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EU kriegt die Irland-Krise

Ratifizierung des "Reformvertrages" in Polen und Deutschland auf Eis / Wien im Streit

Von Jürgen Elsässer *

Nach dem deutschen hat auch der polnische Präsident eine Ratifizierung des EU-Reformvertrages abgelehnt. In Österreich steht die Große Koalition wegen der EU-Frage vor dem Scheitern.

Neuer Rückschlag für die Ratifzierung des EU-Reformvertrages: Der polnische Präsident Lech Kaczynski will den bereits vom Parlament gebilligten Vertrag von Lissabon nicht mehr unterzeichnen. Nach der gescheiterten Volksabstimmung in Irland sei der Vertrag derzeit »gegenstandslos«. Die Behauptung, die EU könne ohne den Reformvertrag nicht weiterexistieren, sei »nicht seriös«. Kaczynski verwies auf die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und Niederlande im Jahr 2005: »Die Union hat dennoch weiterfunktioniert«, sagte er. Der Präsident warnte nun die EU-Mitglieder, Irland in der Frage der Ratifizierung unter Druck zu setzen oder den Lissabon-Vertrag ohne das Land einzuführen. »Wenn man einmal die Regel der Einstimmigkeit bricht, wird sie nicht mehr existieren.«

Die Ankündigung sorgte im polnischen Regierungslager für Verwirrung. »Diese Erklärung überrascht und beunruhigt mich, umso mehr als es der Präsident selbst war, der den Vertrag ausgehandelt hat«, sagte Sejm-Präsident Bronislaw Komorowski aus der Führung der Bürgerplattform PO von Regierungschef Donald Tusk.

In den Mainstream-Medien wird das Veto Kaczynskis als profilneurotische Äußerung eines politischen Verlierers gewertet. Dem steht allerdings entgegen, dass am Vortag auch Kaczynskis deutscher Amtskollege Horst Köhler die Unterschrift unter den Lissabon Vertrag verweigert hatte. Köhler zog sich dabei auf eine strikte Rechtsposition zurück: Da vor dem Bundesverfassungsgericht Klagen der Linksfraktion und des CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler anhängig seien, dürfe er dem höchstrichterlichen Entscheid nicht vorgreifen. Diese juristisch eindeutige Position hinderte einige Vertragsbefürworter in der Regierungskoalition allerdings nicht daran, das Staatsoberhaupt zu kritisieren. Köhler hätte »ein Signal für Europa setzen« und rechtzeitig »seinen Spielraum nutzen« sollen. Ein solcher bestand allerdings gar nicht, da Gauweiler gleichzeitig mit der Zustimmung des Bundesrates am 23. Mai auch eine einstweilige Anordnung in Karlsruhe beantragt hatte, falls der Bundespräsident den schon für Anfang August erwarteten Entscheid der Verfassungsrichter nicht abwarten sollte.

Der für die Klagen zuständige Richter Udo di Fabio gilt als Vertrags-Skeptiker. Er erklärte bereits 1993 die unwiderrufliche Übertragung wesentlicher Staatsaufgaben an die EU für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Im Jahre 2006 sagte er mit Blick auf Brüssel: »Es ist die Einsicht gewachsen, dass immer mehr Rechtssetzung von einer Wohltat zur Plage geworden ist.«

Weitere Verfassungsbeschwerden zum Lissaboner Vertrag sind in Tschechien und Großbritannien anhängig. Der tschechische Präsident Vaclav Klaus (ODS, Demokratische Bürgerpartei) ist ein dezidierter Gegner des Dokuments. Premier und Parteifreund Mirek Topolanek ist zwar dafür, will aber nur 100 Kronen – umgerechnet vier Euro – auf seinen Erfolg wetten.

In Österreich kündigte die mitregierende sozialdemokratische Partei SPÖ vergangene Woche einen Kurswechsel an: Jeder weitere EU-Vertrag müsse in einer Volksabstimmung beschlossen werden. Bei über 70 Prozent EU-Kritikern in der Alpenrepublik wäre das eine hohe Hürde. Der Koalitionspartner, die konservative Volkspartei ÖVP, ist empört und liebäugelt mit Neuwahlen. Gestern erläuterten die Spitzen von ÖVP und SPÖ dem Bundespräsidenten Heinz Fischer, ebenfalls SPÖ, den Dissens. Fischer lehnte Neuwahlen ab, kritisierte aber auch den Schwenk der SPÖ.

