Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Für eine friedensfähige EU

Der Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum "Vertrag von Lissabon (EU-Reformvertrag)"

Der von den Staats- und Regierungschefs der EU am 29. Oktober 2004 in Rom unter-zeichnete "Vertrag über eine Verfassung für Europa" wurde in einigen EU-Mitgliedsstaaten dem Volk, dem Souverän, zur Abstimmung vorgelegt. In Frankreich und den Niederlanden wurde dieser Verfassungsentwurf mehrheitlich abgelehnt. Gründe dafür waren in erster Linie die Festschreibung einer konsequent neoliberalen Wirtschaftspolitik, welche sich über den Nizzavertrag auch im vorgelegten Reformvertrag wiederfindet, aber auch die – und dies bisher einmalig in einer Verfassung – Verankerung einer Aufrüstungspolitik, die die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern."

Um Volksentscheide über diesen Text in Zukunft zu vermeiden, wurde bewusst die Be-zeichnung "Verfassung" vermieden und das Vertragswerk umbenannt in "Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft." Jedoch sind genau die Punkte, die zur mehrheitlichen Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden geführt hatten, weiterhin Grundbestandteile des nun vorliegenden Vertrages.

Der Text des Reformvertrages, der elementare demokratische Rechte – nämlich die Entscheidung des Souveräns über die konstitutionellen Grundlagen der Europäischen Union – ausschließt, widerspricht damit auch der Prinzipienerklärung des neuen Artikels 1a des Vertragswerks, in dem es zu den „Werten der Union“ heißt:

"Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte …"

Gegen diese Art des bürokratischen Absolutismus wenden wir uns, weil gerade die Be-stimmungen zu Aufrüstung und Interventionismus die Menschen in der Union existenziell betreffen, Europa nicht sicherer machen und das Ansehen eines friedlichen Europas in der internationalen Politik zerstören.

Die neuen Bestimmungen zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) des EU-Reformvertrags entsprechen in großen Teilen den bereits im EU-Verfassungsvertrag verankerten Artikeln zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Für den gesamten Reformvertrag spricht beispielsweise der irische Ministerpräsident Bertie Ahern von einer 90%igen Übereinstimmung mit dem EU-Verfassungsvertrag.

Der zur Ratifizierung vorgelegte Reformvertrag verfolgt dem Geiste und dem Inhalt nach das gleiche Ziel, welches der Verfassungsvertrag erfüllen sollte, nämlich insbesondere für die gemeinsame Außen und Sicherheitspolitik (GASP) eine verbindliche rechtliche Grundlage zu schaffen.

Vor diesem Hintergrund haben wir uns mit dem Vertrag, insbesondere den Teilen zur "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" befasst und stellen dazu fest:
  • Die Aussagen zur "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) nehmen schon quantitativ erheblichen Raum ein. Wichtiger ist jedoch, dass ihr eine zentrale Funktion im Prozess der Integration der EU zugewiesen wird.
  • Mit der GASP wird eine grundlegende Weichenstellung für die EU als zukünftigem weltpolitischen Machtzentrum anvisiert.
  • Zwar gibt es auch verschiedentlich Verweise auf diplomatische, wirtschaftliche, entwicklungspolitische sowie völkerrechtliche Maßnahmen und Instrumente; diese bleiben jedoch formal und im Wesentlichen auf Aspekte der Entscheidungsfindung und Abstimmung beschränkt. In deutlichem Kontrast dazu steht die "Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik": Die Regelungen des Vertrages stellen eine entscheidende Weiterführung in diesem Politikbereich dar.
Die kritisierte Aufrüstungsverpflichtung schreibt sich auch im Reformvertrag fort, im Artikel 28 c heißt es dazu

(3) Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Die Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) ermittelt den operativen Bedarf und fördert Maßnahmen zur Bedarfsdeckung, trägt zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors bei und führt diese Maßnahmen gegebenenfalls durch, beteiligt sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich der Fähigkeiten und der Rüstung und unterstützt den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten.
(4) Beschlüsse zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ein-schließlich der Beschlüsse über die Einleitung einer Mission nach diesem Artikel, werden vom Rat einstimmig auf Vorschlag des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik oder auf Initiative eines Mitgliedstaats erlassen.


