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Zurück zur Normalität?

Zwei Vorberichte zum EU-Russland-Gipfel in Nizza


Endlich Durchbruch bei Russland-EU-Verhandlungen?

Von Andrej Fedjaschin *

Die EU hat offenbar beschlossen, Russland für den „Kaukasus-Krieg“ genug bestraft zu haben.

Nach einer Pause in den diplomatischen Beziehungen soll der Aufbau neuer Partnerschaftsbeziehungen wieder begonnen werden.

Bei ihrer jüngsten Beratung in Brüssel haben die EU-Außen- und Verteidigungsminister beschlossen, einen für den 14. November anberaumten den EU-Russland-Gipfel in Nizza abzuhalten sowie Verhandlungen über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen wieder in Gang zu bringen.

Überhaupt galt die Ministerkonferenz am 10. und 11. November hauptsächlich dem Thema Russland. Bemerkenswerte Dinge sind dabei passiert. Bei seiner sturen Ablehnung jeglicher Kontakte mit Moskau hat Litauen sich selbst in die Isolation getrieben. Mit seiner Stimme gegen die Wiederaufnahme des Dialogs stand der baltische Staat allein auf weiter Flur. Selbst die bisherigen „Russland-Skeptiker“ wie Skandinavien, Großbritannien, Estland, Lettland und Polen stimmten für die Beendigung der Verhandlungsunterbrechung.

Dabei hatten alle Regierungen in Europa im Vorfeld des Treffens in Brüssel ein vom Außenbeauftragten Javier Solana unterzeichnetes Dokument bekommen, in dem betont wurde, dass eine Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Russland notwendig sei. Ohne Russland werde die Lösung der Nahost-Konflikte, der Atomstreite mit Iran und Nordkorea, der eingefrorenen Konflikte in Europa, der Gefahr des Terrorismus und der nuklearen Sicherheit wesentlich komplizierter sein.

Außerdem ist Russland ein Land, das für die Energiesicherheit Europas wichtig ist - und mit solchen Staaten sollte man lieber normale Kontakte pflegen.

Erinnert sei dabei daran, dass Polen und Litauen zuvor die Aufnahme der Verhandlungen über einen neuen EU-Russland-Grundlagenvertrag blockiert hatten. Polen begründete seine Haltung mit der Einstellung des Fleischimports durch Russland, Litauen war vor allem auf unzureichende Öllieferungen aus Russland sauer - alles Dinge, die mit der EU kaum etwas zu tun haben.

Diese Hindernisse für die Wiederaufnahme der Verhandlungen über ein neues Abkommen wurden erst im Sommer beseitigt. Dann kam jedoch der „Kaukasus-Krieg“, der einen weiteren Aufschub der Verhandlungen verursachte.

Bei der jüngsten Konferenz in Brüssel stand Vilnius, das vergeblich mit Sturheit auf Solidarität wartete, peinlich im Abseits. Die EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner musste Litauen darauf aufmerksam machen, dass dessen „Sondermeinung“ zu dieser Frage nicht viel wert sei: Der Beschluss über die Aufnahme der Verhandlungen liege bereits vor, jetzt gehe es nur um eine Wiederaufnahme dieser Verhandlungen, wozu nur eine einfache Stimmenmehrheit notwenig sei.

Die EU braucht gesunde Beziehungen mit Russland nicht zuletzt, weil dies nicht nur eine Gas- und Ölquelle, sondern auch ein riesiger Absatzmarkt für europäische Unternehmen ist. Der Umfang des EU-Russland-Handels ist nach dem Stand vom Oktober dieses Jahres gegenüber dem Oktober 2007 um 37 auf 170 Milliarden Euro gestiegen. Im bereits erwähnten Brief Solanas wurde betont, dass die russischen Devisenreserven zunehmend in Euro konvertiert werden. Damit hat Russland eine der größten Euro-Reserven der Welt.

Die russische Seite „fetischisiert den Verhandlungsprozess“ mit Europa nicht, betonte Wladimir Tschischow, Russlands ständiger Vertreter bei der EU. „Wir brauchen einen neuen Grundlagenvertrag und die Verhandlungen darüber genauso wie die Europäische Union - nicht mehr und nicht weniger“, sagte er.

Europa will nämlich Russlands Verhalten im Handel ändern, ohne an seinem etwas zu ändern. Dabei ist dieses „russische Verhalten“ in vieler Hinsicht durch Verzögerungen bei Russlands Aufnahme in die Welthandelsorganisation (WTO) bedingt. Es geht darum, dass Moskau einige einseitige Verpflichtungen wieder aufgegeben hat, die es übernommen hatte, um sich den WTO-Anforderungen besser anzupassen. Da aber diese Verpflichtungen den WTO-Beitritt kaum näher gerückt haben, wurde beschlossen, auf diese vorerst zu verzichten.

Nun hat die EU an Russlands Verhalten eben einiges auszusetzen, darunter a) die von Russland angehobenen Holz-Exportzölle, was die europäische Holzverarbeitungsindustrie trifft; b) die scharfen Begrenzungen für den Pestizidgehalt in EU-Fleisch, die in Brüssel als eine „versteckte Handelsschranke zum Schutz des einheimischen Produzenten“ ausgelegt wird, oder c) das obligatorische Ausladen des gesamten Fischfangs in den russischen Häfen.

