Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

EU-Osterweiterung und Kampf um Einflußzonen

Die osteuropäischen Länder: eine "proamerikanische kritische Masse in der EU"

Von Anton Latzo*

Die Osterweiterung der EU ist nicht nur eine einfache Ausweitung der Europäischen Union in territorialer, ökonomischer und politischer Hinsicht, sie hat mehrere Funktionen. Sie soll Erreichtes sichern, nicht nur die ökonomischen und politischen Vorteile der Integration, sondern auch die im Zuge des gesellschaftlichen Rollbacks errichteten kapitalistischen Verhältnisse in den ehemals sozialistischen Staaten und die neuen strategischen Positionen der EU im imperialistischen Konkurrenzkampf mit den USA und Japan. Zugleich aber ist die EU-Osterweiterung auch ein Prozeß der Differenzierung zwischen den auf Europa, Osteuropa, auf Rußland, die Region um das Schwarze Meer und auf den Balkan bezogenen Interessen der USA einerseits und denen des westeuropäischen Kapitals und der europäischen Großmächte andererseits.

Die EU will Weltmacht werden. Der französische Präsident Jacques Chirac formulierte schon 1999: »Die Europäische Union muß zum wichtigen Pol eines internationalen Gleichgewichts werden und die Instrumente echter Macht annehmen.« Und der USA-treue Tony Blair erklärte im Oktober 2000: »Europas Bürger brauchen ein starkes und vereintes Europa. Sie brauchen es als eine Macht in der Welt.« Die Erweiterung nach Osteuropa ist ein Bestandteil dieser Konzeption und Politik. Sie ist ein Element im Prozeß der Schaffung eines neuen Kräfteverhältnisses zwischen der Europäischen Union und den anderen Machtzentren zugunsten der EU. Und sie erzeugt neue Konfliktfelder. Osteuropa wird zum Objekt der Konkurrenz der Großmächte im Kampf um Einflußzonen und deren Neuaufteilung. Auf das Verhältnis EU-USA bezogen bedeutet das, daß die EU für die USA nicht nur eine aufsteigende Macht, sondern auch eine nach Vorherrschaft über Europa und darüber hinaus greifende Gefahr wird.

Daraus erwächst ein zusätzlicher Impuls für ein gestiegenes Interesse der USA an Osteuropa. Die USA versuchen, diese Staaten auf ihre Seite zu ziehen. Aus einem Solidaritätsverhältnis zwischen den USA und den EU-Staaten beim Rollback des Sozialismus in Osteuropa wird ein Konkurrenzverhältnis im Kampf um den Einfluß in dieser Region. Anfang Oktober 2003 brachte Catherine Lalumiere, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, in einer Rede vor dem rumänischen Parlament die Besorgnis zum Ausdruck, daß die künftigen Mitglieder sich in der EU als »ein Trojanisches Pferd der USA« erweisen könnten. Als Beispiel nannte sie die Unterstützung, die osteuropäische Staaten (entgegen der EU-Haltung) für die USA-Position zum Internationalen Strafgerichtshof und zur Nichtauslieferung von USA-Bürgern an diesen bekundet haben. Sie führte auch die Irak-Erklärung der Vilnius-Gruppe an und fragte: »Sind diese neuen Mitglieder der EU nicht vielleicht an dem Punkt, wo sie den USA Priorität einräumen (...) und so zu Verwerfungen und zur Schwächung der EU beitragen?«

Die Geschäftsgrundlage zwischen EU-Europa und der US-amerikanischen Hegemonialmacht, die 50 Jahre gehalten hat, wird also schwächer. Die Wiederkehr einer Welt mit verschiedenen Machtzentren könnte zwar das Diktat durch eine Hegemonialmacht einschränken. Die Welt wird davon aber nicht sicherer. Frieden wird nicht unbedingt herbeigeführt. Die Wiederkehr verschiedener Machtzentren in einer kapitalistischen Welt läßt unvermeidlich neue Konfliktlinien zwischen den konkurrierenden Polen entstehen.

Ein US-Analytiker beschreibt die gegenwärtige Situation so: »Die einheitliche westliche Welt entstand mit Beginn des Kalten Krieges. Da jetzt der Westen auseinanderfällt, könnte ihn das gleiche Schicksal ereilen wie einst das Römische Reich. Was zwischen Washington und Brüssel geschieht, unterscheidet sich in einer entscheidenden Hinsicht von dem Zerwürfnis zwischen Rom und Konstantinopel: Die heutige Teilung des Westens war nicht geplant. Der Preis und das Potential für böses Blut ist um so höher.« (Charles Kupchan: Die europäische Herausforderung. Vom Ende der Vorherrschaft Amerikas. Rowohlt, Berlin 2003, S.128)

Offensichtlich geht man in den USA davon aus, daß jene Länder Osteuropas, »die während des Krieges gegen den Irak auf der Seite Washingtons standen, (...) wahrscheinlich in Zukunft keine andere Wahl haben (werden), als ihren Kurs zu ändern« (a.a.O. S. 9) und dem Ruf der EU zu folgen.

