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Merkel stößt Spanier vor den Kopf

Aussagen bezüglich Urlaub und Rente in Südeuropa haben nichts mit der Realität zu tun

Von Ralf Streck, Madrid

Spanier, Portugiesen und Griechen sollen nicht mehr Urlaub haben als Deutsche, meint Angela Merkel und suggeriert damit, dass dem so ist. Tatsächlich arbeiten die Beschäftigten in Südeuropa mehr, länger und zu niedrigeren Löhnen.

Im Süden Europas fühlt man sich von Angela Merkel vor den Kopf gestoßen. Die Bundeskanzlerin habe Spanier, Portugiesen und Griechen quasi als »faul« dargestellt, so die Wahrnehmung. Mit Bezug auf die finanziell angeschlagenen Euroländer hatte sie auf einer Parteiveranstaltung erklärt, es gehe darum, dass man dort »nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland«. Alle müssten sich »gleich anstrengen« und wer deutsche Hilfe in Anspruch nehme, könne nicht weniger Arbeiten und mehr Urlaub machen als in Deutschland.

In Spanien fallen die Reaktionen auf den gefährlichen Populismus besonders heftig aus. Dies ist nachvollziehbar, denn das Land hat keinerlei Finanzhilfen vom Rest der EU beantragt. Wie Deutschland trägt Spanien die Nothilfe für Griechenland, Portugal und Irland mit Milliardenbeträgen, die den Haushalt belasten, obwohl man tief in der Wirtschaftskrise steckt und fast fünf Millionen Arbeitslose hat. Und in der offiziellen Aufstellung der EU-Statistikbehörde Eurostat zur Gesamtverschuldung der Euro-Staaten steht Deutschland mit 83,2 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) direkt hinter Portugal auf dem sechsten Platz, während Spanien erst an elfter Stelle folgt und mit einer Quote von 60,1 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt liegt. Es ist eines der wenigen Länder, die die Verschuldungsobergrenze des EU-Stabilitätspakts einigermaßen einhalten.

Besonders ärgert Madrid der Rentenvorwurf. Denn die Regierung hat, unter anderem auf Druck aus Berlin das Renteneintrittsalter gegen den Widerstand insbesondere der Gewerkschaften auf 67 Jahre erhöht. Während die Anhebung in Deutschland ab 2012 schrittweise bis 2029 kommen soll, wird das in Spanien bis 2027 der Fall sein. Und schon jetzt gehen die Spanier im Schnitt mit knapp 63 Jahren in die Rente, in Deutschland hingegen bereits mit 61,4 Jahren. Dies und auch die schmale Durchschnittsrente von 760 Euro erklärt, warum in Spanien gerade einmal acht Prozent des BIP für die Renten aufgewendet werden, in Deutschland aber elf Prozent. Bis heute stützt der spanische Staat, anders als der deutsche, die Renten auch nicht aus Steuermitteln.

Auch der Blick auf die Urlaubsregelungen macht deutlich, dass keine von Merkels Aussagen stimmt. Zumal es keinen Sinn macht, den gesetzlichen Mindestanspruch als Messlatte zu nehmen. Dieser ist in Spanien zwar zwei Tage mehr als in Deutschland, wo der Anspruch 20 Tage beträgt. Doch nach Tarifverträgen hat man in Deutschland im Durchschnitt mit 30 Tagen real deutlich mehr Urlaub. Das schlägt sich auch in den gearbeiteten Jahresstunden pro Beschäftigten nieder. Nach einer Studie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) werden in Spanien durchschnittlich 1654 Stunden im Jahr gearbeitet, in Deutschland sind es 1390 Stunden. In Portugal und Griechenland ist es übrigens noch mehr: Dort werden laut OECD im Schnitt sogar 1719 respektive 2119 Stunden von denen gearbeitet, die noch einen Job haben. Und dass die Löhne der meisten Beschäftigten dort für größere Urlaubsreisen ohnehin nicht ausreichen, interessiert die Kanzlerin erst gar nicht.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Mai 2011


Die europäische Tragödie

Von Heiner Flassbeck **

Der 60-Jährige ist Chef-Volkswirt bei der UNO-Organisation Der 60-Jährige ist Chef-Volkswirt bei der UNO-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in Genf.