Bereits vor dem gescheiterten Ratifizierungsprozess zur Verfassung wurden entscheidende Weichen für die Aufrüstungspolitik und die Fähigkeit der Union zu weltweiter Intervention gestellt: Die "Verteidigungsagentur" arbeitet seit August 2004. Mit einem Jahresbudget von 60 Mio. € ist sie zuständig für die Koordination von Rüstungsprojekten und für die Stärkung des europäischen Rüstungssektors – ein eindrücklicher Beweis dafür, dass die neoliberalen Marktprinzipien dort ausgeschaltet werden, wo es um die Interessen der Rüstungsindustrie geht.

Auch diese "Rüstungsagentur", im Vertragstext Verteidigungsagentur genannt, erhält nun mit Artikel 28 d des Reformvertrages eine rechtliche Legitimation.
  1. Aufgabe der in Artikel 28a Absatz 3 genannten, dem Rat unterstellten Europäischen Verteidigungsagentur ist es, ,
    (..)
    (b) auf eine Harmonisierung des operativen Bedarfs sowie die Festlegung effizienter und kompatibler Beschaffungsverfahren hinzuwirken;
    (c) multilaterale Projekte zur Erfüllung der Ziele im Bereich der militärischen Fähigkeiten vorzuschlagen, und für die Koordinierung der von den Mitgliedstaaten durchgeführten Programme sowie die Verwaltung spezifischer Kooperationsprogramme zu sorgen;
    (d) die Forschung auf dem Gebiet der Verteidigungstechnologie zu unterstützen, gemeinsame Forschungsaktivitäten sowie Studien zu technischen Lösungen, die dem künftigen operativen Bedarf gerecht werden, zu koordinieren und zu planen;
    (e) dazu beizutragen, dass zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors und für einen wirkungsvolleren Einsatz der Verteidigungsausgaben ermittelt werden, und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen.
Mit dem gescheiterten "Vertrag über eine Verfassung für Europa", sind Fragen nach der grundlegenden Orientierung dieser sich herausbildenden politischen Union Europas neu aufgeworfen worden. In welche Richtung soll sich EU-Europa künftig entwickeln? Wie kann die EU zur Bewältigung der sich verschärfenden globalen Probleme beitragen – und wie nicht?

Der Reformvertrag beantwortet diese Fragen, insbesondere im Bereich der "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" ganz im Geiste der gescheiterten Verfassung. Es geht hier, wie bereits ausgeführt, vor allem darum, für eine weitere Militarisierung der EU Außenpolitik rechtliche Grundlagen zu schaffen.

So fand der lange angestrebte, eigenständige gemeinsame Militärhaushalt, aus dem auch operative Militärausgaben beglichen werden, im Reformvertrag in Artikel 28 in Form eines sogenannten "Anschubfonds" seine rechtliche Grundlage.

Artikel 28
"(3) Der Rat erlässt einen Beschluss zur Festlegung besonderer Verfahren, um den schnellen Zugriff auf die Haushaltsmittel der Union zu gewährleisten, die für die Sofortfinanzierung von Initiativen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere von Tätigkeiten zur Vorbereitung einer Mission nach Artikel 27 Absatz 1 und Artikel 28 bestimmt sind. Er beschließt nach Anhörung des Europäischen Parlaments.
Die Tätigkeiten zur Vorbereitung der in Artikel 27 Absatz 1 und in Artikel 28 genannten Missionen, die nicht zulasten des Haushalts der Union gehen, werden aus einem aus Beiträgen der Mitgliedstaaten gebildeten Anschubfonds finanziert. Der Rat erlässt mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag des Hohen Ver-treters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik die Beschlüsse über
(a) die Einzelheiten für die Bildung und die Finanzierung des Anschubfonds, insbesondere die Höhe der Mittelzuweisungen für den Fonds;
(b) die Einzelheiten für die Verwaltung des Anschubfonds;
(c) die Einzelheiten für die Finanzkontrolle.
Kann die geplante Mission nach Artikel 28a Absatz 1 und Artikel 28b nicht aus dem Haushalt der Union finanziert werden, so ermächtigt der Rat den Hohen Vertreter zur Inanspruchnahme dieses Fonds. Der Hohe Vertreter erstattet dem Rat Bericht über die Erfüllung dieses Mandats."


