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Letzte Ausfahrt Dublin

Europa der zwei Geschwindigkeiten: Das Modell kann einen Ausweg aus der EU-Krise weisen, wenn es ganz anders als bisher verstanden wird

Von Andreas Fisahn *

Die Reaktionen des politischen Establishments auf das Nein der Iren zum Lissabon-Vertrag, dem Nein zur Fortsetzung des neoliberalen Umbaus der Gesellschaften über den Umweg Europa, fielen so aus, wie das zu erwarten war: Die Ablehnung zeige die Unreife des irischen Volkes, das aus den unterschiedlichsten Motiven dagegen gestimmt habe. Dass sich in diesem Votum auch die Abneigung gegen den undemokratischen, unsozialen und militaristischen Geist des Vertrages spiegeln könnte, schien kaum der Erwähnung wert. Stattdessen setzt sich die Arroganz gegenüber einer demokratischen Entscheidung als wahrhaft demokratische Gesinnung in Szene: "Es kann ja nicht sein", erklärt Innenminister Schäuble, "dass ein paar Millionen Iren für 495 Millionen Europäer die Entscheidung treffen." Den eigentlichen Skandal verdeckt diese Äußerung, dass nämlich "ein paar Millionen Iren" für 495 Europäer Millionen abstimmen mussten, weil die gar nicht erst gefragt wurden.

Ein Europa mit zwei Zügen auf dem selben Gleis

So beschlossen die Regierungschefs vor Wochenfrist beim EU-Gipfel in Brüssel als Antwort auf Irlands Verweigerung konsequent: "Weiter machen!" Irland soll selbst nach einer Lösung für "sein" Problem suchen. Auch wenn sich Außenminister Steinmeier inzwischen von seinem Schnellschuss distanziert hat, Irland solle einen Weg finden, "eine Zeitlang aus der europäischen Integration und aus der Förderung des europäischen Integrationsprozesses auszusteigen". Wie ein solcher Ausstieg rechtlich vollzogen werden könnte, ist völlig unklar. Der Lissabonner Vertrag ist als Änderungsvertrag zum geltenden Nizza-Vertrag konzipiert, der nun für Irland in seiner "alten" Form in Kraft bliebe und - anders als das Lissabon-Papier - keine Ausstiegs- oder Austrittsklausel für einen EU-Staat enthält. Das heißt, alle Rechtsakte der EU, für die nach Nizza eine Kompetenz besteht, gelten weiter für und gegen Irland. Das freilich kann Dublin nur dann akzeptieren, wenn es an diesen Rechtsakten mitwirkt, was wiederum nur nach den "alten" Verfahrensvorschriften, mit den "alten" Mehrheitsregeln und den "alten" Beteiligungsrechten des Parlaments möglich ist.

Die Folge: Soweit diese "alten" Verfahrensregeln durch den Lissabonner Vertrag geändert werden, bestehen unterschiedliche Verfahren nebeneinander. Das ist kein Europa der zwei Geschwindigkeiten, sondern ein Europa mit zwei Zügen auf dem selben Gleis.

Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, wie es das Kerneuropa-Modell favorisiert, müsste auf neue vertragliche Grundlagen gestellt werden. Gerade das soll aus Sicht der Konservativen in Deutschland nicht geschehen, da ihr Kerneuropa-Konzept im Lissabonner Vertrag für Gesamteuropa festgeschrieben wird.

1994 hatten die CDU-Politiker Wolfgang Schäuble und Karl Lamers Überlegungen zu einer europäischen Politik vorgelegt und den Kerneuropa-Begriff nachdrücklich bedient. Es hieß da: "Der feste Kern hat die Aufgabe, den zentrifugalen Kräften in der immer größer werdenden Union ein starkes Zentrum entgegenzustellen und damit die Auseinanderentwicklung zwischen einer eher protektionismus-anfälligen Süd-West-Gruppe unter einer gewissen Anführung durch Frankreich und einer stärker dem freien Welthandel verpflichteten Nord-Ost-Gruppe unter einer gewissen Anführung durch Deutschland zu verhindern." Dieser feste Kern sollte dank des Freihandels geformt, durch die Währungsunion gehärtet und um eine gemeinsame Außenpolitik - gedacht als Interventionspolitik - ergänzt werden. Dieses letzte Element des deutsch-konservativen Konzepts wird nun im Vertrag von Lissabon verwirklicht - allerdings für Gesamteuropa.

