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"Wir haben gewonnen, aber die richtige Arbeit beginnt erst noch" / "We won but the hard work is just beginning"

Irische Wähler weisen Vertrag von Lissabon zurück: Wie die Kampagne aufging / Lisbon Treaty rejection: How the campaigns played out

Seit die Iren den Vertrag von Lissabon mit deutlicher Mehrheit abgelehnt haben, mangelt es nicht an Kritik ausgerechnet jener Regierungen, die tunlichst eine Befragung der Bevölkerung vermieden haben. "Die eher abstrusen Ermahnungen von Leuten wie ... dem sozialdemokratischen deutschen Aussenministers Frank Walter Steinmeier sollten einfach ignoriert und damit mit der Verachtung gestraft werden, die sie verdienen. ... Es ist schon beachtlich, dass das gesamte politische und soziale Establishment besiegt wurde", kommentiert Eoin Ó Broin in einer ersten Analyse des Ergebnisses und der Reaktionen. Eoin Ó Broin leitete für Sinn Féin die inhaltliche Ausrichtung der No-Kampagne.
Im Folgenden dokumentieren wir seine Analyse sowie eine deutsche Übersetzung. Beide Dokumente sind der Webseite von "Info Nordirland" entnommen:

  • in deutscher Sprache: http://www.info-nordirland.de/start_de.htm
  • in englischer Sprache: http://www.info-nordirland.de/start_en.htm
Dank an Uschi Grandel von "Info Nordirland - Unterstützt den Friedensprozess in Nordirland"!



von EOIN Ó BROIN

DAS UNDENKBARE ist eingetreten. Mit hoher Beteiligung und einem deutlichen Vorsprung hat die ‘No’-Kampagne den Vertrag von Lissabon abgelehnt. Die Antworten der Regierung, beziehungsweise der ‘Yes’-Kampagne und ihrer Partner in der EU rangieren von gemässigt bis extrem.

Die eher abstrusen Ermahnungen von Leuten wie Fine Gael MEP Gay Mitchell, seines deutschen EPP Kollegen Elmer Brock und des sozialdemokratischen deutschen Aussenministers Frank Walter Steinmeier sollten einfach ignoriert und damit mit der Verachtung gestraft werden, die sie verdienen.

Die gemässigteren Kommentare von Fianna Fáil Minister Micheál Martin, dem Labour Sprecher Eamon Gilmore und dem britischen Aussenminister David Milliband geben eine klarere Auskunft darüber, wie die Dinge sich entwickeln werden. Wie der RTÉ Korrespondent Micheál Lehane am letzten Sonntag in den RTÉ Nachrichten sagte, trotz des "Kampfgeschreis aus Europa" ist man in Brüssel der Ansicht, dass es keine "kurzfristige Lösung" geben wird und dass wir einen langen und schwierigen Prozess vor uns haben.

Niederlage des gesamten politischen und sozialen Establishments

Es ist schon beachtlich, dass das gesamte politische und soziale Establishment besiegt wurde. (Das Lager der etablierten Parteien) Fianna Fáil, Fine Gael, Labour, die PDs und die Minister der Grünen Partei wurden von IBEC (Unternehmerverband), ICTU (Gewerkschaft), ICMSA (Bauernverband) und, wenn auch verspätet, der Irish Farmers’ Association unterstützt. Sie erhielten die Hilfe grosser Teile der Medienlandschaft, die man nur als völlig parteiisch beschreiben kann.

Diese formidable Koalition wurde in erster Linie durch eine Allianz progressiver Gruppen geschlagen, bestehend aus Sinn Féin, der Campaign Against the EU Constitution (CAEUC) – zu der Sinn Féin gehört – und den Gewerkschaften Unite und TEEU. Auf ihre eigene diplomatische Art war auch (die grösste Gewerkschaft) SIPTU beteiligt.