Als eine Vorbedingung für den WTO-Beitritt verlangt die EU von Russland zudem eine Genehmigung für einen gebührenfreien Überflug Sibiriens der Passagier- und Transportmaschinen. Heute müssen die europäischen Fluggesellschaften jedes Jahr einen „Sibirien-Konzession“ in Höhe von insgesamt 350 Millionen Euro zahlen.

„Ein Durchbruch wird nicht die Aufnahme der Verhandlungen sein, sondern deren Abschluss“, schlussfolgerte Tschischow.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 13. November 2008; http://de.rian.ru



Holprige Wiederannäherung

Nizza-Gipfel markiert das Ende der Eiszeit in den Beziehungen EU-Rußland

Von Tomasz Konicz **


Es sind nur einige Stunden, die für den EU-Rußland-Gipfel in Nizza am heutigen Freitag (14. Nov.) veranschlagt sind, so daß nicht mal eine öffentliche gemeinsame Erklärung beider Seiten vorgesehen ist. Danach brechen dessen Teilnehmer –Rußlands Präsident Dmitri Medwedew, Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy und der EU-Kommissionspräsident Nicolo Barroso – unverzüglich zu dem Finanzgipfel in Washington auf. Dennoch birgt dieses Treffen eine enorme Signalwirkung, markiert es doch die innerhalb der EU keineswegs unumstrittene Rückkehr zu einer Politik der Annäherung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Russischen Föderation.

Zentral für den erneut in Gang gekommenen Dialog ist die Wiederaufnahme der Verhandlungen über ein Partnerschaftsabkommen zwischen Moskau und Brüssel, die nach Ausbruch des Krieges in Georgien von der EU ausgesetzt wurden. Das Vertragswerk soll ein 2005 ausgelaufenes Abkommen ablösen und die Beziehungen zwischen Europa und Rußland auf eine breitere Grundlage stellen. Geplant sind Erleichterungen im bilateralen Handel und Liberalisierungen in der Investitionstätigkeit. Zudem soll die Öl- und Gasversorgung Europas durch Rußland in dem Vertrag verbindlich fixiert werden.

Als treibende Kräfte bei der Überwindung dieser kurzen Eiszeit in den bilateralen Beziehungen beider Großmächte fungierten Frankreich und Deutschland, während Großbritannien, Schweden sowie etliche osteuropäische wie baltische Länder hinhaltenden Widerstand leisteten. Die russische Tageszeitung Kommersant sprach dem französischen Präsidenten und derzeitigem EU-Ratspräsident Nicolas Sarkozy das »Hauptverdienst« bei der Initiierung des Tauwetters zu. Das polnische Springer-Blatt Dziennik meldete zudem, daß auch Berlin inzwischen Rußland den Georgien-Krieg »verzeiht«.

Sowohl Frankreich als auch Deutschland kommen dem Kreml in zentralen Fragen entgegen, bemerkte der Dziennik. Beide einflußreichen EU-Staaten würden »keine Perspektive« für einen Nato-Beitritt der Ukraine oder gar Georgiens sehen. Sie stünden ebenfalls der in Polen und Tschechien geplanten US-Raketenabwehr sehr skeptisch gegenüber, so das Springer-Blatt.

Selbstverständlich bleiben noch viele Streitpunkte zwischen Moskau und Brüssel bestehen. Die EU kritisiert weiterhin das Vorgehen Moskaus in Georgien sowie die unilaterale Anerkennung Abchasiens und Südosse­tiens durch Rußland. Zudem sorge die Ankündigung Medwedews, als Reaktion auf die US-Raketenabwehr in der russischen Exklave Kaliningrad Kurzstreckenraketen zu stationieren, für erhebliche Verstimmungen in der EU. Doch die Perspektiven einer Kooperation zwischen beiden Seiten – wie beispielsweise bei der geplanten Ostseepipeline – sind vor allem für die europäische Hegemonialmacht Deutschland zu verlockend.

Schon am 1. September 2008 sprach sich der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Jürgen Thumann, für eine schnellstmögliche Wiederannäherung an Moskau aus. Dies ist kein Wunder, führte doch die exportorientierte deutsche Wirtschaft im ersten Halbjahr 2008 Waren im Wert von 15,8 Milliarden Euro nach Rußland aus, was einer Steigerung um sagenhafte 23,4 Prozent gegenüber den Vorjahreszeitraum entspricht.

Eine von Rußland vorgeschlagene neue »Sicherheitsarchitektur« für Europa sowie die Konsequenzen der Finanzkrise sollen im Fokus der Konsultationen in Nizza stehen, meldete die die russische Nachrichtenagentur RIA-Nowosti. Auch bei diesen Themen überschneiden sich Brüsseler und Moskauer Interessen. Der französische Präsident Sarkozy, Bundesfinanzminister Peer Steinbrück wie auch Rußlands Präsident Medwedew plädierten bei etlichen Gelegenheiten für ein »multipolares Finanzsystem«, in dem die dominierende Stellung des US-Dollar überwunden würde.

** Aus: junge Welt, 14. November 2008


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