Außenminister Fischer nahm den Kerneuropa-Gedanken im Jahre 2000 wieder auf. Er definierte den Begriff über eine gemeinsame Verfassung mit einem starken Parlament und einem direkt gewählten Präsidenten. Ansonsten blieb seine Vision schwammig, die Zielrichtung diffus - wie es sich für eine Exzellenzinitiative des politischen Opportunismus gehört. Ein halbes Jahrzehnt später nutzte der Belgier Guy Verhofstadt die "Denkpause" nach den ablehnenden EU-Verfassungsreferenden in Frankreich und Holland im 2005 nicht als Pause vom, sondern zum Denken. Er formulierte in seinem Manifest für ein neues Europa die Alternativen: Die einen verfechten ein Konzept der Freihandelszone und bleiben bei einem negativ integrierten Europa der Staaten. Dieser Entwurf ist bei Franzosen und Niederländern mehrheitlich durchgefallen - die anderen setzen sich für die Tradition des Sozialstaates und eines demokratischen, föderalen Europas der Völker ein. Verhofstadt schreibt: "Die Geschichte ›zeigt‹ uns allerdings eine sonnenklare Richtung auf. Die Zukunft Europas beruht auf dem Aufbau eines politischen Europas auf einer gemeinschaftlichen oder föderalen Grundlage... In einigen Mitgliedsstaaten wird jedoch der politische Zweck des europäischen Projekts geleugnet. Einige sehen in der EU lediglich ein wirtschaftliches Kooperationsabkommen oder - schlimmer noch - einen Geldhahn. Aus diesem Grunde ist es wahrscheinlich, dass lediglich eine Gruppe von Mitgliedsstaaten bereit sein wird, diesen Schritt zu unternehmen. In diesem Fall ist es kaum sinnvoll zu warten, dass alle ins Boot kommen. Ebenso könnte man auf einen nie eintreffenden Zug warten. Gegebenenfalls muss die Initiative von einer Kerngruppe innerhalb der EU ausgehen."

Kein sozialstaatliches Europa auf dem Boden des Lissabon-Vertrages

Zweifellos wäre es bereichernd, wenn die unterschiedlichen Konzeptionen - föderaler Sozialstaat hier, negativ integrierte Freihandelszone dort - in die EU-Debatte einfließen würden, auf dass die nicht länger der schlichten Alternative für oder gegen den Fortgang der Europäischen Integration anheim fällt. Dann könnte auch die europäische Krise überwindbar sein. Weil die auf keine unerklärliche Europamüdigkeit zurückzuführen ist, wird sie auch durch kein europäisches Referendum gelöst, wie das Jürgen Habermas jüngst forderte. Ein solches Referendum kann nur am Ende einer Kontroverse um die Zukunft des europäischen Modells stehen. Diese Auseinandersetzung hat bisher nicht stattgefunden, steht aber nach der neuerlichen Ablehnung des neoliberalen Modells der negativen Integration mehr denn je auf der Tagesordnung. Auf dem Boden des Lissabon-Vertrages jedenfalls kann es kein sozialstaatliches Europa geben. Dazu bedarf es neuer Verträge. Für die würde ein Europa der zwei Geschwindigkeiten einen Ausweg aus der Krise weisen. Deutschland käme freilich kaum als Lokführer in Frage.

* Professor Andreas Fisahn leitet den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technik-Recht sowie Rechtstheorie an der Universität Bielefeld

Vertrag von Lissabon - einige Regelungen

Symbolischer Präsident
Ein für zweieinhalb Jahre gewählter Präsident des Europäischen Rates vertritt die EU in internationalen Belangen und wird von einem EU-Vizepräsidenten flankiert, der zugleich als "Hoher Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik" (EU-Außenminister) fungiert.