Sinn Féin war die einzige Gruppe, die in jedem Wahlkreis existiert und die die Kampagne überall geführt hat. Man kann tatsächlich feststellen, dass die Wahlkreise mit den höchsten ‘No’-Stimmen diejenigen waren, in denen Sinn Féin’ am stärksten ist, wie zum Beispiel Dublin North-East oder Donegal.

Trotzdem war die Arbeit aller an der Allianz beteiligten Gruppen wichtig, um das Resultat zu erzielen. Von enormer Bedeutung waren insbesondere die Beiträge von Joe Higgins (Irish Socialist Party), dem People’s Movement (gegen einen EU-Superstaat), von PANA (Peace and Neutrality Alliance) und Afri (Action from Ireland). Dass solch eine Koalition verschiedenster linker Gruppen ohne Streitigkeiten operierte, ist bemerkenswert und steht in starkem Kontrast zum Zwist innerhalb der ‘Yes’-Kampagne.

Es ist ausserdem wichtig, die Bedeutung von Libertas anzuerkennen. Während einige Linke deren Einfluss lieber kleinreden würden, besteht wenig Zweifel, dass die Gruppe eine grosse Zahl an Wählern überzeugte, den Vertrag zurückzuweisen. Die Gründe waren zum Teil dieselben wie auf der linken Seite, so zum Beispiel das Defizit an Demokratie, aber sie warben auch mit eher rechten Argumenten, wie zum Beipiel niedrigen Unternehmenssteuern. Andere Gruppen, wie zum Beispiel Coir (eine neue Gruppierung des katholischen, rechten Spektrums), standen mit falschen Argumenten am Rande, hatten aber nur wenig Einfluss, wie auch die Umfragen zeigten.

Die ernsthaften Gruppen der ‘No’-Seite – Sinn Féin und unsere Verbündeten in CAEUC und natürlich auch Libertas – führten die Kampagne inhaltlich. Wir erklärten den Text des Vertrags und seine Bedeutung sowohl für Irland als auch für die EU.

Das ‘Yes’-Camp weigerte sich mit Ausnahme weniger Mitglieder der Labour Party und Fine Gael, sich mit dem Text des Vertrags auseinanderzusetzen. Stattdessen konzentrierten sie sich auf die Vorteile, die die EU Irland gebracht hat. Als dieser Ansatz schiefzugehen drohte, verwendeten sie ihre Energie darauf, zum einen einzelne Personen und Organisationen der ‘No’-Seite anzugreifen. Zum anderen versuchten sie, die Menschen mit Schauergeschichten einzuschüchtern. Irland würde zum Pariah Europas und würde Einfluss, Jobs und ausländische Investitionen verlieren.

Für mehr Demokratie, weniger Militarisierung und ein soziales Europa

Am Ende weigerte sich die Bevölkerung, auf Druck einen Vertrag zu akzeptieren, der so offensichtlich nicht im Interesse Irlands und der Europäischen Union ist. Die Bedenken gingen in drei Richtungen und hatten eine verblüffende Ähnlichkeit zu den Gründen, mit denen die Franzosen und Dänen die EU-Konstitution abgelehnt hatten. Bedenken gab es wegen des immer grösseren demokratischen Defizits, der Unverständlichkeit des Textes, dem Verlust des (irischen ständigen) Mitglieds des EU-Rates, ... , Bedenken gegen die Entwicklung einer gemeinsamen EU Aussen- und Militärpolitik und deren Einfluss auf unsere Neutralität, Furcht wegen des Einflusses des Vertrags auf die Rechte der Arbeiter, auf öffentliche Dienstleistung und ein soziales Europa. Es gab auch klare Bedenken gegen zwei Aspekte der Wirtschaftsagenda des Vertrags, nämlich den Verlust des Vetos in der World Trade Organisation und den Einfluss der Wirtschaftspolitik auf die sich entwickelnden Länder.