USA – mittendrin am Ball

Um so mehr versuchen die USA, ihre Verankerungen in Osteuropa, an der Peripherie des EU-Kerns und zwischen diesem und Rußland so fest zu gestalten, daß sie möglichst nicht wieder zu lösen sind. Sie verfolgen u. a. folgende langfristige Ziele in dieser Region:
  1. Die USA wollen die Situation an der westlichen und südlichen Grenze Rußlands (vom Baltikum bis zum Kaspischen Meer) aus unmittelbarer Nähe und lückenlos kontrollieren, was sie in der bisherigen Geschichte noch nie konnten.
  2. Sie wollen Hegemonialmacht bleiben und die geostrategische Position Ost-und Südosteuropas in ihrem Sinn und Interesse ausnutzen. Aus der Mitte Europas wollen sie Einfluß auf die EU-Außenpolitik und auf die Außenpolitik der EU-Großmächte ausüben und deren Aktivitäten in und über diese Region nach Möglichkeit kontrollieren. Damit geraten sie mit den Zielen der EU unmittelbar in Konflikt.
  3. Die USA wollen sich die Möglichkeit erhalten, besonders die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland zu kontrollieren und zu beeinflussen.
  4. Von besonderer Bedeutung für die globale Strategie der USA ist, daß sie sich durch ihre politische, militärische und ökonomische Anwesenheit in der Region (besonders in Südosteuropa) günstige Ausgangs- und Etappenstützpunkte beim gewollten Vordringen in die Region des Ural und des Kaspischen Meeres sowie in den Nahen und Mittleren Osten schaffen, die sie von der Unterstützung der Großmächte der EU unabhängig machen.
Ein beträchtlicher Teil des Konfliktpotentials ergibt sich daraus, daß die diesbezüglichen hauptsächlichen Ziele und Absichten beider Seiten ziemlich deckungsgleich sind und ihre Realisierung den jeweils anderen ausschließt. Offensichtlich sind die US-amerikanische und die westeuropäische Sicherheit nicht mehr unteilbar. Der vielbeschworene Geist des Atlantischen Bündnisses hat beträchtlichen Schaden genommen.

Dieses Vorgehen schuf und schafft Spannungen nicht nur im Verhältnis EU und USA, sondern auch im Verhältnis der EU und der sie prägenden Mächte zu den osteuropäischen Staaten, zu den künftigen Mitgliedern der EU. Letztere sehen in den USA den Gegenpol zu Europas Großmächten und die »Schutzmacht« in der Region. Das veranlaßt die Großmächte der EU, Druck auf die kleineren und abhängigen Staaten Osteuropas auszuüben, um ihre »Willensbildung« zu fördern.

Polens Störpotential

Die Osterweiterung der EU wird von den osteuropäischen Staaten als eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung für ihre ökonomische Entwicklung und für die Realisierung ihrer politischen Interessen gesehen. Das dürfte zunehmend auch ihr Verhalten in der EU prägen. Sie befürchten »zentralistische Tendenzen aus Brüssel«, denen gegenüber man »immer größeren Druck« entwickeln müsse. Der Weg bestehe in »verschiedenen Partenariaten« der osteuropäischen Staaten mit mächtigeren Staaten der Union, die ihre Stimme in den Entscheidungsgremien der EU mit Erfolg erheben können. Mit der Annahme der EU-Verfassung dürfte sich diese Tendenz noch verstärken.

Die osteuropäischen Staaten orientieren sich in ihrer praktischen Außenpolitik weniger an einer europäischen außenpolitischen Doktrin oder ähnlichem, sondern vielmehr am konkreten außenpolitischen Agieren der Großmächte und versuchen, ihre Interessen gewinnbringend einzuordnen. Sie lassen sich zunehmend davon leiten, wie jedes Land seine Absichten unter Nutzung eines Bündnisses mit einer oder mehreren Großmächten und unter Ausnutzung eventueller Widersprüche zwischen diesen am besten durchsetzen kann. In gewisser Weise kehren sie zu einer Tradition ihrer Außenpolitik zurück, zu der sie seit dem 19. Jahrhundert als Objekt der internationalen Beziehungen gezwungen waren. Mit Sicherheit läßt sich sagen, daß dies nicht zu mehr politischer Stabilität in Europa und in den zwischenstaatlichen Beziehungen führt.

