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EU zementiert Krise

Gipfel setzt auf "Schuldenbremsen". Vereinbarter Fiskalpakt soll Staaten zur Haushaltsdiziplin zwingen. Risiken und Nebenwirkungen enorm hoch

Von Klaus Fischer *

Im Kampf gegen (angeblich) nicht mehr finanzierbare Staatsausgaben gibt die EU den Forderungen Deutschlands nach. Die politischen Führer von 25 Mitgliedsländern der Europäischen Union vereinbarten am Montag abend (nach jW-Redaktionsschluß) einen Staatsvertrag, in dem sie sich zur Einführung von sogenannten Schuldenbremsen verpflichteten. Neben Großbritannien, dessen konservative Regierung die Interessen der Zockermetropole London zäh verteidigt, blieb lediglich Tschechien (vorerst) außen vor.

Kern der Abmachungen ist ein »Fiskalpakt«. Nach dessen Einführung soll die strukturelle Neuverschuldung pro Jahr 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht mehr überschreiten. Außerdem wurden einige Maßnahmen vereinbart, mit denen die Wirtschaft angekurbelt und die exzessive Erwerbslosigkeit im Europa der Konzerne eingedämmt werden soll. Demnach ist geplant, Geld aus EU-Strukturfonds stärker für die Förderung kleiner Firmen einzusetzen, Mittel des Sozialfonds sollen Praktikums- und Arbeitsplätze für Berufsanfänger finanzieren.

Der Pakt soll erst in gut einem Jahr in Kraft treten, danach bleibt den Regierungen Zeit, die Schuldenbremsen in die Verfassungen oder gleichwertige Gesetze aufzunehmen. Welche Wirkungen die Maßnahmen erzielen, bleibt dennoch offen. Vereinbart wurde weder ein Schuldenstopp, noch hat jemand eine praktikable Idee vorgebracht, wie allein die laufenden Zinsen der am stärksten betroffenen Staaten beglichen werden sollen, ohne daß diese formell Staatsbankrott anmelden.

Für die Zweischneidigkeit des Schwertes namens Fiskalpakt steht im Zuge der angestrebten Krisenbekämpfung auch die Tatsache, daß bislang jede Regierung ungeniert Kredite aufgenommen hat, wenn es notwendig schien – und möglich war. Letzteres war im Verlauf der »Euro-Schuldenkrise« zwar kein Automatismus mehr – bei Zinssätzen bis 20 Prozent wie zuletzt für Portugal kann auch eine auf »Scheißegal« programmierte Regierung nicht einfach zulangen. Verboten war übermäßige Kreditvöllerei laut Maastricht-Kriterien ja schon immer, es hat nur keinen gekümmert. Selbst die Erfinder der »Bremse« aus der BRD (Gesamtverschuldung von rund 80 Prozent des BIP; laut Maastricht-Vertrag sind maximal 60 Prozent zulässig), taugen nicht als Tugendwächter.

Verringern läßt sich die Überschuldung der meisten Staaten auch deshalb schwer, weil sich ein Großteil der EU-Volkswirtschaften in einer beginnenden wirtschaftliche Rezessionsphase befindet. Die fälschlicherweise als Sparbemühungen deklarierten Einschränkungen der öffentlichen Ausgaben, womöglich verbunden mit Mehrwertsteuererhöhung (die hauptsächlich die kleinen Leute treffen und den Massenkonsum bremsen wird) werden also aller Voraussicht nach den Rückgang der Wirtschaftsleistung in den ohnehin wenig wettbewerbsfähigen Staaten des Südens verstärken. Doch das scheint gegenwärtig keinen der Regierenden zu irritieren.

Wichtig war das politische Signal aus (dem von einem Generalstreik lahmgelegten) Brüssel an die »Märkte«, daß die EU handlungsfähig sei. Unmittelbar nach dem Gipfel wurde der Euro im Vergleich zum US-Dollar ein wenig höher bewertet.

Alles Augenwischerei, sagen andere. DGB-Chef Michael Sommer hält den Fiskalpakt für das falsche Rezept gegen eine hohe Verschuldung. Die Maßnahme bewirkten statt dessen einseitige Belastungen, sagte Sommer am Dienstag im Deutschlandfunk. Dadurch werde die Krise nur verschärft. Der Chef des Gewerkschaftsdachverbandes forderte stärkere Anstrengungen zur Belebung der Wirtschaft in Europa. Deren Wachstumsschwäche habe mit zur Krise geführt. Die vorgesehenen 82 Milliarden Euro aus EU-Mitteln zur Förderung des Wachstums und zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit nannte Sommer einen Schritt in die richtige Richtung. Völlig zu Recht betonte er, das Geld reiche bei weitem nicht aus. (mit AFP, Reuters)

* Aus: junge Welt, 01.02.2012


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