Nachdem das irische ‘No’ den Lissbon Vertrag praktisch ausser Kraft gesetzt hat, müssen nun all diese Themen addressiert werden. Brian Cowen muss sie seinen EU Kollegen beim heutigen und morgigen Treffen des Europa-Rats kommunizieren und anfangen, einen neuen Vertrag zu verhandeln. Die Warnung des Regierungssprechers Pat Carey’s gegen “unrealistische Erwartungen ” ignoriert die Tatsache, dass das Volk entschieden und die Regierung dies zu respektieren hat. Sie muss nun handeln, unabhängig von ihrer Sicht der Dinge vor dem Referendum, und nicht versuchen, die Konsequenzen zu minimieren oder zu umgehen. Wir müssen sicherstellen, dass die Regierung den politischen Willen zum Handeln findet. Daher ist es die Verantwortung all derer, die die Kampagne gegen den Vertrag geführt haben, der Regierung zu helfen oder ihr Druck zu machen, den besseren Vertrag, den die Wähler verlangt haben, zu erreichen.

Wahlbeteiligung und Meinungsumfragen zeigen eine breite Bevölkerungsschicht an ‘No’-Wählern. Vorwiegend stammen die aus Arbeitervierteln und ländlichen Gebieten, es waren aber auch auffallend viele junge Leute, Frauen und ein kleiner aber signifikanter Zuwachs der Gegenerschaft in den Mittelklasseschichten. Trotzdem muss man extrem vorsichtig sein, diese breite Opposition als Wechsel im Wahlverhalten für die grossen Parteien zu interpretieren. Die Unterstützung speziell für die beiden Parteien Fianna Fáil und Labour bleibt trotz ihrer Haltung zum Vertrag konstant.

Obwohl manche das behaupten, befinden wir uns nicht in einer Krise. Wie nach unserer Ablehnung des Vertrags von Nizza und der Ablehnung der EU-Verfassung durch Franzosen und Dänen müssen unsere politischen Führer zurück an den Verhandlungstisch. Diesmal müssen sie endlich die Bevölkerung ernst nehmen und mit einem Vertrag zurückkommen, der den Forderungen der Bevölkerung gerecht wird: für mehr Demokratie, weniger Militarisierung, Schutz der öffentlichen Dienstleistungen und der Rechte der Arbeiter, Förderung eines sozialen Europas und Unterstützung der sich entwicklenden Länder.

Wir haben letzten Donnerstag gewonnen, aber die richtige Arbeit beginnt erst noch.

* Sinn Féin Policy Director
Lisbon Treaty Referendum Campaign

Übersetzung: Uschi Grandel, http://www.info-nordirland.de/, 22. Juni 2008 (Erläuterungen in Klammern)



Lisbon Treaty rejection: How the campaigns played out

We won but the hard work is just beginning

BY EOIN Ó BROIN *


THE UNTHINKABLE has happened. With a high turn-out and a wide margin, the ‘No’ campaign has defeated the Lisbon Treaty. The responses from the Government, the ‘Yes’ campaign more generally, and their partners across the EU have ranged from the measured to the extreme.

The more fanciful exhortations of those such as Fine Gael MEP Gay Mitchell; his German EPP colleague, Elmer Brock; and Social Democrat German Foreign Minister Frank Walter Steinmeier should be treated with the derision they deserve and simply ignored.

More measured comments from Fianna Fáil Minister Micheál Martin, Labour leader Eamon Gilmore and British Foreign Minister David Milliband provide a clearer indication of how things are likely to proceed. As RTÉ correspondent Micheál Lehane said on last Sunday’s RTÉ Six-One News, despite the “fighting talk across Europe”, the private mood in Brussels is that there is “no short-term solution” and that we are heading for “a long and intricate process”.

Defeat of the entire political and social establishment

That the entire political and social establishment was defeated in this referendum is remarkable.

Fianna Fáil, Fine Gael, Labour, the PDs and Green Party ministers were supported by IBEC, the ICTU, the ICMSA and, albeit belatedly, the Irish Farmers’ Association. They were assisted by large sections of what can only be described as a partisan media.

This formidable coalition were beaten primarily by an alliance of progressive groups including Sinn Féin, the Campaign Against the EU Constitution (CAEUC) – to which Sinn Féin belongs – and trade unions Unite, TEEU and, in their own diplomatic way, SIPTU.