Selbst der slowenische Präsident hat kürzlich dazu aufgefordert, darüber zu diskutieren, wie die Außenpolitik eines so kleinen Landes nach den Beitritten zur NATO und zur EU gegenüber den Großmächten – besonders gegenüber den USA und Europa – aussehen müßte. Eindeutiger wurde der polnische Staatspräsident, Alexander Kwasniewski, als er erklärte: »Das Verhältnis zu den USA bleibt eines der Fundamente der Sicherheit der europäischen Staaten«. In der gleichen Rede vor dem rumänischen Parlament sagte er Anfang Oktober 2003: »Der Standpunkt der Vereinigten Staaten zur Errichtung der Sicherheit zusammen mit Polen und Rumänien ist grundlegend, und die Verbindungen Europa–USA müssen korrigiert und entwickelt werden.« Er forderte Rumänien auf, die »proatlantischen Hoffnungen der Ukraine zu unterstützen, damit diese schnell Mitglied des Bündnisses werden kann«. Polen vertrete den Standpunkt, daß ein neues Sicherheitskonzept ohne Implikation der USA sich als nicht lebensfähig erweisen würde. Die Kritik an der aktuellen Politik der EU in dieser Frage ist nicht zu überhören. Nur eine Woche später, während seines Besuches in der Republik Moldowa, wies Kwasniewski vor dem Parlament in Chisinau darauf hin, daß sein Land für die Konstituierung »der östlichen Dimension« im Rahmen der EU eintreten wird. Mit der Darstellung dieser Tendenzen soll keiner eventuellen Hoffnung auf Schwächung oder gar Zusammenbrechen der EU Nahrung gegeben, sondern einzig auf die gravierenden Unterschiede zwischen der Haltung des bevölkerungsreichsten Beitrittslandes und dem Konzept der EU hingewiesen werden. Polens Störpotential in der EU ist nur schwer zu übersehen.

Bei Ungarn kann man eine unentschlossenere Haltung feststellen. Nachdem ursprünglich die USA-Positionen fast bedingungslos unterstützt wurden, versucht das Land neuerdings, sich diskret aus der Anti-Irak-Koalition zurückzuziehen. Die Ausbildung irakischer Freiwilliger durch die USA, für die ein Ausbildungslager in Ungarn vorgesehen war, wurde in Übereinstimmung mit den USA eingestellt. (Wahrscheinlich auch mangels Masse. Denn das Lager war für 3 000 Iraker vorgesehen, es kamen aber nur 82.) Die Flüge der USA wurden ebenfalls eingeschränkt, nachdem bekannt wurde, daß die für Afghanistan ausgewiesenen Flüge nur bis Rumänien (Constanta) gingen, wo Vorbereitungen für den Angriff auf den Irak getroffen wurden. Jedenfalls sind Unsicherheiten und Schwankungen in der ungarischen Position festzustellen, die zwischen USA-Position und EU hin und her pendelt. Offensichtlich befürchtet Ungarn, bei der Austragung der Widersprüche zwischen den Mächten aufgerieben zu werden. Der ungarische Ministerpräsident erklärte beim Konvent für eine europäische Verfassung: »Wir wollen ein Europa, das sich im wesentlichen nicht in kleinen Gruppen entwickelt.«

Ein Schwerpunkt des US-amerikanischen Vorgehens in dieser Region scheint sich auf den Raum des Schwarzen Meeres zu verlagern, wo Rumänien und Bulgarien als Ansprechpartner bevorzugt werden. Diese Kontakte haben sich besonders im letzten Jahr entwickelt. Das gewachsene Interesse der USA läßt sich auch damit erklären, daß sie sich von der rumänischen und bulgarischen Küste über das Schwarze Meer direkten Zugang bis tief in den asiatischen Raum, in das Gebiet des Nahen und Mittleren Ostens und nicht zuletzt bis auf russisches Territorium und auf das Territorium ehemaliger Sowjetrepubliken im Süden Rußlands versprechen.

Brücke nach Rußland

Es schließt sich damit der Ring von den baltischen Republiken über Mitteleuropa bis hinüber zum Kaukasus und nach Baku. Ein Traum, den die USA und andere Großmächte schon länger träumen, der aber erstmalig in dieser Lückenlosigkeit in Erfüllung gehen könnte. Probleme entstehen dann, wenn jede Macht versuchen sollte, ihren Traum allein zu realisieren, unter Ausschluß der anderen.

