Rettungsversuche im Hinterzimmer
Die Diskussion um die EU-Verfassung wird von verschiedenen Seiten angeschoben
Von Uwe Sattler*
In die Frage der EU-Verfassung kommt Bewegung. Für Ende Mai haben die Außenminister eine
Sondertagung zu dem Thema einberufen. Bereits Anfang nächster Woche werden in Brüssel
Europaabgeordnete und Vertreter der nationalen Parlamente über die »Zukunft Europas«
diskutieren.
Erstmals sollen auf dem Brüsseler Treffen der EU-Ratsvorsitzende, Österreichs Bundeskanzler
Wolfgang Schüssel, und der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, gemeinsam
Vorschläge darlegen, wie die Gemeinschaft aus der »institutionellen Krise« kommen kann, in die sie
nach dem französischen und niederländischen Nein zur Verfassung geraten ist. Nach der Ablehnung
des Vertragswerkes in den beiden Kernländern hatte sich die EU selbst eine »Denkpause«
verordnet. Die Ideen, die in dieser auch als »Reflexionsphase« bezeichneten Auszeit geboren
wurden, sind vielfältig – aber kaum praktikabel.
Es war die deutsche Kanzlerin, die wesentlich zur Wiederaufnahme der Verfassungsdebatte
beigetragen hat. Bereits kurz nach ihrer Bestellung zur Regierungschefin verkündete Angela Merkel,
sie wolle den »Relaunch« der Konstitution zu einem Hauptthema der deutschen EURatspräsidentschaft
im ersten Halbjahr 2007 machen. Wie diese Belebung aussehen soll, verschweigt die CDU-Politikerin bisher allerdings. Auf dem Treffen mit ihrem spanischen Amtskollegen José Luis Rodríguez Zapatero Mitte April sprachen sich beide Politiker kryptisch für »neue Anreize in einer angemessenen Frist« aus, um den Verfassungsprozess wieder in Gang zu bringen. Kurz danach machte Merkel jedoch wieder einen Rückzieher: Ein neuer Vorstoß für eine EU-Verfassung sei derzeit nicht sinnvoll, erklärte sie nach einem Treffen mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson in Stralsund.
Wesentlich konkreter geht es dagegen offensichtlich bei den »Kamingesprächen« konservativer
Politiker auf europäischer Ebene zu. So vermeldete der »Spiegel«, Christdemokraten aus Berlin,
Paris und dem Europäischen Parlament hätten in vertraulichen Gesprächen bereits eine Variante
gefunden, den Verfassungsvertrag zu retten. Demnach sollten die ersten beiden Abschnitte, in
denen das Funktionieren der 25-Staaten-Gemeinschaft und die darin geltenden Grund- und
Bürgerrechte beschrieben werden, mit einer politischen Erklärung aufgewertet und dann Franzosen
und Niederländern in neuen Referenden vorgelegt werden. Das dritte Kapitel mit den
»Ausführungsbestimmungen« sollte dagegen von den Parlamenten beider Länder ratifiziert werden.
Kritiker der Verfassung dürften ein solches Vorgehen als Mogelpackung sehen. Denn gerade die
Detailfestlegungen würden die EU auf Kurs Militarisierung und Sozialabbau bringen. Allerdings hat
auch Paris schon vorgebaut, falls es mit der Konstitution wieder nicht klappen sollte: Die
französische Regierung hat der Ratspräsidentschaft einen Vorschlagskatalog zum »besseren
Funktionieren der EU-Institutionen ohne eine Verfassung« vorgelegt. Im Kern geht es darum, vor
allem die Entscheidungsfindung im Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität zu
erleichtern. Zudem will Paris die »Durchsetzungskraft der Europäer nach außen« stärken.
Aber nicht nur die Regierungen, auch Nichtregierungsorganisationen (NRO) mischen in der
derzeitigen »Denkpause« kräftig mit. Ende März schlugen Vertreter der europäischen
Zivilgesellschaft auf einer internationalen Konferenz die faktische Übernahme des
Verfassungsprozesses vor. Zunächst sollten sich Gewerkschaften, Unternehmen und NRO mit den
politischen und institutionellen Reformen beschäftigen, ehe eine weitere Regierungskonferenz
einberufen wird. Eine andere Runde vor allem sozialpolitisch engagierter NRO zeigte sich vier
Wochen später deutlich moderater: Dominierend sei die Sorge gewesen, mit einer Neuverhandlung
der Verfassung wichtige Fortschritte, etwa bei Demokratieentwicklung und Umweltschutz, zu
gefährden, berichtete die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Sylvia-Yvonne Kaufmann.
* Aus: Neues Deutschland, 5. Mai 2006
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