Einmalig ist, dass die Bereitschaft zu weltweiten Militäreinsätzen gleichfalls vertraglich festgeschrieben wird. EU-Streitkräfte sollen zu "Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen" eingesetzt werden können. Weiter heißt es: "Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet". Das Beschwören einer diffusen Terrorismusgefahr wird auch in Europa zu einer allgegenwärtigen Rechtfertigungsformel für globale Militärinterventionen gemacht. Mit einer territorialen Verteidigungsoption, die Rüstung auf entschieden niedrigerem Niveau einschließen würde, haben diese Bestimmungen nichts zu tun. Es geht ausschließlich um Militärinterventionen – ohne geographische Einschränkungen. Dazu heißt es u.a. in Artikel 28b des vorliegenden Vertrages:

Artikel 28b
(1) Die in Artikel 27 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.
(2) Der Rat erlässt die Beschlüsse über Missionen nach Absatz 1; in den Beschlüssen sind Ziel und Umfang der Missionen sowie die für sie geltenden allgemeinen Durchführungsbestimmungen festgelegt. Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik sorgt unter Aufsicht des Rates und in engem und ständigem Benehmen mit dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee für die Koordinierung der zivilen und militärischen Aspekte dieser Missionen.


In diesen Kontext fügt sich die neue "Sicherheitsdoktrin" der EU ein. Im Auftrag der EU-Staats- und Regierungschefs hatte der "Verantwortliche für den Bereich Außen- und Sicherheitspolitik" der EU, Javier Solana, einen Entwurf für ein Strategiepapier für den Militärbereich vorgelegt. Seit vier Jahren arbeitet die EU am Aufbau sicherheits- bzw. militärpolitischer Entscheidungsstrukturen und militärischer Kapazitäten. Kontingente für schnelle Militärinterventionen stehen der EU inzwischen zur Verfügung. Auf diese Ressourcen kann künftig zurückgegriffen werden, wenn mit den Sicherheitsvorstellungen Solanas Ernst gemacht werden soll.

Im "Solana-Papier", das auf dem EU-Gipfel im Juni 2003 in Thessaloniki im Grundsatz gebilligt und im Dezember 2003 - geringfügig verändert - vom Europäischen Rat als "Europäische Sicherheitsstrategie" (ESS) verabschiedet wurde, heißt es: "Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art... Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden." Und an anderer Stelle wird die ESS noch deutlicher: "Wir müssen eine Strategie-Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert... Als eine Union (…), sollten wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können." Damit nähert sich die EU dem Präventivkriegskonzept der Bush-Doktrin weiter an.

Im Verfassungsvertrag, Artikel I-41, Absatz 6 hieß es: „Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvolle Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander weiter gehende Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union.“

Der Reformvertrag übernimmt in Artikel 10 die Konstruktion der "Ständigen strukturierten Zusammenarbeit" und damit die Möglichkeit, auch auf europäischer Ebene "Koalitionen der Willigen" zu schmieden. Die strukturierte Zusammenarbeit beinhaltet für die Einzelstaaten zugleich die Möglichkeit, sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht an Missionen zu beteiligen. Diese Regelung beinhaltet jedoch die Gefahr, dass sich in den "Großen" und "Starken" zugleich die "Willigen" zeigen, und sich ein "militärisches Kerneuropa", denken wir an Deutschland und Frankreich, herausbildet. Zugleich wird mit dieser Regelung das Einstimmigkeitsverfahren in der Außen und Sicherheitspolitik praktisch aufgegeben, da nur die sich beteiligenden Staaten Einstimmigkeit erzielen müssen.

Artikel 28a legt dazu fest:

(5) Der Rat kann zur Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung einer Mission im Rahmen der Union beauftragen. Die Durchführung einer solchen Mission fällt unter Artikel 29.
(6) Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander weiter gehende Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union. Diese Zusammenarbeit erfolgt nach Maßgabe von Artikel 31. Sie berührt nicht die Bestimmungen des Artikels 28.