Von hier können die USA den Ausgang des Schwarzen Meeres und alle Durchfahrten durch die Dardanellen kontrollieren, was ja schon öfter in der Geschichte eine Rolle spielte. Sie könnten z.B. alle Aktivitäten Rußlands, die in das Mittelmeer und deren Anrainerstaaten führen, ständig im Visier haben. Sie haben aber auch Kontrollmöglichkeiten über alle Aktivitäten der EU und ihrer Großmächte, die über die Strecke der ehemaligen »Bagdad-Bahn« führen. Alle wichtigen Transport- und Kommunikationswege von West-, Nord- und Mitteleuropa in den geostrategisch wichtigen Raum Vorderasiens und des Mittleren Ostens und von dort zurück nach Europa kreuzen diese Region, einschließlich der künftigen Ölpipelines nach Südeuropa und darüber hinaus.

Hier liegt auch der wirkliche Grund für die kürzlich angekündigte Absicht zur Stationierung von amerikanischen Patriot-Raketen am Schwarzen Meer in Rumänien und Bulgarien. Offensichtlich waren damit in Zusammenhang stehende Fragen auch Gegenstand der Gespräche während des Besuches des rumänischen Staatspräsidenten in den USA, der Ende Oktober 2003 stattfand. Ion Iliescu erklärte dabei, daß Rumänien bereit sei, den USA militärische logistische Unterstützung zu gewähren. Bulgarien hatte die Bereitschaft zur Stationierung schon zwei Wochen früher erklärt.

Beide Staaten haben den USA schon vor und während der Aggression gegen den Irak Militärstützpunkte am Schwarzen Meer zur Verfügung gestellt. Bezeichnend ist, daß die mögliche Stationierung von Patriot-Raketen nicht im Rahmen der NATO und auch nicht in Abstimmung mit der EU erfolgen soll. Sie soll auf der Grundlage direkter, bilateraler Verhandlungen und Verträge zwischen den USA und Rumänien bzw. USA und Bulgarien realisiert werden. Die USA wollen im Gegenzug diesen Staaten bilaterale Wirtschaftshilfe gewähren.

Abgesehen von den militär-politischen Implikationen widerspiegelt diese Situation auch die Schärfe der Konkurrenz zwischen USA und EU bzw. EU-Großmächten, bei deren Austragung die möglichen Erweiterungsstaaten wiederum Objekt sind. Offensichtlich besteht die Absicht der USA nicht darin, diese Staaten am Beitritt zur EU zu hindern oder dergleichen. Sie wollen den Beziehungen zu diesen Staaten aber einen besonderen Charakter verleihen. Dabei knüpfen sie an die in der Öffentlichkeit in Rumänien und Bulgarien vertretene Meinung an, die USA seien auf politisch-strategischem und militärischem Gebiet genauso wichtig wie die EU auf politischem und ökonomischem Gebiet. Der rumänische Außenminister gab sogar zu verstehen, daß die Rolle der »neuen« Staaten darin bestehe, die proamerikanische kritische Masse in der EU zu sein.

Die Absicht der USA, bei der Behandlung dieser Staaten einen besonderen Status herauszustellen, wurde schon während des Bukarest-Besuches des US-amerikanischen Präsidenten vor einem Jahr deutlich. Damals sagte George W. Bush, Rumänien könne als Brücke zu Rußland dienen. Noch kurz vor dem Besuch hatte er sogar formuliert: Rumänien werde die »Speerspitze des nach Osten erweiterten Europas sein«. Der russische Außenminister erwiderte sogleich: »Es ist nicht die Zeit für Brücken.« Zu weiteren Schritten der USA in dieser Richtung gehörte, daß sie z.B. für Rumänien lange vor der EU den Status einer funktionierenden Marktwirtschaft anerkannt haben. Das war für Rumänien u. a. deshalb sehr wichtig, weil es ein besonders wohlwollendes Umgehen des IWF mit Rumänien gefördert hat.

Die Osterweiterung der EU ist Ausdruck der Expansion des westeuropäischen Kapitals und der Ausdehnung der politischen Einflußzone der EU-Großmächte Richtung Osten. Dies impliziert, daß auch die Widersprüche, die zwischen ihnen und zwischen diesen und den USA bestehen, in dieser Region ausgetragen werden. Die ehemals sozialistischen Staaten werden zum Objekt der Politik dieser Mächte und zum Spielball in ihrem Kampf um Einflußzonen.

* Gekürzte Fassung eines Vortrages, den der Autor bei einem am 25. und 26. Oktober stattgefundenen Kolloquium der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal hielt. Der Beitrag erschien am 1. Dezember in der Zeitung "junge Welt".


Zu weiteren Beiträgen über Europa

Zurück zur Homepage