Zustimmung erhielt die SPÖ-Spitze von den regierenden Sozialdemokraten (MSZP) in Ungarn. Wenn Bürger bei einer Abstimmung ihre Meinung sagten, habe das »nichts mit Populismus zu tun«, begründete die Europaabgeordnete Alexandra Dobolyi.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Juli 2008

Kommentar

Rotgefährdet

Präsidenten tanzen aus der Reihe

Von Werner Pirker **


Das irische Nein bei der Volksabstimmung über den Vertrag von Lissabon hat den Ratifizierungsprozeß im gesamten EU-Bereich ins Stocken gebracht. Das jüngste Beispiel für die wachsende »Europa-Skepsis« lieferte wenig überraschend der polnische Präsident Lech Kaczyns­ki. Er betrachte den Vertrag nach dem Referendum in Irland als »gegenstandslos«, begründete er seine Weigerung, die vom polnischen Parlament vorgenommene Ratifizierung zu bestätigen.

Auch der tschechische Präsident Vaclav Klaus zählt nicht gerade zu den Europa-Enthusiasten. In seinem Mißtrauen gegenüber den Integrationswütigen könnte er vom Verfassungsgericht bestätigt werden, sollte dieses in Widerspruch zur tschechischen Konstitution stehende Vertragspunkte feststellen und die Ratifizierung aussetzen. Selbst in Deutschland ist der EU-Vertrag noch nicht abgesegnet, weil Bundespräsident Hort Köhler abwarten will, wie das Bundesverfassungsgericht mit den Klagen gegen den Vertrag verfährt. Das ist nicht mehr als eine kleine Geste demokratischen Anstandes, die freilich schon reichte, um die Nerven der politischen Eliten blankzulegen. Dies sei ein »falsches Signal«, weil »Wasser auf die Mühlen der Euroskeptiker«, wird Köhler von Vertretern der Regierungsparteien angegiftet.

In Österreich, wo das Ratifizierungsverfahren bereits durch ist, hat sich die sozialdemokratische Doppelspitze – Bundeskanzler Gusenbauer und SPÖ-Vorsitzender Fay­mann – die Kritik an der undemokratischen Durchsetzung des »Europa-Projekts« zu eigen gemacht und eine Volksabstimmung empfohlen, sollte es zu einer Neufassung des »Reformvertrages« kommen. Zwar besteht die Absicht der SPÖ-Führung keineswegs darin, den neoliberalen Vertragsentwurf zu kippen, vielmehr soll dem Sozial- und Demokratieabbau eine demokratische Legitimation verliehen werden. Doch allein schon mit ihrem über einen Leserbrief in der Kronen-Zeitung unterbreiteten Angebot, über künftige EU-Verträge abstimmen zu lassen, sind sie aus dem Elitenkonsens ausgebrochen.

Das ist für den liberalen Gleichschaltungsprozeß um so bedrohlicher, als Österreich kein Land an der EU-Peripherie ist, sondern seinem Kernbereich angehört. Nirgendwo ist die Diskrepanz zwischen der Euphorie des Kapitals – österreichische Unternehmen gehören zu den größten Ost­erweiterungsprofiteuren – und den Euro-Depressionen an der Basis so groß wie in der Donau- und Alpenrepublik. Da es inzwischen zu einer Art Selbstverständlichkeit geworden ist, den Unmut über die Entdemokratisierung mit verschärftem Demokratieabbau niederzuhalten, erscheint der Gusenbauer/Faymann-Mediencoup als krasser Verstoß gegen die neoliberale Geschäftsgrundlage. Da sich in der bürgerlichen Demokratie im Zweifelsfall immer die Kapitalinteressen gegen die Volkssouveränität durchsetzen, wird das »populistische Foulspiel« wohl die Rote Karte nach sich ziehen.

** Aus: junge Welt, 2. Juli 2008




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