Nun ist es endlich raus, was schief läuft in Euroland. Frau Merkel sagt: »Wir können nicht eine Währung haben und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig. Das geht auf Dauer auch nicht zusammen.« Jetzt kann man endlich verstehen, warum für die schwere Krise in Euroland offenbar keine Lösung gefunden werden kann. Die europäische Tragödie ist laut der deutschen Bundeskanzlerin die Folge der Weigerung der Südeuropäer, auf Urlaub zu verzichten. Diese Äußerung zeigt aber besser als alles bisher Gesagte, was wirklich die europäische Tragödie ausmacht: die Unfähigkeit unserer Spitzenpolitiker und ihrer ökonomischen Berater auch nur im Ansatz zu begreifen, was eine Währungsunion bedeutet und wie sie funktioniert.

Währungsunion bedeutet nämlich gerade nicht, dass alle gleich sein müssen, damit es funktioniert. Das ist Gleichmacherei, die Frau Merkel ansonsten doch strikt ablehnt. Die Urlaubstage, die in einem Land genommen werden, sind vollkommen irrelevant für das Funktionieren einer Währungsunion. Währungsunion heißt nur, dass man sich auf ein gemeinsames Inflationsziel einigt und das für alle Zeiten durchhalten will. Ein niedriges Inflationsziel kann aber auch ein Armer einhalten oder einer, der arm ist und dennoch viel Urlaub machen will. Eine niedrige Inflation zu haben heißt nur, dass man sich an seine eigenen Verhältnisse anpassen muss, also an seine eigene Produktivität, wie die Ökonomen das nennen.

Wie jedes Land seine Produktivität nutzt, ob für höhere Löhne, für mehr Urlaubstage oder für eine bessere soziale Absicherung ist absolut unwichtig. Wer allerdings dauernd über seine Verhältnisse lebt, also mehr ausgibt, als er einnimmt, wird in einer Währungsunion hart bestraft, weil er im Handel mit den anderen zurückfällt, mehr importiert als exportiert. Wer sich aber verschulden muss, droht am Ende gar zahlungsunfähig zu werden, wenn die anderen, diejenigen, die unter ihren Verhältnissen gelebt haben, ihn nicht mehr finanzieren wollen.

Weil das so ist, einigt man sich in einer Währungsunion nicht auf ein Wachstumsziel oder gar auf ein gemeinsam anzustrebendes Einkommen, sondern auf eine gemeinsam anzustrebende Inflationsrate. Die erreicht man, wenn alle monetären Ansprüche in einer Volkswirtschaft, vor allem aber die Löhne, um nicht mehr als das Inflationsziel über der eigenen Produktivitätszuwachsrate liegen. Wird das eingehalten, lebt niemand über, aber auch niemand unter seinen Verhältnissen und jeder kann sich auf seine spezifischen Stärken konzentrieren.

Gegen diese einfache Regel hat in den vergangenen zehn Jahren aber Deutschland mehr als jedes andere Land verstoßen. Deutschland hat hemmungslos unter seinen Verhältnissen gelebt, während die Südeuropäer in der Tat etwas über ihre Verhältnisse gelebt haben. Das korrigiert man aber nicht dadurch, dass man den Südeuropäern alle paar Tage um die Ohren haut, sie müssten nun unter ihren Verhältnissen leben, sondern nur dadurch, dass man zugibt, selbst etwas falsch gemacht zu haben, und verspricht, dass man nun selbst für einige Jahre über den eigenen Verhältnissen leben muss, um den anderen eine Chance zur Erholung zu geben.

** Aus: Neues Deutschland, 21. Mai 2011 (Gastkolumne)


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