In diesem Sinne dann Artikel 28e (3, 5 und 6):

(3) (…) Der Rat erlässt einen Beschluss, in dem die Teilnahme des betreffenden Mitgliedstaats, der die Kriterien und Verpflichtungen nach den Artikeln 1 und 2 des Protokolls über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit erfüllt beziehungsweise eingeht, bestätigt wird. Der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Anhörung des Hohen Vertreters. Nur die Mitglieder des Rates, die die teilnehmenden Mitgliedstaaten vertreten, sind stimmberechtigt. (…)
(5) Wünscht ein teilnehmender Mitgliedstaat, von der ständigen Strukturierten Zusammenarbeit Abstand zu nehmen, so teilt er seine Entscheidung dem Rat mit, der zur Kenntnis nimmt, dass die Teilnahme des betreffenden Mitgliedstaats beendet ist. (6) Mit Ausnahme der Beschlüsse nach den Absätzen 2 bis 5 erlässt der Rat die Beschlüsse und Empfehlungen im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit einstimmig. Für die Zwecke dieses Absatzes bezieht sich die Einstimmigkeit allein auf die Stimmen der Vertreter der an der Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten."


Darüber hinaus befasst sich das Protokoll Nr. 4 über die ständige strukturierte Zusam-menarbeit mit der künftigen Verfügbarkeit schnell einsetzbarer Einheiten (Battlegroups). Hier wird über die bereits vorhandenen militärischen Ressourcen der Mitgliedsstaaten eine "Standby-Armee der Union" für weltweite Einsätze installiert und werden die Beiträge der Einzelstaaten dazu vertraglich festgeschrieben.

Artikel 1 (Protokoll Nr.4)

An der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit nach Artikel 27 Absatz 6 des Vertrags über die Europäische Union kann jeder Mitgliedstaat teilnehmen, der sich ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft verpflichtet,
(..)
b) spätestens 2010 über die Fähigkeit zu verfügen, entweder als nationales Kontingent oder als Teil von multinationalen Truppenverbänden bewaffnete Einheiten bereitzustellen, die auf die in Aussicht genommenen Missionen ausgerichtet sind, taktisch als Gefechtsverband konzipiert sind, über Unterstützung unter anderem für Transport und Logistik verfügen und fähig sind, innerhalb von 5 bis 30 Tagen Missionen nach Artikel 28 des Vertrags über die Europäische Union aufzunehmen, um insbesondere Ersuchen der Organisation der Vereinten Nationen nachzukommen, und diese Missionen für eine Dauer von zunächst 30 Tagen, die bis auf 120 Tage ausgedehnt werden kann, aufrechtzuerhalten.


Der mit dem Artikel 9 e im Reformvertrag eingeführte Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitsfragen führt den Vorsitz im Rat 'Auswärtige Angelegenheiten'.

Der Hohe Vertreter ist einer der Vizepräsidenten der Kommission. Er ist schlägt dem Rat die Durchführung von "Missionen" vor und ist für deren Koordination verantwortlich. Der Rat beschließt über die vorgeschlagenen Aktionen "einstimmig" nach den Regeln der strukturierten Zusammenarbeit.

Eine Beteiligung des EU-Parlaments ist, wie im Verfassungsvertrag nicht vorgesehen. Das EU-Parlament wird vom Hohen Vertreter zu „wichtigsten Aspekten“ regelmäßig informiert und "angehört".

Ein Informationsrecht ist kein Beschlussrecht. Das nicht vorhandene Kontrollrecht des EU-Parlaments verstößt gegen Grundsätze von Gewaltenteilung und parlamentarischer De-mokratie.

Die Zustimmung der Bundesregierung im Rat ist dabei nicht an einen Bundestagsbe-schluss gebunden, sondern wird nach der Entscheidung eingeholt. Damit werden einzelstaatliche Parlamentsbeteiligungen grundsätzlich infrage gestellt. Es droht zudem eine Verrechtlichung einer Praxis der Missachtung des Bundestages: Beispiel Tschad und Entsendung von Bundeswehrsoldaten ohne Entscheidung des Bundestages; das war ein klarer Verstoß gegen die Bestimmungen des "Parlamentsbeteiligungsgesetzes".

