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Die Europäische Union, das Volk und die Verfassung

Von Peter Strutynski

Losgetreten hatte die Lawine der britische Premierminister Tony Blair, als er im Frühjahr 2004 aus heiterem Himmel verkündete, er wolle in seinem Land die Bevölkerung über die EU-Verfassung abstimmen lassen. Da man um die Stärke der europa-skeptischen Kräfte in Großbritannien weiß (die Wahlergebnisse zum Europäischen Parlament im Juni bestätigten dies), erhob sich vielstimmiges Geraune in der politischen Klasse der EU-Hauptländer. Was wird sein, wenn die Verfassung bei einem Referendum von den britischen Wählern abgelehnt würde? Spekulationen tauchten auf, ob der gewiefte Taktiker Tony Blair mit seiner Ankündigung die übrigen Regierungschefs vor dem Brüsseler Gipfel Ende Juni nur ein wenig in den Schwitzkasten nehmen wollte. Oder ob er - angeschlagen wegen seiner Irakpolitik - das Referendum seinem Wahlvolk nur zum Fraße vorwarf, um es für die EU-Wahlen gefügiger zu machen. Nun, genutzt hat es jedenfalls nichts.

Nachdem das britische Empire vorpreschte, wollte die zweite europäische Großmacht, Frankreich, nicht nachstehen. Also versprach auch Präsident Jacques Chirac seinen Wählern ein unverhofftes Referendum. Damit wuchs im Sommer 2004 die Zahl der EU-Staaten, die über die EU-Verfassung das Volk abstimmen lassen wollen, auf elf. Teilweise sind es Länder (wie z.B. Dänemark und Irland), in denen bei solchen wichtigen Fragen Referenden ohnehin vorgeschrieben sind; in Frankreich und Großbritannien sind sie lediglich politisch gewollt. Abgestimmt wird jedenfalls in Dänemark, Irland, Großbritannien, Frankreich, Luxemburg, Spanien, Portugal, Belgien, Niederlande, möglicherweise auch in Estland und Tschechien.

Die EU-Verfassung ist ein völkerrechtlicher Vertrag und muss von den Parlamenten aller 25 EU-Staaten ratifiziert werden. In Deutschland ist dafür die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat erforderlich. Bundeskanzler Schröder hat ein deutsches Referendum über die EU-Verfassung am 15. Juli erneut ausgeschlossen. In der Bundesrepublik "verbietet es die Verfassung ausdrücklich, eine Volksabstimmung zu machen, und wir werden natürlich unsere Verfassung achten", sagte er während eines Treffens mit dem britischen Premier Blair in London. Wendiger zeigte sich der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber. Sonst nicht eben plebiszitären Elementen zugeneigt, ging er nach einem Treffen mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel mit dem Vorschlag in die Öffentlichkeit, Deutschland möge doch ein EU-weites Referendum anregen: "Könnten alle Völker Europas am selben Tag über die Verfassung abstimmen, wäre das eine große Chance, das Thema Europa viel näher an die Bürger heranzubringen". Wenn Großbritannien und Frankreich eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung abhalten, könne Deutschland nicht länger abseits stehen, sagte Stoiber laut "Bild am Sonntag" vom 18. Juli 2004. Weiter heißt es dort: "Die Bundesregierung sollte endlich ihr Misstrauen gegenüber dem eigenen Volk ablegen".

So haben wir die absurde Situation, dass die Parteien, die traditionell plebiszit-unwillig sind, weil sie sich vor direkt-demokratischen Einflüssen fürchten und in ihnen eine Gefährdung der repräsentativen Demokratie sehen, in Sachen EU das Mittel des Plebiszits zur Anwendung bringen möchten. Während diejenigen, die nicht ganz so viel Furcht vor Volkes Wille haben (obwohl sie zur Zeit Anlass dazu hätten - Stichwort Hartz IV), das Ding am liebsten ganz ohne Beteiligung der Bevölkerung durchziehen würden. Wobei es im rot-grünen Regierungslager im wesentlichen zwei Argumentationsmuster gibt: Die einen trauen der Bevölkerung nicht zu, bei einem Referendum "richtig" zu entscheiden. Außenminister Fischer hat dies in einem Interview mit der Berliner Zeitung so ausgedrückt: "Sie gehen auf die Straße und fragen jemanden: Was halten Sie von Europa? Der hat schlecht geschlafen oder ist schlecht gelaunt. Also sagt er: Alles Mist!" Nun könnte man mit diesem "Argument" durchaus auch auf Wahlen verzichten, denn die "schlechte Laune" macht angesichts unerfreulicher Zeitläufte auch vor einem Wahlsonntag nicht halt. Fischer spricht dem Normalbürger aber auch jede politische Kompetenz ab, wenn er sagt: "Dafür [für Volksabstimmungen, Pst] haben wir die Tradition nicht. Worüber wollen Sie die Leute überhaupt abstimmen lassen? Über die Europäische Verfassung, über den Nizza-Vertrag? Wer versteht denn das?" (Berliner Zeitung, 28.02.2004.) Ein anderer Teil des Regierungslagers argumentiert schlitzohriger: Wir (die Grünen und zahlreicher Sozialdemokraten) versuchen, plebiszitäre Elemente in das Regierungssystem der Bundesrepublik zu implantieren. Dazu bedarf es ihrer Meinung einer 2/3-Mehrheit im Bundestag, wozu logischerweise die Zustimmung auch der CDU/CSU notwendig sei. Entsprechende Initiativen sind bisher im Bundestag gescheitert, so z.B. entsprechende Anträge im November 2003. Da zur Zeit Plebiszite auf Bundesebene also generell nicht durchsetzbar sind, könne man nicht eine Lex Europa schaffen. Grünen-Chef Reinhard Bütikofer hat nach einer Bundesvorstandssitzung Mitte Juli 2004 deutlich gemacht, dass die Grünen weiterhin für Volksentscheide seien, dass dies aber nicht nur im Ausnahmefall geben dürfe. Eine solche "Rosinenpickerei werden wir nicht unterstützen", stellte Bütikofer klar (ddp, 19.07.2004). Im Ergebnis heißt das: Wenn ich den berühmten Spatz in der Hand nur nehme, sofern ich auch die Taube auf dem Dach erhalte, läuft Gefahr, am Ende gar nichts zu haben. Dem Parteitaktiker Bütikofer ist zuzutrauen, dass er genau das will, denn nur so kann er den schmerzhaften Spagat zwischen plebiszitärer Basis und elitärer politischer Klasse aushalten.

