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Zwiespältige Botschaft für Osteuropa

Wiener Institut: Die Wirtschaft wächst, doch die politische Stabilität sinkt

Von Hannes Hofbauer, Wien

Am Donnerstag lud das renommierte »Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche« (WIIW) zur jährlichen Analyse der Entwicklung in Osteuropa. Das Resumee: fortgesetztes ökonomisches Wachstum bei sinkender politischer Stabilität. Die Experten bezweifeln, dass die neuen EU-Mitgliedsländer in der Lage sein werden, die ab 2007 erheblich besser dotierten EU-Fonds auszuschöpfen.

Als vorweihnachtliche Frohbotschaft verkündete WIIW-Direktor Peter Havlik gestern, dass es sowohl den acht neuen osteuropäischen EU-Staaten als auch den zukünftigen Mitgliedern Rumänien und Bulgarien gelungen sei, ihr Wirtschaftswachstum weit über dem Niveau der »Alt-Mitglieder« zu stabilisieren. Für 2006 wird ihnen ein BIP-Wachstum von durchschnittlich 5,6 Prozent prognostiziert. Einzig Ungarn liegt nach dem ökonomischen Offenbarungseid von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany mit vier Prozent merklich darunter, während die baltischen Staaten und die Slowakei die Spitzenplätze einnehmen. Zum Vergleich: die 15 Staaten der »Alt-EU« werden im Jahr 2006 mit einem durchschnittlichen Wachstum von 2,6 Prozent auskommen müssen.

Allzu euphorisch dürfen die relativ hohen Wachstumszahlen Osteuropas allerdings nicht gelesen werden. Denn zum einen spiegelt die positive Performance jenen Nachholprozess wider, der gleichzeitig soziale und regionale Verwerfungen mit sich gebracht hat; und zum anderen werden diese Wachstumszahlen mit einer Exportwirtschaft erzielt, deren Erlös zum größten Teil westeuropäischen Konzernen zufließt. Dieser Befund ist unschwer in der Statistik zur Leistungsbilanz nachzulesen. Kein einziges osteuropäisches Land – außer Russland und die Ukraine – kann hier positive Zahlen aufweisen. Gewinnrückführungen der »global players« in die Konzernzentralen tragen zu den negativen Bilanzen bei.

Gerade die dynamischsten Sektoren wie die Automobilindustrie und ihr nachgelagerte Branchen wie die Reifenherstellung sind zu einem gefährlich hohen Anteil von den westeuropäischen Märkten abhängig. Durchschnittlich 70 bis 80 Prozent aller Exporte aus osteuropäischen Ländern gehen in die alte EU. Dortige Krisen würden mit einem Schlag die Abhängigkeit dieser Rand-Ökonomien vom Zentrum virulent machen. Ökonomisch wird das Problem der eigenen Schwäche z.B. beim privaten Konsum deutlich, der in Ländern wie der Slowakei, Slowenien und ganz besonders Ungarn sinkt – auch ein deutliches Zeichen dafür, wo Gründe für politische Unzufriedenheit zu suchen sind. Wachsende regionale Disparitäten zeigen zudem die Unfähigkeit der einzelnen osteuropäischen Staaten auf, politisch intervenieren zu können (oder zu wollen).

Auf ein Phänomen der besonderen Art haben die Experten des WIIW noch aufmerksam gemacht: Die leicht sinkende Arbeitslosigkeit in Osteuropa, die aber nach wie vor fast doppelt so hoch ist wie in der alten EU, geht unter anderem auf die Migration nach Großbritannien und Irland zurück. Weil es gerade die Flexibelsten und gut Ausgebildeten sind, die ihrer Heimat den Rücken kehren, gibt es in vielen Branchen bereits echten Mangel an Besserqualifizierten. Das macht den Ökonomen auch deshalb Sorgen, weil damit in Zukunft wirtschaftliches Wachstum in Osteuropa skurriler Weise wegen mangelnder Fachkräfte ins Stocken geraten könnte.

Die acht bereits im Jahr 2004 der EU beigetretenen Länder könnten am 1. Januar 2007 zumindest unter einen Geldregen geraten. Denn ab diesem Datum werden aus den Struktur- und Kohäsionsfonds der Europäischen Union 2,5 Mal so viel Zuschüsse ausgeschüttet wie in den ersten drei Jahren der Mitgliedschaft. Sehr zu bezweifeln ist allerdings laut Auskunft der WIIW-Spezialisten, ob die einzelnen Bürokratien in der Lage sein werden, diese möglichen Transferzahlen abzurufen. Ein wesentliches Hindernis neben dem administrativen Know-how stellt dabei der Zwang zur nationalen Ko-Finanzierung von EU-Projekten dar. Die meisten Staaten können sich eine solche gar nicht leisten.

* Aus: Neues Deutschland, 17. November 2006


Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche
The Vienna Institute for International Economic Studies


PRESSENOTIZ
Aktualisierte wiiw-Prognose für die Länder Zentral-, Ost- und Südosteuropas

Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) hat soeben seine jüngste Analyse der Wirtschaftslage in den Ländern Zentral-, Ost- und Südosteuropas veröffentlicht (vgl. Tabelle [externer Link; pdf-Datei]). Im Vergleich zur Einschätzung im letzten Konjunkturbericht des wiiw (Juli 2006) hat sich das heurige BIP-Wachstum, begünstigt durch externe Konjunkturfaktoren, sogar etwas beschleunigt. Auch die Prognose für das kommende Jahr wurde in den meisten Fällen nach oben revidiert. Das Wirtschaftswachstum der neuen EU-Mitglieder (inklusive Bulgarien und Rumänien) wird sowohl 2006 als auch 2007 mehr als 5 Prozent betragen. Die restlichen Reformländer in Südosteuropa sowie Russland, die Ukraine und die Türkei werden sogar noch etwas schneller wachsen. Eine deutliche Korrektur nach oben wurde auch bei der Wachstumsprognose für Serbien und die Ukraine durchgeführt. Die Arbeitslosigkeit nimmt in den meisten Ländern der Region (außer Montenegro) schneller als ursprünglich erwartet ab.

Die wichtigsten mittel- und langfristigen Herausforderungen für die Zukunft sind, abgesehen von politischer Instabilität, die Absorptionskapazität für EU-Strukturfonds, latenter Arbeitskräftemangel (v.a. bei höher Qualifizierten), exzessive Währungsaufwertung, der Beitritt zur Eurozone (Slowenien bereits Anfang 2007) und die damit verbundenen weiteren Reformen (v.a. im Pensions-, Gesundheits- und Bildungsbereich) sowie die in einigen Ländern noch weit verbreitete Korruption. Das starke Wirtschaftswachstum wird von der Politik weitgehend unbeeinflusst bleiben.

wiiw, 16. November 2006

Univ.-Doz. Leon Podkaminer, Dipl.-Ing. Peter Havlik, Prof. Vladimir Gligorov

Quelle: www.wiiw.at




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