Im neuen EU-Vertrag selbst findet sich die Aufforderung, die entsprechenden nationalen Vorschriften an die verkürzte Einsatzzeit der EU-Battle-Groups anzupassen und die "nationalen Beschlussfassungsverfahren" zu überprüfen. Die EU-Battle-Groups sollen, so legt es der Vertrag fest, spätestens bis 2010 alle einsatzfähig und in 5 bis 30 Tagen überall auf der Welt einsetzbar sein.

Das ist eine klare Aufforderung, die Rechte des Bundestages bei der Entscheidung über militärische Auslandseinsätze zu beschränken.

Protokoll 4; Artikel 2

(…)
c) konkreten Maßnahmen zur Stärkung der Verfügbarkeit, der Interoperabilität, der Flexibilität und der Verlegefähigkeit ihrer Truppen insbesondere, indem sie gemeinsame Ziele für die Entsendung von Streitkräften aufstellen und gegebenenfalls ihre nationalen Beschlussfassungsverfahren überprüfen;

Klar geregelt wird dagegen im Reformvertrag, dass der EuGH hinsichtlich der Bestimmungen der Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik (GASP) ausdrücklich nicht zuständig ist.

Artikel 240a

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist nicht zuständig für die Bestimmungen hinsichtlich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und für die auf der Grundlage dieser Bestimmungen erlassenen Rechtsakte.

Somit widerspricht der gesamte Militarisierungsteil den elementaren Grundsätzen demokratischer Staatlichkeit: weder hat das EP die Möglichkeit, solche Einsätze abzulehnen noch ihre Prämissen und Folgen zu überprüfen. Darüber hinaus werden die elementaren Grundsätze der Gewaltenteilung in diesem Bereich von vornherein außer Kraft gesetzt, da die Justiz weder die Vertragskonformität noch die Übereinstimmung mit dem Völkerrecht überprüfen kann.

Das hat auch Auswirkungen auf die Bundesrepublik:
  • Nach Art. 26 des Grundgesetzes (GG) sind alle Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges, verfassungswidrig und nach § 80 StGB unter Strafe gestellt. Da jede nicht von den Ausnahmetatbeständen der UNO-Charta (Art. 51 und Art. 39-42) gedeckte militärische Aggressionshandlung den Tatbestand des Angriffskrieges erfüllt, verbietet die Verfassungsnorm eine militärische "Lösung" internationaler Streitfragen. Ergänzt wird Art. 26 durch Art. 87a GG, der den Einsatz der Bundeswehr auf die Verteidigung beschränkt. Zwar verweist der Reformvertrag bei der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf die "Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen"( Art 10a/10a (2c)), jedoch nicht auf die "Charta der Vereinten Nationen" als Ganzes, zudem wird der rechtliche Rahmen für mögliche EU-Kampfeinsätze ausgeweitet und kein ausdrückliches Verbot der Führung eines Angriffskrieges – und ein Präventivkrieg ist ein solcher – fixiert. „Präventivkriege“ sind jedoch nach dem Völkerrecht auf der Basis der UN-Charta völkerrechtswidrig. Insofern eröffnet der Vertrag die Möglichkeit, Art. 26 GG weiter aufzuweichen.
  • 1992 reichte die SPD-Fraktion im Bundestag eine Klage gegen Out-of-Area Einsätze der Bundeswehr beim Bundesverfassungsgericht ein. Sie kritisierte insbesondere die "systematische Ausschaltung des Parlaments bei grundlegender Neugestaltung der sicherheitspolitischen Beziehungen". Aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben verfügte das Bundesverfassungsgericht am 12. Juli 1994 verbindlich, dass über Auslandseinsätze der Bundeswehr der Bundestag mit einfacher Mehrheit entscheidet. Damit sollte der demokratischen Balance zwischen Exekutive und Legislative Rechnung getragen werden. Gemäß Vertragstext besitzt jedoch das von den Organen der Union in Ausübung der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzte Recht Vorrang vor dem Recht der Mitgliedsstaaten.
Damit droht eine Situation, dass bei Annahme des vorliegenden EU-Vertrages über Krieg und Frieden der Ministerrat der Europäischen Union entscheidet. Die Zustimmungspflicht des Bundestages wird über Gesetze, die den Parlamentsvorbehalt aushebeln, aufgeweicht.

