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Moskau muss weiter warten

Heute beginnt in der kasachischen Hauptstadt Astana der erste OSZE-Gipfel seit elf Jahren / Kein neuer Sicherheitsvertrag in Sicht

Von Hans Voß *

Am 1. und 2. Dezember findet in Astana, der Hauptstadt Kasachstans, ein Gipfel der OSZE-Staats- und Regierungschefs statt. Es ist die erste Konferenz auf dieser Ebene seit nunmehr elf Jahren.

Die schrumpfende Bedeutung der OSZE nach Ende des Ost-West-Konflikts hatte auch zur Folge, dass das Interesse an Spitzenbegegnungen der Organisation mehr und mehr zurückging. Es war der amtierende OSZE-Vorsitzende Kasachstan, der mit Nachdruck auf eine Wiederbelebung vereinbarter Regeln drängte. Unterstützt wurde Kasachstans Präsident dabei von Russland, das seit Langem die einseitige Ausrichtung der OSZE kritisiert. Es ist dem veränderten internationalen Klima zu verdanken, dass 2009 mit einem informellen Treffen der Außenminister auf der griechischen Ferieninsel Korfu ein neuer Dialogstrang eingerichtet wurde. In diesem Jahr begannen sie in der ehemaligen kasachischen Hauptstadt Almaty mit den Vorbereitungen für den ersten Gipfel auf höchster Ebene seit elf Jahren. In den vergangenen Monaten wurden in Wien, Warschau und Astana Überprüfungskonferenzen durchgeführt.

Insbesondere in Moskau hofft man darauf, dass dieses Gipfeltreffen der OSZE Anstöße gibt, um die Initiative von Präsident Medwedjew zu verwirklichen. Er hat einen neuen verbindlichen Sicherheitsvertrag für Europa vorgeschlagen, der die gegenwärtigen Ungleichgewichte im europäischen Sicherheitssystem beseitigt. Die NATO hatte diese russische Initiative kühl aufgenommen. Man erklärt zwar die Bereitschaft, über sie zu reden, möchte das aber unverbindlich tun und im Übrigen als Teil einer umfassenderen Aussprache über konkrete europäische Sicherheitsaspekte wie die Beseitigung von Konfliktherden im Kaukasus, in Berg-Karabach oder in Moldova. Schon gar nicht – so wurde seitens der NATO betont – könne es darum gehen, die Allianz aufzulösen.

Diese Richtung des Vorgehens wurde noch bestärkt, indem der NATO-Gipfel in Lissabon eine prinzipielle Entscheidung über die Zukunft des Paktes getroffen hat. Danach wird sich an den Grundaufgaben der Allianz nichts ändern. Sie will als Militärbündnis fortbestehen, dabei weltweit agieren, auch unter Mitwirkung weiterer Staaten. Das nukleare Bedrohungspotenzial wird aufrechterhalten.

Zwar werden Schritte eingeleitet, der NATO den Ruch eines anti-russischen Bündnisses zu nehmen. So wird Moskau auf verschiedenen Gebieten eine engere Kooperation angeboten, darunter erstmalig auch auf militärischem Gebiet, bei der Schaffung eines europäischen Raketenabwehrsystems. In Moskau reagiert man auf solche Gesten verhalten optimistisch und hofft dabei auf eine Wiederbelebung der OSZE, die von der NATO als Instrument der Konfliktvorbeugung und -nachsorge klassifiziert wird. Doch in ihren umfangreichen Lissabonner Gipfeldokumenten kommt der Medwedjew-Vorschlag selbst nicht vor.

Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sich in Astana russische Hoffnungen auf Schritte zu einem neuartigen europäischen Sicherheitssystem nicht erfüllen. Die NATO-Staaten werden die entsprechenden russischen Vorstellungen höflich beraten, einige aber auch dies nur widerwillig. Ein solcher Dialog dürfte jedoch sich auf Teilaspekte der europäischen Sicherheit beschränken. Wie aus dem Auswärtigen Amt zu hören ist, könnte man erwägen, eine neue OSZE-Charta zu erarbeiten. Auch die Formulierung neuer Verträge über die Begrenzung der konventionellen Rüstungen und über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen sei möglich. Mit anderen Worten: Die russische Seite erhält keine verbindlichen Zusagen über die prinzipielle Neugestaltung der europäischen Sicherheitslandschaft. Sie wird mit der Schaffung eines neuen Dialogstranges und mit dem Abschluss von Teilabkommen auf sicherheitspolitischem Gebiet vertröstet, wobei die Beständigkeit solcher Bemühungen fraglich ist. Es bleibt abzuwarten, wie Moskau mit dieser Konstellation umgehen wird.

OSZE

steht für Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Ihr Vorgänger war die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), deren Schlussakte von Helsinki 1975 einen Durchbruch im Ost-West-Konflikt brachte. Offiziell umbenannt wurde sie 1995. Inzwischen sind 56 Länder Mitglieder, die europäischen Staaten, die Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie die USA und Kanada. Zu ihren Hauptaufgaben gehören Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sowie die Sicherung von Demokratie und Menschenrechten. Derzeit unterhält die OSZE 18 Missionen, u.a. auf dem Balkan und in Zentralasien. Daneben entsendet die OSZE regelmäßig Wahlbeobachter. (dpa/ND)



* Aus: Neues Deutschland, 1. Dezember 2010


Zwei Seiten einer Medaille

Von Olaf Standke **

Vor dem OSZE-Gipfel konnte man gelegentlich den Eindruck gewinnen, wichtigste Aufgabe des ersten Treffens der Organisation auf höchster Ebene nach elf Jahren sei es, Gastgeber Kasachstan unter Reformdruck zu setzen. Bei aller berechtigten Kritik an den Zuständen in der zentralasiatischen Republik – genau diese einseitige Instrumentalisierung wäre kontraproduktiv, will man das 56-Staaten-Gremium »wiederbeleben«, wie es gestern zur Eröffnung hieß. Wenn das multilaterale Forum seine beste Zeit hinter sich habe, wie Russlands Präsident Medwedjew formulierte, wenn klare Regeln fehlen, die Arbeitsweise verstaubt ist, dann hat das einen einfachen Grund: Die OSZE ist nur so gut, wie ihre Mitglieder es zulassen.

Dabei wäre viel möglich. Als in den 1990er Jahren die NATO auf dem Balkan in den Krieg zog, um Konflikte auf ihre Art im Schlachtenlärm zu lösen, hat die OSZE mit einem Bruchteil der so verpulverten Mittel und »stiller Diplomatie« in Mittelost- und Südosteuropa vermittelt, und im günstigsten Fall erwuchsen aus konstruktivem Dialog Vertrauen und Kooperation. Konfliktprävention ist allemal das erfolgversprechendste friedenspolitische Instrument. Es war gestern in Astana viel von der notwendigen Modernisierung der OSZE die Rede. Sich auf den Namen der Organisation zu besinnen, wäre da schon ein Anfang: Sicherheit und Zusammenarbeit sind zwei Seiten einer Medaille.

** Aus: Neues Deutschland, 2. Dezember 2010 (Kommentar)


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