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Der große Köder "Die europäische Grundrechtecharta"

Würde, Freiheit, Solidarität vs. freier Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr. Kampagne gegen Reformvertrag in Griechenland

In der Außendarstellung des EU-Reformvertrags (und des vormaligen EU-Verfassungsentwurfs) spielt die europäische Grundrechtecharta eine herausragende Rolle. Deren Verabschiedung bedeute einen ebenso großen Fortschritt für die europäische Integration wie deren Demokratisierung. In vielen Artikeln und Analysen auf unseren Seiten haben wir darauf hingewiesen, dass es entgegen der Propaganda mit beidem nicht gerade weit her ist und dass außerdem die Militarisierung der EU in Betracht zu ziehen ist, wenn man zu einem Urteil über die Fortschrittlichkeit oder Zukunftsfähigkeit des Reformvertrags kommen möchte.
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel, die sich mitv dem Reformvertrag befassen. Im ersten geht es direkt um den Schwindel, der nach Auffassung der Autorin mit den Grundrechten betrieben wird, im zweiten um die Initiierung einer Kampagne der Linkskräfte in Griechenland, den Vertrag zu stoppen.



Der große Bluff

Von Elke Schenk *

Worin besteht der Unterschied zwischen einem Reiseprospekt und dem Vertrag von Lissabon? Beim Reiseprospekt haben wir gelernt, die Werbebotschaften zu entschlüsseln und mit dem Kleingedruckten zu vergleichen. Beim neuen EU-Vertrag werden wir Bürgerinnen und Bürger verpflichtet, den Werbeprospekt für bare Münze zu halten. Wer sich mit dem Kleingedruckten beschäftigt oder gar das Ziel der Reise ändern will, wird angefeindet. Ziel sowie Routenverlauf der europäischen Reise werden vom Veranstalter, den Regierungen, festgelegt, für uns gleich gebucht und dann die saftige Rechnung präsentiert. Alternativen sind von vornherein ausgeschlossen. Die Abgeordneten haben sich in großer Mehrheit als willige Fahrkartenknipser erwiesen. Sie beschwichtigen uns mit bunten Katalogen vom sozialen und friedliebenden Europa und der Versicherung, der Rechtsweg stünde allen offen, falls der Reiseveranstalter seine Versprechen nicht einhalte. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Berufung auf die Grundrechtecharta.

Nun ist Europa an Grund- und Menschenrechtserklärungen reich gesegnet. Wozu braucht die EU eine eigene Grundrechtecharta? Aus Prestigezwecken? Es lohnt sich, diese Charta einer genaueren Analyse zu unterziehen, um zu ermitteln, wes Geistes Kind sie ist. Schon in ihrer Präambel werden die Prioritäten unmissverständlich gesetzt: Während die Union zur Entwicklung gemeinsamer Werte wie Würde, Freiheit, Solidarität lediglich beitragen will, werden die wirtschaftlichen Grundfreiheiten Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit sichergestellt. Das entsprechende Abkommen der Welthandelsorganisation vorwegnehmend, werden geistige Eigentumsrechte (Patentrechte) zu Grundrechten aufgewertet, das Eigentumsrecht wird keiner Sozialpflichtigkeit unterworfen. Demgegenüber wird bei den sozialen Grundrechten nicht das Grundrecht selbst, sondern nur der formale Zugang geachtet oder anerkannt. Die Auslegungshinweise zur Charta, die von den Gerichten gebührend zu berücksichtigen sind, sehen u. a. eine Einschränkung im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation vor. Nun enthält diese Charta durchaus Freiheits-, Schutz- und Beteiligungsrechte des Citoyen im Verhältnis zum Staat, wie sie seit der Französischen Revolution erkämpft wurden. Ihr geringes Gewicht bestätigt schlagartig eine neue Formulierung in Art. 6 (1) EU-Vertrag: »Die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig«. Überwachungsinstanz ist der EuGH, nicht etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Der EuGH ist jedoch auch für die Einhaltung der Verträge zuständig und entscheidet somit, ob er den Verträgen oder den Grundrechten Vorrang einräumen soll – ein verfassungsrechtlicher Skandal. Wem der EuGH im Zweifel Vorrang einräumt, haben die jüngsten Urteile zum Streikrecht und zur Tariftreue jedem vor Augen geführt.