Politische Schlussfolgerungen

Der Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat sich eingehend mit dem vorgelegten Reformvertrag befasst.
Wir sehen vor allem vier Gefahren, die durch die Ratifizierung dieses Vertrages verschärft würden:
  • Krieg als Mittel der Politik wird nicht nur weiter enttabuisiert, sondern zum legitimen Mittel der Interessenwahrung des neu-formierten EU-Staatengefüges.
  • Aufrüstung und Rüstungsmodernisierung werden mit dem Vertrag für alle EU-Mitgliedsstaaten verpflichtend.
  • Die Versuchung, regionale oder lokale Krisen "in Eigeninitiative" militärinterventionistisch zu lösen, wird zunehmen und damit weltweit neue Rüstungsdynamiken provozieren.
  • Der Versuch der EU, sich auch militärisch als „Global Player“ zu etablieren, verschärft nicht nur die transatlantischen Spannungen und die vorhandene Konflikthaftigkeit in der zunehmend multipolaren Welt, er vergibt auch die einmalige Chance der EU, die innerhalb Europas als einzigartiges und gelungenes Friedensprojekt zu betrachten ist, weltpolitisch eine glaubwürdige Rolle des Ausgleichs und friedlicher Konfliktregelung zu spielen.
Wir vertreten die Auffassung, dass die Potenziale der Europäischen Union für die Zivilisierung und Entmilitarisierung der Internationalen Beziehungen, für eine nachhaltige Entwicklung in globalem Maßstab genutzt und entwickelt werden sollten.

Die deutsche Bundesregierung hat heute für die Ratifizierung dieses Vertragswerkes gestimmt. Wir lehnen es ab. Wir raten allen demokratischen und friedensorientierten Abgeordneten sowie Parteien in der EU dringend, ihr NEIN zur Militarisierung der EU deutlich zu machen und gegen eine Ratifizierung dieses Vertrages zu stimmen. Insbesondere appellieren wir an DIE LINKE, die als einzige Partei klare Positionen gegen eine „Militärmacht Europa“ bezogen hat, an ihrer militärkritischen Haltung festzuhalten und im Bundestag sowie im EU-Parlament auch NEIN zu diesem Vertrag zu sagen. Die Vorstellungen der Parteien über die künftige Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU sollten zu einem wichtigen Thema in der bundesdeutschen Öffentlichkeit gemacht werden. Wir rufen alle friedenspolitisch Engagierten auf, ihre Kritik offensiv in die öffentliche Diskussion einzubringen und sich an Kampagnen gegen diesen Vertrag zu beteiligen.

Berlin, den 19. Dezember 2007
  • Dr. Michael Berndt
  • Reiner Braun
  • Dr. Erhard Crome
  • Judith Demba
  • Henner Kirchner
  • Lydia Krüger
  • Prof. Dr. Hans Jürgen Krysmanski
  • Dr. Ingrid el Masry
  • Prof. Dr. John Neelsen
  • Prof. Dr. Helmut Peters
  • Tobias Pflüger, MdEP
  • Prof. Dr. Rainer Rilling
  • Prof. Dr. Werner Ruf
  • Paul Schäfer, MdB
  • Dr. Arne C. Seifert
  • Dr. Peter Strutynski
  • Prof. Dr. Wolfgang Triebel
  • Joachim Wahl
  • Dr. Dietmar Wittich


Weitere Beiträge zu Europa

Zum Dossier "EU-Verfassungsvertrag, EU-Reformvertrag"

Zur Seite "Friedenswissenschaft/Friedensforschung"

Zur Seite "Friedensbewegung"

Zurück zur Homepage