That Sinn Féin was the only group organised in and campaigning across every constituency in the state must be recognised. Indeed, those constituencies with the largest ‘No’ votes are those in which Sinn Féin’s organisation and campaign were strongest, whether Dublin North-East or Donegal.

However, the work of all sections of this alliance were essential to the end result. In particular, the contributions of Joe Higgins, the People’s Movement, PANA (Peace and Neutrality Alliance) and Afri were of enormous importance. That such a diverse left coalition operated without disagreement is significant and in stark contrast to the divisions within the ‘Yes’ campaign.

It is also important to acknowledge the significance of Libertas. While some on the left will want to diminish their impact, there is little doubt that they convinced a large number of voters to reject the treaty on grounds both similar to those of us on the left, such as the democratic deficit, and those more palatable to the right, such as low corporation tax.

However, other groups such as Coir were peripheral to the campaign, proffering spurious arguments and, as the opinion polls indicate, with marginal impact.

The serious players on the ‘No’ side – Sinn Féin and our allies in CAEUC and indeed Libertas – ran our campaigns focusing on the issues, explaining the text of the treaty and its implications for both Ireland and the EU.

The ‘Yes’ camp, with the exception of some in the Labour Party and Fine Gael, refused to engage with the text of the treaty. Instead, they focused on the benefits the EU has brought to Ireland. When this approach was seen to falter they divided their energies between attacking individuals and organisations on the ‘No’ side and attempting to frighten people with scare stories of Ireland becoming the pariahs of Europe, losing influence, jobs and foreign direct investment.

For more democracy, less militarisation, for a social Europe and workers’ rights

In the end, the public refused to be browbeaten into accepting a treaty that was so obviously not in the interests of Ireland or the European Union. Their concerns were three-fold and bore a striking resemblance to the reasons behind the French and Dutch rejection of the EU Constitution. Concern with the deepening democratic deficit, unintelligibility of the text itself, loss of commissioner, reduction of voting strength at Council, loss or weakening of key strategic vetoes and the self-amending nature of the treaty, concern with the developing EU common foreign and military policies and their impact on our neutrality, and fears about the impact of the treaty on workers’ rights, public services and social Europe. There was also clearly concern with two aspects of the treaty’s trade agenda, namely the loss of the World Trade Organisation veto and the impact of trade policy on the developing world.

While the Irish ‘No’ renders the Lisbon Treaty effectively dead, all of these issues still need to be addressed. Brian Cowen needs to communicate these issues to his EU counterparts when he attends the European Council meeting today and tomorrow and start the process of negotiating a new treaty.

Government Chief Whip Pat Carey’s caution against “raising unrealistic expectations” ignores the fact that the people have spoken and rather than minimise or seek to avoid the consequences the Government must listen and act, irrespective of its own pre-referendum view of the situation. However, in order to ensure that Government finds the political will to act, there is a responsibility on all of us who campaigned against this treaty to ensure that the Government is either assisted or pressurised into securing the better deal that the electorate has demanded.

Turn-out and opinion polls indicate the wide demographic range of the ‘No’ vote. Predominantly working class and rural, the ‘No’ vote also included many young people, women and a small but significant increase in middle-class opposition. However, any attempt to read this broad based opposition as indicating a shift in electoral support for the major parties must be treated with extreme caution. Party support particularly for Fianna Fáil and Labour remain steady despite their position on the treaty.

Despite claims by some, we are not in uncharted territory. As with our previous rejection of Nice and the French and Dutch rejection of the EU Constitution, our political leaders must go back to the negotiating table. However, this time they must listen to the people and return with a new treaty reflective of the demands of the people: for more democracy, less militarisation, protections for public services and workers’ rights, promotion of social Europe and support for the developing world.

We may have won last Thursday but the hard work is only beginning.

* Sinn Féin Policy Director
Lisbon Treaty Referendum Campaign
Text: An Phoblacht, 19. June 2008



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