Doppelte Mehrheit
Während es bei der Außen-, Steuer- und Sozialpolitik beim Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat bleibt, gilt bei allen anderen Entscheidungen künftig: Sie sind angenommen, wenn 55 Prozent der Mitgliedsstaaten dafür stimmen und 65 Prozent der Bevölkerung der EU repräsentieren.

Dezimiertes Parlament
Bei der Europawahl 2009 werden statt der bisher 785 nur noch 750 Europaparlamentarier gewählt, doch erhält das EP neue Rechte: unter anderem ausgeweitete Mitentscheidungsbefugnisse für alle Bereiche der EU-Politik, ein volles Haushaltsrecht und das Entscheidungsrecht über den EU-Kommissionspräsidenten.

Weitreichender Wertekanon
Teil des Lissabonner Vertrages ist eine Grundrechtscharta mit individuell einklagbaren Rechten, die sich auf den Grundsatz der Gleichheit, den Minderheitenschutz, die Nichtdiskriminierung, Gerechtigkeit und Solidarität beziehen. Verbindlich für alle EU-Staaten wäre zudem das Verbot von Kinderarbeit. Einklagbare soziale Grundrechte sind hingegen nicht verankert, hier gelten das Verfassungsrecht und die Sozialordnung der jeweiligen Mitgliedsstaaten.

Abgelegt

Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrages zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Vertrages von Lissabon Ende 2007:

Endgültig ratifiziert
Belgien (Parlament), Bulgarien (Parlament), Estland (Parlament), Finnland (Parlament), Griechenland (Parlament), Italien (Parlament), Lettland (Parlament), Litauen (Parlament), Luxemburg (Referendum und Parlament), Malta (Parlament), Österreich (Parlament), Rumänien (Parlament), Slowakei (Parlament), Slowenien (Parlament), Spanien (Referendum und Parlament), Ungarn (Parlament) und Zypern (Parlament)

Teilweise ratifiziert
Deutschland (das Parlament hatte zugestimmt/die Unterschrift durch Bundespräsident Köhler stand Ende 2007 noch aus)

Abgelehnt
Frankreich (Referendum), Niederlande (Referendum)

Noch nicht ratifiziert
Dänemark (Referendum), Großbritannien (Referendum und Parlament), Irland (Referendum und Parlament), Polen (Parlament), Portugal (Referendum und Parlament), Schweden (Parlament), Tschechien (Referendum und Parlament)

Aufgelegt

Ratifizierung des Lissabonner Vertrages zum Zeitpunkt des irischen Referendums:

Endgültig ratifiziert
Bulgarien (Parlament), Dänemark (Parlament), Estland (Parlament), Frankreich (Parlament), Griechenland (Parlament), Großbritannien (Parlament/Oberhaus am 18. 6.), Lettland (Parlament), Litauen (Parlament), Luxemburg (Parlament), Malta (Parlament), Österreich (Parlament), Polen (Parlament), Portugal (Parlament), Rumänien (Parlament), Slowakei (Parlament), Slowenien (Parlament), Ungarn (Parlament)

Teilweise ratifiziert
Deutschland (Unterschrift des Bundespräsidenten steht noch aus), Finnland (Unterschrift des Präsidenten nötig)

Abgelehnt
Irland (Referendum am 12. 6. 2008)

Ratifizierung noch offen
Belgien (Parlament, Termin offen), Italien (Parlament, Juli 2008), Niederlande (Parlament, Sommer 2008), Schweden (Parlament, November 2008), Spanien (Parlament, Juli 2008), Tschechien (Unterhaus Zustimmung am 1. 4. 2008, Senat entscheidet nach Prüfung durch das Verfassungsgericht), Zypern (Parlament, Termin offen)



** Aus: Wochenzeitung "Freitag" 26, 27. Juni 2008


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