandowski die Einführung einer europäischen Luftverkehrsabgabe und von Finanztransaktionssteuern, die ebenso wie die Einnahmen aus der geplanten Versteigerung von CO2-Emissionsrechten unmittelbar nach Brüssel fließen sollen. Eine direkte EU-Steuer aber lehnen die meisten Mitgliedstaaten bisher ab. Auch dem jüngsten Vorstoß aus der Kommission dürfte wenig Erfolg beschieden sein. Er illustriert aber den Versuch Brüssels, immer mehr Kompetenzen an sich zu reißen.

Wer noch glaubt, bei der EU gehe es um das Wohl der Menschen, um Frieden und Verständigung der Völker auf dem Kontinent – Gedanken, die zur Gründung der Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg führten und die die EU-Oberen bei Selbstbeweihräucherungen gern auftischen – der muss es sich gefallen lassen, als naiv zu gelten. Längst weht ein anderer Geist durch die Institutionen in Brüssel, Luxemburg und Straßburg. Nicht nur Geld und Geschäfte lenken viele Entscheidungen. Auch zum Schlachtfeld der Machtpolitik ist die EU geworden. Es geht um Posten, Einfluss und Egoismen.

Fast unbemerkt geht vor sich, was man mit schleichender Machtübernahme der EU bezeichnen kann. Statt zu diskutieren, schafft die EU Fakten. In immer mehr Bereiche des gesellschaftlich-politischen Lebens versucht sie vorzudringen und Kompetenzen zu erobern, die ihr vertraglich eigentlich nicht zustehen – siehe als jüngstes Beispiel die Steuerpolitik.

An vorderster Front agiert dabei die EU-Kommission, deren Mitarbeiter, zumeist Beamte, für das Erfüllen von Aufträgen üppig vom europäischen Steuerzahler entlohnt werden. Ihr derzeitiger Chef, der Portugiese José Manuel Barroso, hat sich längst zum Politikgestalter der Union aufgeschwungen, der versucht, seinen Einflussbereich auszudehnen. Als er zum Beispiel das neue Zehnjahresprogramm der EU im Frühjahr vorstellte, die sogenannte Strategie Europa 2020, hatte er darin auch formulieren lassen, welche konkreten Bildungs- und Armutsziele die EU-Mitgliedsländer erreichen sollen. Aber: So wichtig diese Bereiche und entsprechende Zielvorgaben auch sind – Bildungs- und Sozialpolitik fallen laut geltender Verträge gar nicht in die Zuständigkeit der Kommission, sie sind Aufgaben jedes einzelnen Mitgliedsstaats. Barroso weiß das sehr wohl, versuchte aber trotzdem, hier etwas vorzugeben. Zwar scheiterte er diesmal, weil die Staats- und Regierungschefs die Kommission in die Schranken wies. Doch Barroso wird es wieder versuchen. Zumal andere Beispiele zeigen, dass sich im Machtpoker um EU-Zuständigkeiten langer Atem durchaus lohnt. Als die Kommission bereits Jahre vor Barroso die Idee einer Europäischen Wirtschaftsregierung formulierte, war der Protest der Mitgliedsstaaten noch groß. Heute scheint es beschlossene Sache, dass eine gemeinsame EU-Wirtschaftspolitik lebensnotwendig für Europa sei. Und wer soll sich darum kümmern? Die Kommission.

Bei fast jedem neuen Vorschlag der Behörde startet sie Versuche, mehr Macht an sich zu reißen. Als Anfang Juli EU-Arbeitskommissar Laszlo Andor – nach Absprache mit Barroso – seine Vorschläge zum Renteneintrittsalter mit erst 70 Jahren vortrug, da wussten alle: Auch hier hat die EU keine Kompetenz. »Das sind ja nur Anregungen«, beeilte sich Andor zu beruhigen. Doch die Duftmarke war gesetzt, untermauert natürlich mit seitenlangen Begründungen, zahlreichen Statistiken und Erhebungen. Zwar wird es kaum zu belegen sein, dass die zur Wochenmitte in Deutschland eröffnete neue Diskussion zur Rente mit 70 auf den Brüsseler Vorstoß zurück geht, bemerkenswert ist die zeitliche Nähe allerdings schon.

Ähnliche Bestrebungen wie in der Kommission gibt es beim EU-Parlament, allerdings auch gegenläufige. Die demokratische Tradition dieser Einrichtung bringt es mit sich, dass hier viele Stimmen zu hören sind. Immer wieder gibt es Europa-Abgeordnete, die vor der schleichenden Kompetenzsteigerung der EU zu Lasten der Mitgliedsländer warnen. Als die EU-Kommission jüngst vorschlug, europäische Fördergelder zum Straßenbau nur dann zu genehmigen, wenn die Pläne den Beamten in Brüssel gefallen, hatte der CSU-Europaparlamentarier Markus Ferber genug: »Straßenbau muss Sache der EU-Mitgliedstaaten bleiben!«, schrieb er in seiner Presseerklärung. »Über den Straßenbau in Deutschland kann nur vor Ort entschieden werden.«

Viele nationale Politiker, vor allem die entscheidenden Staats- und Regierungschefs, sehen die Entwicklung anders. Erst jüngst haben sie ohne Vorbehalte den Aufbau eines »EU-Außenministeriums« befürwortet. Ob sie sich überlegt haben, dass dieser Dienst mittelfristig zur Konkurrenz der nationalen diplomatischen Dienste und Botschaften in der Welt werden wird? Die Schaffung eines ständigen EU-Ratspräsidenten haben sie ebenfalls befürwortet, gleichzeitig bleibt das System der halbjährlich wechselnden EU-Ratspräsidentschaften der Mitgliedsländer erhalten. Somit gibt es immer zwei Ratspräsidenten: den ständigen, für zwei Jahre gewählten, und den alle sechs Monate wechselnden. Wer hier Macht gewonnen und wer eingebüßt hat, ist eine Milchmädchenrechnung.

* Aus: Neues Deutschland, 13. August 2010


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