Der frühere Münchner Oberbürgermeister, Justizminister, SPD-Vorsitzender und derzeitiges Mitglied im Nationalen Ethikrat, Hans-Jochen Vogel macht in der verqueren Diskussion um das Referendum eine löbliche Ausnahme. In einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung Anfang August widerlegte er alle gängigen Einwände gegen ein Referendum (SZ, 04.08.2004). Wer etwa behauptet, das Volk sei "zu wenig im Bilde" und lasse sich zu leicht in die Irre führen, verkenne, dass der Informationsstand der Bevölkerung wesentlich höher sei als angenommen und es nicht ausgemacht sei, ob nicht die Parlamente und deren Mehrheiten wirklich "weniger oft irren als das Volk". Außerdem sei einer Volksbefragung ein Informations- und Diskussionsprozess von mehreren Monaten vorgelagert, der sich produktiv nutzen lasse. Auch die angebliche hohe "Komplexität" der Materie, über die abgestimmt würde, lässt Vogel nicht gelten. In Referenden gehe es nicht um alle möglichen Spezialprobleme, sondern um zentrale Weichenstellungen in der Politik. In der Regel sind solche Fragen mit Ja oder Nein zu beantworten. Schließlich räumt Vogel auch mit der Legende auf, die Weimarer Republik sei an den damaligen Volksbegehren zugrunde gegangen. Kein einziges dieser Volksbegehren hätte eine Mehrheit gefunden; von einem wirklichen Missbrauch des Plebiszits könne erst in der Nazizeit die Rede sein - da war die Demokratie aber längst beseitigt.

Nur in einem Punkt irrt sich Vogel bei seinem leidenschaftlichen Plädoyer für ein EU-Referendum: Er appelliert an die Regierungs- und Oppositionsparteien, möglichst schnell eine Grundgesetz-Änderung zu betreiben, damit dann das Volk über die EU-Verfassung abstimmen könne. Der Jurist Vogel müsste das Grundgesetz der Bundesrepublik so weit kennen, dass er weiß, dass Volksbefragungen durchaus möglich sind. In Artikel 20 Abs. 2 heißt es: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt." In Artikel 29 wird sogar ein "Volksentscheid" zwingend vorgeschrieben, wenn "Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes" ergriffen werden. Weder die Tatsache, dass der Bundesgesetzgeber nie ein Ausführungsgesetz zur Durchführung von Volksbegehren, Volksbefragung und Volksentscheiden verabschiedet hat, noch die 50-jährige Plebiszitlosigkeit können den demokratischen Kern des Artikels 20 ("Wahlen und Abstimmungen") obsolet werden lassen. So könnte man sich ohne weiteres auf den Standpunkt stellen, dass zur Durchführung von Referenden auf Bundesebene die Verabschiedung eines Ausführungsgesetzes zu Artikel 20,2 ausreichend sei. Hierzu bedarf es keiner verfassungsändernden, sondern nur einer einfachen Mehrheit.

Die Bevölkerung jedes EU-Staates hat ein Recht, über die künftige Verfassung der EU mitbestimmen zu können. Demokratische Verfassungen wurden noch nie durch Oktroi erlassen (das Bonner Grundgesetz 1949 war die Ausnahme), sondern in der Regel vom Volk gegen die Machtansprüche der Obrigkeiten durchgesetzt. Die Weigerung der Bundesregierung, über die EU-Verfassung per Referendum abstimmen zu lassen, zeugt nicht nur von einem grundlegenden Misstrauen gegen das eigene Volk. Sie wird darüber hinaus zu einer viel größeren Europamüdigkeit führen, als sie heute zu konstatieren ist. Der Bevölkerung dagegen die Möglichkeit zu geben, "Nein" zur EU-Militärverfassung zu sagen, könnte sich langfristig auszahlen, indem daraus ein umso stärkeres "Ja" zu einem zivilen Europa erwächst.

Nachtrag:
Am Sonntag, den 29. August, meldeten die Nachrichtenagenturen:
"Nach dem Willen der SPD könnte in Deutschland bereits für die Entscheidung über die geplante EU-Verfassung die Möglichkeit eines Referendums geschaffen werden. Parteichef Franz Müntefering kündigte nach einer SPD-Vorstandsklausur am Sonntag in Berlin an, im Oktober oder November solle im Bundestag ein verfassungsänderndes Gesetz eingebracht werden, um sowohl von Bürgern initiierte Volksentscheide zu ermöglichen als auch Referenden auf Wunsch von Bundestag oder Bundesregierung."
Na denn!


Dieser Beitrag erscheint in: FriedensJournal, Nr. 5, September 2004

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