Grundgesetz Artikel 1 (3) bindet alle staatlichen Gewalten an die Grundrechte als »unmittelbar geltendes Recht«. Diese wichtige Schutzklausel vor staatlicher Willkür gilt zukünftig nichts mehr: Dem EU-Vertrag könnten »keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen«. Die Erosion der Grundrechte, an der Schäuble & Co. schon fleißig arbeiten, erhält mit dem Lissabon-Vertrag eine pseudo-legale Grundlage.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Mai 2008


Im Namen des Volkes

Griechenland: Kampagne gegen EU-Vertrag

Von Anke Stefan, Athen *


In der Woche vor dem orthodoxen Osterfest startete Griechenlands Linksbündnis SYRIZA eine Initiative gegen den Lissabonner Vertrag. Neben der Forderung nach einer Volksabstimmung geht es um Aufklärung über die Konsequenzen des Abkommens.

Ausgerechnet in den Tagen vor dem orthodoxen Osterfest startete in Griechenland eine Kampagne gegen den im Dezember letzten Jahres verabschiedeten EU-Reformvertrag. Dies habe durchaus seine Gründe, erklärte Alekos Alavanos am Dienstag vergangener Woche in Athen. So könnte einerseits der Leiden Christi gedacht werden, andererseits gebe es aber auch »Festtage der Spekulanten«, erläuterte der Parlamentarier der Linksallianz Synaspismos mit Blick auf die Übernahmeversuche der griechischen Telefongesellschaft OTE durch die Deutsche Telekom. Wenn in Griechenland, wie überall in Europa, gewinnbringende Staatsunternehmen privatisiert und marode Privatbanken durch Steuergelder gestützt würden, dann hätte dies unmittelbar mit dem in Lissabon beschlossenen Reformvertrag zu tun, der ein solches Vorgehen legalisiere und praktisch in Verfassungsrang hebe.

Der EU-Vertrag, eine im kleinen Kreis ausgearbeitete Neuauflage der von Franzosen und Niederländern in Volksabstimmungen abgelehnten europäischen Verfassung, »verpflichtet die EU auf eine freie und unkontrollierte Marktwirtschaft, negiert den Sozialstaat, fördert die Militarisierung und schränkt die Möglichkeiten demokratischer Verfahrensweisen innerhalb der EU ein«, fasste Alavanos die Kernpunkte des Regelwerks zusammen.

Was dies konkret bedeutet, erläuterte Giannis Banias. Im Detail sei der Reformvertrag sogar noch schlimmer als seine gescheiterte Vorgängerin, erklärte der Abgeordnete der mit dem Synaspismos im Wahlbündnis SYRIZA vereinten Partei AKOA. Die im Verfassungsentwurf noch enthaltene Grundrechtecharta sei nun nur noch als Paralleltext dem Reformvertrag beigestellt, so dass es im Endeffekt jedem Mitgliedsland selbst überlassen bleibe, ob es sich daran halten wolle. Auch in sozialen Bereichen seien Abstriche gemacht worden. Hatte der Verfassungsentwurf noch das Recht auf kostenlose Bildung einschließlich des Studiums an Universitäten festgeschrieben, so ist im Reformabkommen nur noch die Rede von einer kostenfreien Ausbildung im Rahmen der gesetzlichen Schulpflicht.

Angesichts der Tatsache, dass selbst bei größten Anstrengungen ein Referendum kaum zu erreichen ist, mag die Kampagne gegen die Ratifizierung des Reformvertrages wie ein Kampf gegen Windmühlenflügel erscheinen. Da aber – nicht nur in Griechenland – die Konsequenzen der weitgehend ohne demokratische Kontrolle beschlossenen EU-Regelungen weder bekannt noch bewusst sind, könnte die von Veranstaltungen und Informationskampagnen begleitete Initiative dazu beitragen, den Widerstand der Betroffenen gegen Neoliberalismus und Sozialabbau insgesamt zu stärken.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Mai 2008


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